Rezensiert von Stefan Joller
In bildgewaltiger Sprache beschreibt Steffen Burkhardt in seiner Dissertation, wie die “Sprengkraft des Skandals“ (28) als “publizistischer Brandsatz“ (377) den “Schlachtplatz öffentlicher Moral“ (354) dominiert und Medienskandale in der “Funktion symbolischer Bürgerkriege“ (380) oder als “Märchen für Erwachsene“ (323) gesellschaftliche Relevanz erlangen.Die vielbeachtete Studie, die erstmals 2006 erschien und nun in ihrer zweiten Auflage vorliegt, setzt sich das ambitionierte Ziel, auf Basis insbesondere wissenssoziologischer, systemtheoretischer und diskursanalytischer Perspektiven “die zentralen Befunde der […] Skandalforschung aus sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen“ (381) zu synthetisieren. In Verbindung mit einer Fallanalyse der Friedmann-Affäre aus dem Jahr 2003 sollen sodann sowohl theoretische als auch empirische Anschlussmöglichkeiten aufgezeigt und vorangetrieben werden. Die Neuauflage ist dabei weniger Zeichen einer inhaltlichen Notwendigkeit als Ausweis publizistischen Erfolgs – die Änderungen betreffen lediglich ein neues Vorwort, in welchem die nach wie vor zentrale Stellung journalistischer Berichterstattung in Zeiten sozialer Medien postuliert wird, sowie kleinere Korrekturen und eine Aufdauerstellung des Textes, indem beispielsweise aus dem “heutige[n] US-Vizepräsident[en]“ (Burkhardt 2006: 358) der “spätere US-Vizepräsident“ (355) wird.
Burkhardt gliedert sein umfangreiches Werk in vier Teile und fügt nahezu allen Kapiteln ein Zwischenfazit an, womit einerseits eine gewisse Redundanz einhergeht, er den Querlesern andererseits entgegenkommt und die Rezeptionswahrscheinlichkeit womöglich erhöht. Nach einer thematischen Hinführung und der Erörterung zentraler Frage- und Problemstellungen der Skandalforschung folgt im zweiten Teil eine beeindruckende Zusammenstellung etymologischer, historischer und theoretischer Einblicke. Der dritte Teil bildet mit der Fallanalyse nach den methodologischen und methodischen Prämissen der grounded theory das eigentliche Herzstück und wird im abschliessenden vierten Teil durch einen ähnlich gelagerten (jedoch ausgebliebenen) Skandal kontrastiert. In Abgleich mit den Konsequenzen des Kokain- und Prostituiertenskandals um Michel Friedman, dem ehemaligen TV-Moderator und stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, erfolgt hier ein abstrahierender Rückblick, der um eine Armada von möglichen Anschlussfragen als Ausblick ergänzt wird.
Medienskandale sind, so der Autor, als eine eigenständige “Kategorie der Kommunikationspraxis […] journalistische[r] Diskursivierung“ (37) zu verstehen. Hinter dieser Festlegung steckt der Bezug auf das viel zitierte Werk Political Scandal von John B. Thompson und dessen Unterscheidung von “localized” und “mediated scandals” (vgl. Burkhardt 2015: 36; Thompson 2008: 61). Während die Abgrenzung von lokalisierten, nicht medial vermittelten Skandalen aus raumzeitlicher Perspektive unmittelbar einleuchtet, scheint die Unterscheidung von Medienskandalen und mediatisierten Skandalen aber nicht gleichermaßen evident. Beiden Begrifflichkeiten liegt die Idee zugrunde, dass die mediale Kommunikation nicht einfach vermittelt, sondern stets auch konstruiert, wobei Burkhardt stärker als Thompson auf journalistische Praktiken im Sinne einer Professionalisierung medialer Kommunikation fokussiert.
Die etymologische Herleitung rahmt unter Verweis auf die Synthese von profanen, religiösen und moralischen Konnotationen die historische Koevolution von Skandalen und medialen Kommunikationstechniken von Nachrichten-Flugblättern im 15. Jahrhundert als Frühform der Sensationspresse über die Hofpresse von Louis XIV als Impression Management bis hin zur Industrialisierung des Medienskandals und entsprechenden Ökonomisierungs- und Professionalisierungsprozessen (vgl. 85ff.).
