Rezensiert von Pascale Anja Dannenberg
“Ein[en] Werkstattbericht mit Textbeispielen, Notizen und Korrespondenzen 1971 bis 2012” verspricht der Feature-Journalist Helmut Kopetzky, aber vor allem ein “Plädoyer für das ‘Radio in der Ersten [sic!] Person Singular’, das hinter dem einzelnen ‘Stück’ deutlich erkennbare Autoren-ICH” (9). Das Plädoyer ist ihm als solches gelungen, spürt man beim Lesen doch die durch diese Ankündigung erwartete Leidenschaft des Autors fürs eigene, subjektive Schaffen.In Anlehnung an den Essay des Schriftstellers und Filmemachers Alexandre Astruc ‘Naissance d’une nouvelle avant-garde: la caméra-stylo’ aus dem Jahr 1948 will Kopetzky, statt mit Federhalter oder Kamera, mit dem Mikrophon schreiben (vgl. 66), um die eigenen Gedanken aufzuzeichnen. Denen lässt sich nicht entkommen, also gilt es, sie auch hörbar zu machen: “Behauptete Objektivität ist […] eine Lüge. Sobald wir das Mikrophon in die Hand nehmen, beginnt die ‘Manipulation’ […] Wir bestimmen den Aufnahmezeitpunkt, die Technik, den Gesprächsverlauf und später, in welcher Reihenfolge und in welchem Tempo die Zuhörer über einen Gegenstand informiert werden […] Der Autor übersetzt aus seiner Erinnerung mit Hilfe des Originaltons für das Medium Radio. Dabei bewegt er sich immer auf dem schmalen Grat zwischen Verdichtung und Fiktionalisierung.” (107)
In der Erwähnung Astrucs hätte Kopetzky gut daran getan, nicht nur Regisseure aufzuzählen, die den Film als persönliches, ja autobiografisches Ausdrucksmittel verstehen, der eine eigene Haltung zum Sujet und zur Welt, zu sich selbst und zum Anderen spiegeln soll. Für eine präzisere historische Einordnung wäre es lohnenswert gewesen, auch auf die theoretische Auseinandersetzung vieler Autorenfilmer mit all den am Autorenbegriff sich entzündenden Fragestellungen um Realismus und Repräsentation zu verweisen. Schließlich erfuhr diese Debatte im Frankreich der Fünfzigerjahre, ausgehend (auch) von Astruc, neue Impulse durch Theoretiker wie André Bazin und Gilles Deleuze.
Dieser Tradition verhaftet, setzten sich Bazins Kritikerfreunde von den Cahiers du cinéma und späteren Autorenregisseure der Nouvelle Vague, Éric Rohmer, François Truffaut, Jacques Rivette und Jean-Luc Godard, zunächst einmal in ihren Filmartikeln theoretisch mit einer ‘politique des auteurs’ auseinander. Godard äußerte sich später einmal wie folgt: Im Blick wird das Dokument zur Erinnerung. Und die erzählte Fiktion ist Ausdruck dieses Dokuments und damit bloß eine andere Form der Realität. (vgl. Godard 1980: 218 u. 126f.) Diese Erzählung wird nur dann zur Täuschung, wenn eine vermeintliche Objektivität ihren Stil bestimmt, wohingegen die Offenlegung ihrer Fiktionalität zur dokumentarischen und damit authentischen Geste wird.
Diese Haltung macht sich Helmut Kopetzky zu eigen. Sie schließt seinen “Mut zum blinden Fleck” (115) und die Bewusstmachung dessen über den Stil der Erzählung ein. Sie führt im Studio zur reproduzierenden Selektion des Wahrgenommenen, zur Konstruktion der Erinnerung und einer Hörbarmachung von Wissens- und Wirklichkeitslücken. Sie nimmt auch ein Scheitern in Kauf. All dies zeigt der Autor eindrücklich auf.
Doch Kopetzky unterscheidet zwischen Sicht- und Hörbarem. Anhand der szenischen Beschreibung einer schreienden Person auf einer gegenüberliegenden Straßenseite inmitten tosenden Verkehrs spricht er davon, dass der Mensch seine Umwelt mit Ohren und Augen fokussiere. Die Aufnahmeapparatur hingegen registriere alle Elemente gleich, so dass der Schrei im Motorenlärm untergehe und nur anhand der sichtbaren Gestik der Person hinzugedacht werde, weshalb der Autor im Studio seine auditive Vorstellung des Geschehens konstruieren müsse (vgl. 314). Nach Kopetzky “sieht [der Zuschauer], was er sieht: Abgelichtetes, die Außenhaut der Dinge […] Der Hörer aber hört in einen Menschen, eine Sache, einen Sachverhalt hinein” (319). Doch ist die mechanische Reproduktion einer Wirklichkeit über Bilder tatsächlich eine objektivere als die über Töne? Muss ihre Wahrnehmung nicht ebenfalls (re-)konstruiert werden?
