Friedrich Balke, Bernhard Siegert und Joseph Vogl (Hrsg.): Mediengeschichte nach Friedrich Kittler

Einzelrezension
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Rezensiert von Sonja Yeh

Mediengeschichte nach KittlerEinzelrezension
Der 13. Band des Archivs für Mediengeschichte, herausgegeben von Friedrich Balke, Bernhard Siegert und Joseph Vogl, versammelt 13 Beiträge, die das Vermächtnis Kittlers für die Medienwissenschaft diskutieren und aus verschiedenen disziplinären Blickwinkeln beleuchten. Dabei wird von den Autoren im doppelten Sinne des Wortes “nach“ (post und gemäß) der Versuch unternommen, den Stellenwert der Mediengeschichtsschreibung nach Kittler in der heutigen Medienwissenschaft aufzuzeigen.

Ein Teil der Beiträge bietet Kontextualisierungen von Kittler in historische und aktuelle Diskurse: Werner Hamacher stellt in seinem Aufsatz “Reparationen“, ein bisher unveröffentlichtes Tagungsmanuskript von 1984, die Frage nach der Lage einer deutschen Philosophie nach 1945. Er konstatiert, dass sich die deutsche Nachkriegsphilosophie zwischen einer hegemonialen sozialwissenschaftlich orientierten angelsächsischen, insbesondere US-amerikanischen, Philosophie und einer französischen, maßgeblich poststrukturalistischen Philosophie positioniere. Hamachers Kritik an der deutschen Nachkriegsphilosophie umreißt die historische Ausgangslage, in der Kittlers Hauptwerk Aufschreibesysteme zu verorten ist und erklärt – ohne es ursprünglich in seinem Manuskript beabsichtigt zu haben – wie es zu den Kontroversen um Kittlers Habilitationsschrift gekommen ist. Der Aufsatz kann demnach als nachträglich kommentierendes Zeitdokument verstanden werden, das Kittler und die Rezeption seiner Werke in die “deutsche“ Philosophie der Nachkriegszeit einordnet.

In Henning Schmidgens Aufsatz geht es um eine wissenschaftshistorische Orientierung Kittlers an den französischen (Post-)Strukturalisten Foucault und Lacan als zentrale Bezugsfiguren für Kittlers theoretischen Überlegungen. Schmidgen betont, dass es Kittler nie um eine Geschichte und Theorie von Einzelmedien und Technologien gegangen sei, sondern um eine Geschichte des Geistes, der Literatur und symbolischer Ordnungen im Sinne Lacans. Kittler sei seinem eigenen Selbstverständnis nach den poststrukturalistischen Programmen von Foucaults Wissensarchäologie und Diskursanalyse sowie insbesondere Lacans psychoanalytischer Theorie des Wahnsinns verpflichtet. Nach Schmidgen seien Kittlers Analysen die Suche nach einem “Realitätswert bestimmter Wahnvorstellungen“ (33), ob in der Psychiatrie oder in der Literatur. Schmidgen zeigt auf, welche Einflüsse Lacan für Kittler in der Geschichte der Literaturwissenschaften, der Geschlechterverhältnisse, der Geisteswissenschaften und der Universität eingenommen hat. Kittlers Medienmaterialismus sei demnach nicht durch die Konzentration und konkrete Analyse von Einzelmedien und Techniken begreifbar, sondern vielmehr durch den Fokus auf die informationstheoretische Perspektive, die das Materielle letzten Endes auf das Symbolische zurückführe (vgl. 39).

Marian Kaiser beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit einer Engführung von Friedrich Kittler und William S. Burroughs. Er zeigt die Parallelen von Kittler und Burroughs auf und konzentriert sich dabei auf die Überkreuzung von Technikgeschichte, Wissensstrukturen, Kontrollmechanismen und Machtzusammenhängen. Dabei legt Kaiser einen Fokus auf Rückkopplungsschleifen technischer Medien, die er bereits in Burroughs Werken ausmacht und in Kittlers Medientheorie akademisch ausformuliert sieht. Burroughs sei mit seiner Literatur als Vorläufer und Vorformulierer von Kittlers theoretischen Überlegungen zu verstehen.

Arndt Niebisch betrachtet in seinem Beitrag die Bedeutung des Militärwesens für die Technikentwicklung und stellt einen Vergleich mit Manuel de Landas Buch War in the Age of Intelligent Machines an. Er arbeitet das Primat des Militärischen bei Kittler und Landa heraus, zeigt ihre Unterschiede auf und argumentiert schließlich, dass eine Wende in der theoretischen Entwicklung Kittlers aufgetreten sei. Kittler nehme in seinem Projekt Musik und Mathematik eine delandasche Perspektive ein, indem er von seiner diskursanalytischen foucaultschen Perspektive eines medialen Aprioris zu einem dalandaschen Verständnis eines großangelegten historischen Narrativs wechsle, das die gesamte europäische Kulturgeschichte als rekursive Verbindung von griechischer Antike mit dem Turingszeitalter konstruiere.