Theoretisch bezieht sich die Alleinstellung von Medienskandalen grundlegend auf konstruktivistische Prämissen, wodurch nach Burkhardt die zwar evidente, jedoch wissenschaftlich bislang kaum reflektierte Gegenüberstellung und Transformation von “narrativem Personal“ und “skandalisierten Aktanten im sozialen System“ (145) deutlich erkennbar wird. An dieser Stelle erstaunt die eher oberflächliche theoretische Anknüpfung an konstruktivistische Ansätze, zumal gerade Siegfried Weischenberg als Gutachter der Arbeit einen durchaus sichtbaren Beitrag zur Konstruktivismusdebatte, die im Anschluss an das ARD Funkkolleg Medien und Kommunikation entbrannte, leistete. Darin stellt Weischenberg klar, dass Konstruktivismus nicht mit Subjektivismus gleichzusetzen ist (vgl. Weischenberg 1992: 171) und gerade die professionelle – nach sozialen Regeln ablaufende – Konstruktion in Verweis auf das Journalismussystem größere Beachtung finden muss. Ein vergleichbares Argument, das den Medienskandal als eigenständige Kategorie stärken könnte, findet sich auch bei Niklas Luhmann, wenn dieser von einem operativen Konstruktivismus in Bezug auf das System der Massenmedien spricht (vgl. Luhmann 1994: 8). Burkhardt sieht jedoch den Nutzen der Systemtheorie eher in der “Verortung des Medienskandals im sozialen System, die der Konstruktivismus nicht leisten kann“ (46). Sinngemäß wäre auch ein Anschluss an den wissenssoziologischen Sozialkonstruktivismus über den Institutionenbegriff naheliegend (vgl. Berger/Luckmann 2009). Dass jedoch weder auf Ernst von Glasersfeld noch auf Heinz von Foerster als zentrale Vertreter eines radikalen Konstruktivismus Bezug genommen wird, wie Thomas Rothschild dies unterstellt (Rothschild 2007: 160), trifft weder auf die erste noch auf die zweite Auflage zu.
Der empirische Teil der Arbeit widmet sich en détail der Kokain- und Prostituierten Affäre um Michel Friedmann. Während in den vorangestellten Kapiteln das große Bild gezeichnet wird, zeigt Burkhardt in der Fallanalyse auf beeindruckende Weise, wie sich mithilfe des Ansatzes der grounded theory theoretische Vorarbeit und präzise qualitative Rekonstruktions- und Interpretationsschritte verbinden lassen. Der explizite Bezug auf den Diskursbegriff von Michel Foucault und nicht auf denjenigen von Jürgen Habermas (38-39), verweist auf einen diskursanalytischen Zugriff, der darum bemüht ist, Normen zu rekonstruieren und diese nicht den Analysekategorien voranzustellen. Auch wenn der Autor im Sinne seines inkludierenden Vorhabens dies nicht formuliert, lassen sich in der (kommunikations- und medienwissenschaftlichen) Skandalforschung ähnliche Fronten ausmachen, deren sichtbarste Vertreter derzeit etwa Bernhard Pörksen auf der einen und Hans Mathias Kepplinger auf der anderen Seite darstellen. Burkhardts Nähe zu Ersterem scheint dabei nicht nur im Vorwort der ersten Auflage durch (vgl. Burkhardt 2006: 20) – dennoch lassen sich normative Positionierungen mancherorts erkennen, wenn etwa “die Aufgabe des Journalismus“ darin gesehen wird, “die blinden Flecken der Moral öffentlich zu visibilisieren und in einen ethischen Diskurs zu überführen“ (216) und somit Funktionsanalyse und normative Theoriebildung in bedrohliche Nähe rücken.
