Rezensiert von Saskia Handro
Die pathologisch anmutende Formel des “Gedächtnis-Verlustes” erfreut sich in der Debatte um Fragen der kulturellen Tradierung der Erinnerung an Holocaust und Nationalsozialismus immer größerer Beliebtheit. Dies liegt sicher weniger am heuristischen, sondern eher am metaphorischen Potential des Begriffes, der im Paradigma der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung interdisziplinäre Anschlussmöglichkeiten verspricht. Interdisziplinär ist auch der vorliegende Band ausgerichtet, der die Ergebnisse einer vom Wiener Verein “Gedenkdienst“ und dem “Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung“ 2011 veranstaltenden Tagung dokumentiert.Der Tagungsband vereint zeitgeschichtliche und kommunikationswissenschaftliche Perspektiven sowie geschichtsdidaktische und erziehungswissenschaftliche Fragestellungen zu Formen der Vermittlung in Gedenkstätten und Massenmedien und bereichert die laufende Debatte um die “Zukunft der Erinnerung”. Folgt man dem Vorwort der Herausgeber, dann steht die Diagnose einer erinnerungskulturellen Epochenwende am Beginn des Projektes und damit eine mehrfache Herausforderung: zum einen der Generationswechsel, der die Frage der Historisierung des Holocaust und des Nationalsozialismus aufwirft; zum anderen die Auflösung nationaler Identitäten in einer multiethnischen Gesellschaft und nicht zuletzt die Frage nach Formen und Funktionen der Erinnerung in der Mediengesellschaft.
Am Beginn diskutiert der Zeithistoriker Oliver Rathkolb zentrale theoretische Modelle zum Thema “Gedächtnis und Erinnerung” als Möglichkeiten, Formen und Funktionen kultureller Tradierung zu beschreiben. Die gesellschaftliche Funktion kollektiver Erinnerungsstrategien und damit verbundene “hegemoniale Erinnerungsnarrative” typologisiert Moshe Zuckermann am Beispiel der israelischen Shoah-Gedenkkultur und differenziert gleichzeitig den Begriff des “Gedächtnis-Verlustes” als Prozess der Selektion und Kodifizierung des kollektiven Erinnerungshaushaltes. Eine so ideologisch imprägnierte Gedenkkultur nutzt – so Zuckermann – “Erinnerung als moralischen Bewahrungsakt“ (26), steht aber im Gegensatz zum Anspruch reflexiver und emanzipativer Vergangenheitsaufarbeitung (vgl. 39).
Lehr- und Lernprozesse in Gedenkstätten beleuchtet eine zweite Gruppe von Beiträgen. Auch hier bildet die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen ritualisiertem Gedenken und kritischer Identitätsreflexion die heuristische Klammer. Gleichwohl nähern sich die Autoren dieser Frage aus höchst unterschiedlichen Perspektiven. So rekonstruieren Verena Haug und Wolfgang Meseth auf der Basis von Gesprächsprotokollen Modi der pädagogischen Interaktion bei Gedenkstättenführungen. Sie charakterisieren diese als Reproduktion schulischer Rollenordnungen, die eine individuelle, fragend-forschende Annäherung an den historischen Ort erschwert und damit die spezifischen Lernpotentiale von Gedenkstätten als historisch tiefgestaffelten Räumen und “diskursiven Orten“ verdeckt, wie sie Till Hilmar im folgenden Beitrag entfaltet. In Abkehr von praktizierten Top-Down-Modellen plädiert er für eine stärkere Subjektorientierung der Gedenkstättenpädagogik.
Diese konstruktivistische Sicht auf Lernprozesse präferiert auch Bert Pampel. In Auswertung der Ergebnisse der Besucherforschung systematisiert er personale (u. a. Motivation, Vorwissen, Vorerfahrungen) und institutionelle Variablen (u. a. Thema, Führungstyp, Besuchszeit) von Gedenkstättenbesuchen. Die entwickelte Matrix schärft in ihrer Komplexität den Blick für die Individualität und Situiertheit historischer Sinnbildungsprozesse und unterstreicht die Bedeutung produktiver Verunsicherung an historischen Orten.