Matthias Koch und Christian Köhler stellen die Bedeutung Kittlers für die Kulturtechnikforschung heraus. Sie argumentieren, dass Kittler nicht bloß von einem technischen Apriori ausgegangen sei und somit nicht als technizistisch abgetan werden sollte. Kittler mache sich vielmehr für ein kulturtechnisches Apriori stark, welches entscheidenden Einfluss auf künftige Theoriebildung wie die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) ausgeübt habe. Koch und Köhler zeigen auf, welche Parallelen die Theorien vorweisen und sehen insbesondere in Begrifflichkeiten der ANT wie Operationsketten und der Verkettung von Entitäten Parallelen zu Kittlers Aufschreibesystemen.

Ein zweiter Teil der Aufsätze zeigt, wie man nach (im Sinne von gemäß) Kittler Phänomene denken und erklären kann. Bei diesen Aufsätzen geht es eher um eine Anwendung seiner theoretischen Überlegungen auf verschiedene Disziplinen und Bereiche:

Rupert Gaderer betrachtet das Aufschreibesystem um 1800 und rekonstruiert nach (im Sinne von gemäß) Kittler anhand der Kulturtechnik des Schreibens das Aufkommen der preußischen Bürokratie des Rechts, die Sozialsteuerung des Schriftmonopols sowie die Absurdität der Machteffekte, die daraus hervorgehen. Er beschreibt anschaulich die komplexe Verbindung zwischen Medien- und Kulturtechniken und die Konstituierung von Subjekten: Der Figur des “Querulanten“ und der Supplik als Medium des Bürgers stellt er den Typus des Briefstellers gegenüber. Während der Querulant ein “Rauschen in den Kanälen der Bürokratie“ (51) und somit die systemimmanent hervorgebrachte Schattenseite der Bürokratie darstelle, sei der Briefsteller das Dispositiv, das das querulantische Schreiben zu regulieren versuche, indem es Regeln und Normierungen hinsichtlich des Schreibens von Suppliken auferlege. Die Ordnungs- und Regulierungsversuche der Bürokratie und ihre Logik der Vorschriften und Bestrafungen bringe dabei systemimmanent die Querulanz hervor und produziere dadurch ihre eigene Gegenbewegung und ihre eigenen Störelemente. Insofern zeigt Gaderer anhand von Kittlers Aufschreibesystem 1800 exemplarisch auf, wie Repressions- und Machtverhältnisse auf groteske Weise miteinander verwoben sind und medial hervorgebracht werden.

Nawata Yuji liefert dem Leser in ihrem Aufsatz eine literaturvergleichende Studie zwischen August Strindberg, Yamamoto Yuzo und Arthur Schnitzler, die sie im historischen Kontext von Kittlers Aufschreibesystem 1900 verortet. Der Beitrag ist eher aus literaturwissenschaftlicher als aus medienwissenschaftlicher Perspektive interessant und stellt die Bedeutung technischer Analogmedien wie Telefon, Radio, Grammophon für die Veränderung der Weltliteratur heraus.

Christina Vagt diskutiert in ihrem Beitrag anhand von Richard Buckminster Fullers “World Game“ das Verhältnis von computersimulierter Fiktion und Simulation zur Wirklichkeit. Mediengeschichten seien Entwurfsgeschichten, d. h. Fiktionen und Narrationen würden Mediengeschichte nicht bloß antizipieren, sondern diese selbst mitschreiben. Anhand Fullers Simulationsspiel “World Game” zeigt Vagt, dass Simulation und Fiktion nicht zur Vorhersage einer wirklichen Zukunft dienen, sondern die Zukunft selbst formen und ein “Reshape environment“ (133) stattfinde.

Moritz Hillers Aufsatz behandelt die Frage nach der Bedeutung des Literaturarchivs in Zeiten signalverarbeitender Medien und nach einer angemessenen Archivierung von Kittlers Nachlass. Hiller diskutiert das Verhältnis zwischen Diskurs und Signal, Inhalt und Materialität, Soft- und Hardware und konstatiert, dass sich das Literaturarchiv an inhaltlichen und formalen Kriterien orientiere und somit in der Tradition der Hermeneutik des 19. Jahrhundert stehe. Eine Archivierung nach Kittler habe jedoch auch Materialitäten und Hardware jenseits ihrer diskursiven Inhalte zu berücksichtigen. Er argumentiert im Sinne Kittlers, dass Mediengeschichte nicht nur diskursiv, sondern auch materiell gespeichert werden müsse und plädiert für eine Mediengeschichtsschreibung, die auch Apparate und Codes umfasse.

Maren Haffke konzentriert sich in ihrem Beitrag auf die weniger stark rezipierten musiktheoretischen Überlegungen Kittlers und Fragen musikalischer Materialität. Sie bespricht Kittlers Verständnis von Akustik innerhalb seiner Medienarchäologie und stellt seine Bedeutung für eine Schärfung und Präzisierung eines musikalischen Materialbegriffs anhand der Jazzmusik dar. Dort zeigt sie auf, wie Kittler Jazzmusik als Geburt der Schallplatte interpretiert. Improvisierende Jazzmusiker seien musikalische Analphabeten, die sich im Übergang zwischen (musikalischer) Schriftlichkeit, dem Folgen von Notationsregeln und Maßgaben der Harmonielehre, und den Analogmedien, der Bruch mit denselbigen Regeln, befänden. Sie konstatiert, dass Kittler auch in der Musik die Bedeutung des Wandels von Schriftmedien und Notationen zu Analogmedien hervorhebt, die eine medientheoretische Perspektive auf musikalische Materialität und die Betrachtung einer musikalischen Mediengeschichte erst ermögliche.