Die Rekonstruktion der Friedmann-Affäre erfolgt in drei Schritten. In Bezug auf die funktionalen Phasen des Medienskandals entwickelt Burkhardt vorerst eine Skandaluhr (205), auf welcher alle Phasen abgebildet sind, die ein jeder Skandal in der einen oder anderen Form durchläuft: Eine Latenzphase, eine Aufschwungphase, eine Etablierungsphase mit Klimax, eine Abschwungphase und eine Rehabilitationsphase. Der zweite Rekonstruktionsschritt widmet sich der narrativen Struktur, worauf der dritte Schritt die Thematisierungsstrategien in Form der Analyse von Sprecherpositionen, deren moralische Ausformung und zugehörigen Politisierungsmechanismen in den Fokus nimmt. Zusammenfassend kommt er schließlich, auch in Abgrenzung zu einem ähnlich gelagerten Fall mit Kokain und Prostituierten um den Maler Jörg Immendorff, zum Schluss, dass sich die öffentliche Relevanz des Medienskandals “weder auf individueller noch auf sozialer Ebene [entfaltet], sondern auf symbolischer: Er ist Ausdruck eines innergesellschaftlichen Machtkampfes um die Inszenierungshoheit des deutsch-jüdischen Verhältnisses, das ein zentrales, identitätsstiftendes Moment des Selbstverständnisses der noch jungen Berliner Republik ist“ (367). Dabei stellt er nahezu nebenher fest, dass nicht die Boulevardmedien, die sich vorwiegend der Inszenierung privater Fragmente widmen, zentrale Treiber der Skandalisierung sind, sondern vielmehr die Nachrichtenmedien, die “die politischen Dimensionen der vermeintlichen Transgressionen“ (352) herausarbeiten.
Steffen Burkhardt legt mit Medienskandale eine mutige Grenzgänger-Studie vor, die ohne paradigmatische Berührungsängste unterschiedlichste Disziplinen zu einen sucht. Es liegt in der Natur eines solchen Vorhabens, dass gewisse Unschärfen nicht zu vermeiden sind. Angesichts der nahezu überwältigenden Anzahl an Anschlüssen und Querverweisen wäre mancherorts eine Zitation ‘statt anderer‘ für interessierte Leserinnen und Leser effizienter. Dies sollte aber nicht über die beachtliche Leistung hinwegtäuschen, mit welcher hier der Stand der Skandalforschung wiedergegeben und weitergetrieben wird – in der Tat ist diese Syntheseleistung in Verbindung mit einem gekonnten Changieren zwischen ‘big picture‘ und Detailanalyse bislang einzigartig.
Literatur:
- Berger, P. L.; T. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. 22. Auflage. Frankfurt am Main [Fischer] 2009 [1969].
- Boventer, H.: Der Journalist in Platons Höhle. Zur Kritik des Konstruktivismus. In: Communicatio Socialis, 25, 1992, S. 157-167.
- Burkhardt, S.: Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2006.
- Luhmann, N.: Der “Radikale Konstruktivismus“ als Theorie der Massenmedien? Bemerkungen zu einer irreführenden Debatte. In: Communicatio Socialis, 27, 1994, S. 7-12.
- Rotschild, T.: Steffen Burkhardt: Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse. In: MEDIENwissenschaft: Rezensionen | Reviews, 2, 2007, S. 160-161.
- Saxer, U.: Thesen zur Kritik des Konstruktivismus. In: Communicatio Socialis, 25, 1992, S. 178-183.
- Thompson, J. B.: Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age. Cambridge [Polity Press] 2008 [2000].
- Weischenberg, S.: Der blinde Fleck des Kritikers. Zu den ‘Wahrheiten‘ einer Konstruktivismus-Rezeption. In: Communicatio Socialis, 25, 1992, S. 168-177.
Links:
Über das BuchSteffen Burkhardt: Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse. 2. überarbeitete und ergänzte Auflage. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2015, 482 Seiten, 38,- Euro.Empfohlene ZitierweiseSteffen Burkhardt: Medienskandale. von Joller, Stefan in rezensionen:kommunikation:medien, 26. Januar 2016, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/18893