Rezensiert von Hans-Dieter Kübler
Notorisch und wohlfeil ist die öffentliche Rede von der Wissensgesellschaft – gewissermaßen als historische Kategorie in der angeblich unausweichlichen Modernisierungsabfolge, als soziologische Zeitdiagnose oder als metaphorische Attribuierung diverser postmoderner Phänomene und Tendenzen. Speziellere Perspektiven kaprizieren sich relativ beliebig auf die anhaltende Digitalisierung und Medialisierung, markiert vom eingängigen Etikett des Web 2.0, auf strukturelle Transformationen gewerblicher Arbeit, wo kognitive, sogenannte wissensbasierte Produktionsabläufe, komplexe Dienstleistungs- und Logistikprozeduren dominieren, oder auf globalisierte, zunehmend dichter, differenzierter, aber auch standardisierter werdende Ströme materieller und symbolischer Waren, um nur einige Paradigmen anzuführen.Daher liegt es nahe, den jeweils implizierten Wissensbegriff nicht penibel auf seine letzten substantiellen Ingredienzien abzuklopfen, sondern ihn eher als zeitgenössische Metapher zu akzeptieren, die umschreiben, vielleicht auch nur apostrophieren soll, was längst noch nicht hinreichend ergründet, vielleicht sogar – wenn man Verzögerungen, Ungleichzeitigkeiten und Gegenläufigkeiten einkalkuliert – nicht einmal genügend entfaltet ist. In der internationalen Debatte überwiegt ohnehin die der Informationsgesellschaft, womöglich um ihre vorderhand eher technologischen und/oder utilitaristischen Dimensionen zu unterstreichen.
Ganz anders hingegen argumentiert der Stuttgarter Historiker und Publizist in der vorliegenden, voluminösen ‘Begriffsarbeit’. Zwar ließ er sich wohl auch von besagtem Diskurs motivieren, aber ihm geht es um grundsätzliche Erörterungen und Klärungen des individuellen und kollektiven Wissensbegriffs, nicht um Rekonstruktionen und Bewertungen oberflächlicher Diskussionen, die er als “arg untertheoretisiert” (481) tadelt. Dabei holt er weit aus, gräbt tief, mit einem eindrucksvollen Wissen über unzählige Gedankenstränge, Darstellungen, Kontroversen aus nahezu sämtlichen Disziplinen (Philosophie, Kulturgeschichte, Phänomenologie, Anthropologie, Neurowissenschaften etc.), die er mit einem überbordenden Zitatenrepertoire illustriert, wodurch vielfach die eigene Stringenz mäandert, sich in diversen Beispielen verliert und damit die Lektüre der so überfrachteten Sätze erheblich fordert.
Auch die Struktur der Darstellung ist nicht durchgängig systematisch, sondern eher assoziativ, wie schon die Inhaltsübersicht indiziert. Zusätzlich spart der Autor nicht mit eigenwilligen (normativen) Setzungen und apodiktischen Urteilen über Sachverhalte wie über Autoren, die sich oft nicht nachvollziehen lassen. Dabei unterlaufen ihm selbst unzählige Ungereimtheiten, Verkürzungen und Widersprüche, die allerdings nur bei intensivstem Studium und penibelster Darstellung belegt werden könnten. Offensichtlich hat hier einer seine gesammelten Zettelkästen, jahrelangen Studien und damit – gewissermaßen – sein breites, imposantes Wissen ausgebreitet, um quasi ein Opus magnum vorzulegen.
Schon die Einleitung startet mit dialektischem Gestus: “Wir wissen – dass wir nicht einmal so recht wissen, was Wissen ist” (11) – womit eine der spannenden reflexiv-zirkulären Aporien angesprochen ist, nämlich dass Wissen stets Wissen voraussetzt. Sie allein wäre es wert gewesen, gründlich und differenziert expliziert zu werden. Doch wenn der Autor an etlichen Stellen auch Tieren Wissen zubilligt, hebt er diese Setzung implizit wieder auf. Was Wissen ist – umkreist, apostrophiert, exemplifiziert er immer wieder, in ganz unterschiedlichen Kontexten und entlang verschiedener Deutungsstränge, doch trotz einer reichlich gedrechselten Definition bleibt diese Frage bis am Ende offen bzw. wird immer wieder neu gestellt. Denn zuletzt resümiert er nicht weniger kryptisch: “Zwar können wir Wissen nicht besitzen, aber offensichtlich verfügen wir über Wissen, und ebenso verfügt unser Wissen über uns” (494). Eingangs noch fällt die Ausgangsthese ungleich pragmatischer und für die soziologischen Erkenntnis zugänglicher aus: Gerade die Unbestimmbarkeit des Wissensbegriffs ermögliche dessen Instrumentalisierung im Diskurs um die ‘Wissensgesellschaft’, “weil sich das Goldene Kalb sonst sehr bald als äußerst hohl erweisen würde” (15).