Ein dritter Teil der Beiträge konzentriert sich auf ein Denken nach (im Sinne des post) Kittler, ein Weiterdenken oder eine Korrektur seiner Überlegungen:

Jussi Parikka plädiert in seinem innovativen Beitrag “Green Media Times: Friedrich Kittler and Ecological Media History“ dafür, Kittlers Hardwarebegriff zu überdenken und zu radikalisieren. Er argumentiert aus einer ökologischen und umweltbewussten Perspektive auf Medien und konstatiert, dass nicht nur technische Geräte, sondern die darunterliegenden chemischen Substanzen, Rohstoffe und Halbwertszeiten betrachtet werden müssten. Nicht technische Netzwerke, sondern Kabel und Kupferdrähte, nicht Bildschirme und Computergrafiken, sondern die dahinterliegenden Substanzen LCD, LED oder CRT sollten untersucht werden. Dieser Ansatz bringt nicht nur medienökologische Fragen in den Fokus, sondern verändert auch das Nachdenken über Zeitlichkeit und Dauerhaftigkeit von Medien und ermöglicht somit eine hochgradig interdisziplinäre Öffnung auf die Betrachtung von Medien.

Nina Wiedemeyer unternimmt den Versuch, Kittlers Mediengeschichtsschreibung zu korrigieren, indem sie die Bedeutung von Büchern für seine Mediengeschichtsschreibung hervorhebt, die Kittler vernachlässigt habe. Sie zeigt auf, wie Kittler das Buch in seiner Historiographie der Medien ausspare, jedoch selbst unbewusst das Buch zur Begründung seiner Medientheorie verwende. Sie verdeutlicht die Buchhaftigkeit Kittlers anhand seines Werks Grammophon Bild Typewriter auf interessante Weise.

Susanne Janys Beitrag handelt von sogenannten Prozessarchitekturen, die Jany als solche Gebäude definiert, in denen bestimmte Arbeitsabläufe räumlich organisiert werden, wie beispielsweise in Krankenhäusern, Bahnhöfen oder Waschanlagen (vgl. 135). Die Frage nach dem Prozessieren und seinen räumlichen Bedingungen sei bisher in den Medienwissenschaften und auch in Kittlers Medientheorie ausgeblieben. Kittler ignoriere alle nicht-technischen Sachverhalte und biete keinen ausgearbeiteten Prozessierungsbegriff an. Sie moniert, dass Untersuchungen von Gebäuden auf ihre Medialität hin bisher vernachlässigt wurden. Jany schlägt vor, die Medialität von Gebäuden nicht nur über ihre technischen Medien, nicht bloß als Transiträume zu betrachten, sondern als Räume, in denen Objekte produktiv bearbeitet würden. Daher schlägt sie eine Perspektiverweiterung vor, um Kittlers Ansicht über die Architektur als Nicht-Medien zu korrigieren und stattdessen Kommunikations-, Verkehrs- und Energienetze als verbindende Technologien in einen medienwissenschaftlichen Blick zu nehmen. Anhand der Postämter Ende des 19. Jahrhunderts zeigt sie, dass das Prozessieren von Objekten nicht nur technisch, sondern unbedingt auch räumlich zu denken ist (vgl. 140). Janys Aufsatz lässt sich somit als Erweiterungsvorschlag von Kittlers Medienbegriff und Medientheorie lesen.

Zusammenfassend kann der Sammelband als empfehlenswerte Lektüre zur Mediengeschichte nach (post/gemäß) Kittler empfohlen werden. Er liefert sowohl Beiträge zur Kontextualisierung von Kittlers Theoriegebäude in philosophische, literatur- und medienwissenschaftliche Theoriezusammenhänge, regt an zum Weiterdenken von Kittlers Ansätzen hinsichtlich ökologischer, musikwissenschaftlicher, architekturtheoretischer, literaturwissenschaftlicher oder juristischer Fragen und bietet besonders dem Fachpublikum eine vielfältige (Re-)Perspektivierung auf Kittler und seine Bedeutung für die Fachgeschichte der Medienwissenschaft.

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Über das BuchFriedrich Balke, Bernhard Siegert, Joseph Vogl (Hrsg.): Mediengeschichte nach Friedrich Kittler. Reihe: Archiv für Mediengeschichte, Band 13. Paderborn [Wilhelm Fink] 2013, 179 Seiten, 19,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseFriedrich Balke, Bernhard Siegert und Joseph Vogl (Hrsg.): Mediengeschichte nach Friedrich Kittler. von Yeh, Sonja in rezensionen:kommunikation:medien, 23. Dezember 2015, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/18828
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