Ariane Brill: Abgrenzung und Hoffnung

Einzelrezension
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Rezensiert von Tatjana Tönsmeyer

Abgrenzung und HoffnungEinzelrezension
Die Erforschung von Europa-Bildern und Europa-Konstruktionen hat in den letzten Jahren, nicht zuletzt in den Geschichtswissenschaften, Konjunktur. Geht es um die Nachkriegszeit, so spielt dabei die (Qualitäts-)Presse eine nicht unwesentliche Rolle. Entsprechend sind ihr in den vergangenen Jahren mehrere Untersuchungen gewidmet worden (z. B. de Roode 2012, Meyer 2010 oder Seidendorf 2007), an die Ariane Brill mit ihrer Dissertation1 anschließt. Anhand der westdeutschen Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der britischen The Times und US-amerikanischen New York Times bestätigt die Verfasserin, dass “Europa“ bereits seit den frühen Nachkriegsjahren einen wichtigen Referenzpunkt in der Berichterstattung auch jenseits der Gründung und Entwicklung europäischer Institutionen darstellte und dass die Abgrenzung vom außereuropäischen “Anderen“ während des Untersuchungszeitraums die Selbstwahrnehmung prägte.

In ihren weiteren Befunden differenziert Brill zwischen einem “Europa der Eliten“ und einem (begrifflich etwas unglücklichem) “Europa des Volkes“. Hier konstatiert sie vor allem die zunehmende Gleichsetzung von “Europa“ mit “Westeuropa“ sowie ein “europäisches“ Zusammengehörigkeitsgefühl gegenüber den kommunistisch regierten Staaten im Osten des Kontinents wie auch, obgleich ambivalenter, gegenüber den USA. Diese Gleichsetzung von “Europa“ mit “Westeuropa“ hätte man sich stärker reflektiert gewünscht, zumal die damit verbundene Vorstellung ganz offenbar auch über den Untersuchungszeitraum hinaus Bestand hatte (und vielfach hat), was sich etwa im Reden über die “Rückkehr der ostmitteleuropäischen Staaten nach Europa“ nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zeigt. Denn: Diskurse, indem sie das Sag-, Denk- und Machbare regeln, sind eminent wirkmächtig, und dieses Beispiel ist illustrativ dafür, wie qua Zuschreibung von “Europäizität“ sich machtpolitisch auswirkende Hierarchien in der erweiterten Union festgelegt wurden und werden. Manchmal fragt man sich, ob Brill nicht selbst diesen Zuschreibungen erliegt, etwa wenn sie feststellt, dass “Modernität“ – zentral für das Selbstverständnis des als “Europa“ titulierten Westeuropa – “seit Ende der 1960er Jahre sogar [Hervorhebung Rezensentin] osteuropäischen Ländern zugeschrieben“ (270) werden konnte – wenn es um Urlaubsressorts ging.

Für ihre Befunde hat die Verfasserin Artikel aus den genannten Presseerzeugnissen ausgewählt und dabei viermonatige Untersuchungszeiträume im Abstand von jeweils zwei Jahren zugrunde gelegt, um nicht “punktuelle Ereignisse der europäischen Integration“, sondern den “fortlaufenden Diskurs“ (21) untersuchen zu können, um also quantitative Daten für qualitative Analysen zu erheben. Einbezogen sind dabei nicht nur Artikel der politischen Berichterstattung im weiteren Sinne, d. h. einschließlich der Wirtschafts-, Außen- sowie Sicherheitspolitik, sondern auch Sport und Kultur. Dabei spiegelt die printmediale Aufmerksamkeit die Phasen der politischen Integrationsgeschichte wider, doch kann Brill auch konstatieren, dass in der Kulturberichterstattung die neu geschaffenen europäischen Symbole wenig mediale Berücksichtigung fanden. Dies galt auch für Events, die sich in europapolitischer Absicht an breite Öffentlichkeiten richteten. Ein eigenes Kapitel schließlich beleuchtet Europa aus der Sicht reisender Journalisten. Fragen nach Peripherie und Zentrum liegen hier wie an anderen Zusammenhängen nahe. Brill hält fest, dass Spanien, Portugal und Griechenland kontextübergreifend als Peripherien dargestellt wurden – aufgrund ihrer geografischen Lage wie auch der politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten. Anders dagegen verhielt es sich mit der Türkei: Diskussion um deren politische und kulturelle Zugehörigkeit zum Kontinent blieben bis zu den 1980er Jahren aus.

Literatur:

  • de Roode, S.: Seeing Europe through the Nation. The Role of National Self-Images in the Perception of European Integration in the English, German, and Dutch Press in the 1950s and 1990s, Stuttgart [Franz Steiner Verlag] 2012.
  • Meyer, J.-H: The European Public Sphere. Media and Transnational Communication in European Integration 1969-1991, Stuttgart [Franz Steiner Verlag] 2010.
  • Seidendorf, S.: Europäisierung nationaler Identitätsdiskurse? Ein Vergleich französischer und deutscher Printmedien, Baden-Baden [Nomos] 2007.

Links:

  1. Die Dissertation ist im Rahmen des Verbundprojektes “Lost in Translation. Europabilder und ihre Übersetzungen” entstanden; in einem weiteren Teilprojekt hat Florian Greiner Europavorstellungen deutscher, britischer und US-amerikanischer Printmedien vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges untersucht.
Über das BuchAriane Brill: Abgrenzung und Hoffnung. "Europa" in der deutschen, britischen und amerikanischen Presse, 1945 - 1980. Reihe: Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert, Band 2. Göttingen [Wallstein Verlag] 2014, 293 Seiten, 36,- Euro.Empfohlene ZitierweiseAriane Brill: Abgrenzung und Hoffnung. von Tönsmeyer, Tatjana in rezensionen:kommunikation:medien, 4. Februar 2016, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/18932
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