Kopetzkys Wunsch, auch bei Abwesenheit der eigenen Stimme im Werk anwesend zu sein (147), widersprechen keineswegs Aufsätze von Michel Foucault, Jacques Derrida oder Roland Barthes, wenngleich auch Barthes’ “Tod des Autors” (1967 engl.; 1968 franz.) hier abermals unpräzise kolportiert wird (374). Keinem der drei Philosophen war daran gelegen, den Autor für obsolet zu erklären, vielmehr zielte ihr Theorem im Zuge des linguistic turn in den Sechzigerjahren darauf, dass die Erkenntnis von Wirklichkeit an Sprache gebunden ist, Sprache also nicht mehr als transparentes Ausdrucksmedium einer außersprachlichen Wirklichkeit zu betrachten ist und damit der Autor des Werkes ein anderer ist als der Autor im Werk. Dem Autor bleibt, stilistisch auf seine Abwesenheit im Werk zu verweisen – und damit auf sich selbst im Außerhalb des Werks.
Zu Kopetzkys “Radio in der ersten Person” gehört auch ein historischer Abriss der Rundfunkgeschichte mitsamt ihren Ideologien, technischen Entwicklungen und ihrer für den Autor wichtigsten journalistischen Vertreter. Er würdigt seine persönlichen “Ohrenöffner” (298) – den ehemaligen Leiter der Feature-Abteilung des Sender Freies Berlin Peter Leonhard Braun und den dänischen Fluxus-Komponisten Henning Christiansen. Und reiht seine Idee eines “Features” ein in eine ganze Reihe von Definitionsversuchen anderer für ihn bedeutungsvoller Autoren.
Vor allem aber prägt sich dem Leser Kopetzkys Selbstironie ein, die diese autobiografische Rückschau, dieses Mosaik aus Kommentaren, Erinnerungen, Zeitungsartikeln, Briefen und Manuskripten färbt. Helmut Kopetzky, Jahrgang 1940, seit 1971 freiberuflicher Autor und Regisseur von mehr als 100 Features für den Hörfunk, Preisträger u. a. des Prix Europa und des Axel-Eggebrecht-Preises für das Lebenswerk, wendet sein Plädoyer für ein Ich-Radio schließlich in ein nachdrückliches Plädoyer für Qualitätsjournalismus und den Erhalt des dokumentarischen Features, geißelt die journalistischen Massenentlassungen der vergangenen Jahre in Europa und den USA, schießt gegen die zunehmende “Verschlankung” von Qualitätsprogrammen (27) und “das Clip-Radio, in dem Geräusch-Schnipsel nur noch als Authentizitäts-Belege und zur akustischen Hintergrund-Tapezierung dienen” (310).
Und so wie Filmwissenschaftler sich gezwungen sehen, den Film zu denken nach der Geschichte des Kinos, so fragt sich Kopetzky mit dem Medienwissenschaftler Geert Lovink: “Was ist das Radio nach dem Radio?” (367). Manchmal glückt es im Austausch mit den Kollegen, für einen Moment allen Pessimismus beiseitezuschieben und sich gegenseitig Mut zuzusprechen: “Die Leute wollen einfach Geschichten hören […] Und das wird sich in den nächsten 2000 Jahren nicht ändern!” (377)
Schließlich bleibt Wirklichkeit nur denkbar als erzählte, eigene Geschichte.
Literatur:
- Roland Barthes: Der Tod des Autors (1968). In: Das Rauschen der Sprache. Frankfurt/Main [Suhrkamp] 2005.
- Roland Barthes: La mort de l’auteur (1968). In: Oeuvres complètes. Tome II: 1966-1973. Paris [Seuil] 1994.
- Jean-Luc Godard: Introduction à une véritable histoire du cinéma. Paris [Albatros] 1980.
Links:
Über das BuchHelmut Kopetzky: Objektive Lügen, subjektive Wahrheiten. Radio in der Ersten Person. Ein Werkstatt-Bericht. Münster [Monsenstein und Vannerdat ] 2013, 379 Seiten, 18 Euro.Empfohlene ZitierweiseHelmut Kopetzky: Objektive Lügen, subjektive Wahrheiten. von Dannenberg, Pascale Anja in rezensionen:kommunikation:medien, 26. April 2014, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/16357