Doch auch diese text- wie ideologiekritische Intention wird nicht konsequent verfolgt. Vielmehr werden zunächst – gewissermaßen als Annäherung an empirische Phänomene – einige dualistische “Wissensarten” aufgeführt und ihre Verwendungsweisen geprüft. Nach einem kurzen Exkurs über den “Verlust der Wahrheit” im wissenschaftlichen Wissensbegriff (wozu viel zu sagen wäre, nicht nur anlässlich der jüngsten, kurz erwähnten Plagiatsfälle), schließen sich Wissensdefinitionen wie z. B. “vernetzte Information” an, die alle verworfen werden, um dann die eigene, wenig verständliche Definition, vorzubringen: “Wissen ist rhinzomartig vernetzte Redundanz, für die das sie prozessierende System sich selbst gegenüber und kommunikativ einen Geltungsanspruch auf Wahrheit oder, bei Handlungswissen, Richtigkeit erhebt; so generiert Wissen den Erscheinungen der Welt kognitiv und kommunikativ ihre stabile Bedeutung” (155).
Denn Riethmüllers Definition rekurriert auf nicht weniger diffuse, wenn nicht widersprüchliche Kategorien, inklusive eines beliebigen Systembegriffs, sodass er wenige Seiten danach selbst einräumt, Redundanz sei “natürlich zunächst ein Leerbegriff” (161) – und bleibt es auch. Denn nur unter technologischen Vorzeichen wird er eindeutig, nämlich mathematisch definiert, ähnlich wie Information, die Riethmüller deshalb als Grundlage oder Teilsubstanz für Wissen ablehnt. Bemerkenswert ist an seinem Wissensverständnis aber auch, wie die Zitate zeigen, dass er dem (kollektiven) Wissen, wie immer gefasst, eine spezifische Substantivierung zuschreibt, so als könne es ohne das konstruierende und aneignende Subjekt agieren. Da tut sich eine theoretische Lücke, mindestens ein Fragezeichen auf, ohne hinreichende Explikation.
Doch auch die eigene Definition wird nicht erschöpfend weiter bearbeitet; vielmehr folgen nun symptomatische “Fehlannahmen über das Wissen” wie “Wissen ist wahr” oder “Wissen ist die wichtigste Ressource der Wissensgesellschaft” oder “Wissen ist per se nützlich”. Wenn es keine konzise, anerkannte Definition von Wissen gibt, wenn man nicht weiß, was Wissen ist, dann kann es doch eigentlich keine falschen Zuschreibungen geben. Originell ist indes die folgende Idee, nämlich eine Phänomenologie des “Nichtwissens” zu entwerfen [die wohl von Ulrich Becks These inspiriert wurde, wonach das Medium reflexiver Modernisierung “nicht Wissen, sondern Nicht-Wissen” sei (244)]. Sie hat sowohl eine prinzipielle Dimension, da Nichtwissen “immer unterhintergehbar Anteil jedes konkreten Wissens” (486) sei, als auch viele praktische Dimensionen, die sich in der wachsenden Komplexität, Unkalkulierbarkeit und Gefährlichkeit moderner Wissenserzeugung und gesellschaftlicher Steuerung niederschlagen und mithin Becks Risikogesellschaft grundieren.
Doch erneut bleiben die kontingenten wie die absichtlichen Zusammenhänge ungeklärt. Die folgenden Kapitel – “Anmerkungen zur ‘Wissensgesellschaft'” wie “epistemologische Skizzen” – variieren und exemplifizieren im Wesentlichen nur noch das bereits Ausgeführte. Ob sich die “Problemlagen” jener in den quantitativen Kalkülen von “Zuviel-Wissen” oder “Zuwenig-Wissen” fassen lassen und ob sich “epistemologische Kritik” in der “Ästhetik”, “Rhetorik” und “Perspektivik des Wissens” ausdrückt, wobei dieses weder klar ist noch sich bekanntlich im Singular erschöpft, bleibt am Ende dahingestellt.
Der „graue Schwan“, der auch als Überschrift das Fazit ziert, ist schon eingangs (vgl. 19) im Vergleich zum weißen (als Bild des Wissens) und zum schwarzen Schwan (als Bild des Nichtwissens) als jenes gern übersehene Sinnbild dafür apostrophiert worden, dass es bei einem “solch komplexen Gegenstand” weder nur weiß noch nur schwarz gibt. Dem lässt sich uneingeschränkt zustimmen.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Prof. Dr. Hans-Dieter Kübler an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg
Über das BuchJürgen Riethmüller: Der graue Schwan. Prolegomena zum Wissen der Wissensgesellschaft. München [Wilhelm Fink] 2012, 495 Seiten, 59,- Euro.Empfohlene ZitierweiseJürgen Riethmüller: Der graue Schwan. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 22. April 2014, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/16340