Das didaktische Potential thematischer Zugriffe für eine Gedenkstättenpädagogik, die nicht allein von kritischer Distanzierung zur Vergangenheit lebt, sondern Stolpersteine für kritische Identitätsreflexionen bietet, eruieren Angelika Meyer, Klaus Kienesberger und Lukas Meissel. Meyer sensibilisiert am Beispiel der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück für das pädagogische Potential “gendersensibler Pädagogik” (82). Kienesberger und Meissel erkunden die didaktischen Potentiale einer differenzierten Widerstandsgeschichte – u. a. als Rezeptions-, Alltags- und Kommunikationsgeschichte. Das Reden über den Holocaust und den Nationalsozialismus in migrationsbedingt heterogenen Schulklassen rekonstruiert Ines Garnitschnig. Sie interpretiert Diskursstrategien migrantischer Jugendlicher als situatives Erzählen und damit als Form reflexiver Identitätsaneignung.
Kommunikations- und medienwissenschaftliche Fragestellungen verfolgt eine letzte Gruppe von Beiträgen. Erich Vogl und Wolfgang Duchkowitsch präsentieren Ergebnisse eines Zeitzeugenprojektes zur Erinnerung an den ‘Anschluss’ Österreichs. Während hier das heuristische Potential von Zeitzeugeninterviews als Quellen der Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte im Vordergrund steht, erörtert Barbara von der Lühe Lernpotentiale eines studentischen Projektes zur Erhebung und medialen Aufbereitung von Zeitzeugeninterviews. Massenmedien als erinnerungskulturell relevante Faktoren gewinnen durch unterschiedliche Zugriffe an Kontur.
Horst Pöttker diagnostiziert den Abschied des Journalismus vom auf Aktualität zielenden Nachrichtenparadigma und die Stärkung der gesellschaftlichen Orientierungsfunktion, mit der Geschichte als Reservoir gesellschaftlicher Reflexion an Bedeutung gewinne. In Anlehnung an Friedrich Nietzsche und Jörn Rüsen entwirft Pöttker drei Modi journalistischer Sinnbildung und plädiert für eine Abkehr vom Ritual des gegenwartsvergessenen Gedenktagsjournalismus zugunsten gegenwarts- und problemorientierter Themensetzungen.
Tabuisierungen im medialen Erinnerungsdiskurs greifen die letzten beiden Beiträge auf. Gaby Falböck untersucht mediale Popularisierungstrends, die entlang der “Grenzen des Sagbaren” operieren und auf Emotionalisierung setzen. Sie interpretiert inszenierte Tabubrüche als lernpsychologisch produktive Strategien der Verunsicherung. Fritz Hausjell problematisiert dagegen den Umgang mit NS-Propagandamaterial am Beispiel der öffentlichen Debatte um die zeitgeschichtlichen Publikationsreihen “NachRichten“ und “Zeitungszeugen“. Die wenngleich wissenschaftlich begleiteten Reprints von NS-Propagandamaterial provozierten gerade in Deutschland einen juristisch und ethisch motivierten Erinnerungsskandal, in dem Fragen der ‘Normalisierung’ oder besser Historisierung verhandelt und gleichzeitig das didaktische Potential einer kritisch reflektierten Beschäftigung mit Quellen der NS-Mediengeschichte diskutiert wurden.
Zweifellos liefert der Band Bausteine für eine Annäherung an den Begriff des “Gedächtnis – Verlustes” im Spannungsfeld von ritueller Vergegenwärtigung und kultureller Tabuisierung. Gleichzeitig scheinen Verunsicherung und kritische Identitätsreflexion produktive Strategien der lebendigen Vergangenheitsvergegenwärtigung zu sein. Am Ende der Lektüre bleiben jedoch das Fragezeichen des Buchtitels und der Wunsch des Lesers, durch eine fundierte theoretische Einleitung für den Gang in ein komplexes Feld besser gerüstet zu werden. Dies ist jedoch nicht nur ein Dilemma vieler Sammelbände, sondern vielleicht auch der Preis der Interdisziplinarität, die in der Gedächtnisformel ihren kleinsten gemeinsamen Nenner findet.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Linda Erker an der Universität Wien
- Webpräsenz von Dr. Erich Vogl an der Universität Wien
- Webpräsenz von Prof. Dr. Fritz Hausjell an der Universität Wien
- Webpräsenz von Prof. Dr. Saskia Handro an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Über das BuchLinda Erker, Klaus Kienesberger, Erich Vogl, Fritz Hausjell (Hrsg.): Gedächtnis-Verlust? Geschichtsvermittlung und -didaktik in der Mediengesellschaft. Reihe: Öffentlichkeit und Geschichte, Band 6. Köln [Herbert von Halem] 2013, 260 Seiten, 28,50 Euro.Empfohlene ZitierweiseLinda Erker, Klaus Kienesberger, Erich Vogl, Fritz Hausjell (Hrsg.): Gedächtnis-Verlust?. von Handro, Saskia in rezensionen:kommunikation:medien, 27. Juni 2014, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/16611