Rezensiert von Georg Christoph Tholen
Gewiss gilt die Zeit als das seit altersher am wenigsten gelöste Rätsel. Von Aristoteles über Augustinus bis Bergson und Husserl kreisen die wiederholten Versuche, die Zeitlichkeit der Zeit selbst begrifflich zu fassen. Die Aporie der gleichsam zeitlosen Beständigkeit des Zeitlichen und Unbeständigen wurde im postmodernen Denken thematisch, wie der einleitende Beitrag (9-20) des hier zu besprechenden Buches zumindest kursorisch resümiert.Problematisch wurde nämlich mit der Frage nach der Begründung von Subjektivität, Zeit und Raum, die Denkfigur und Metaphorik des Grundes oder Fundaments selbst. Die Dekonstruktion der raumzeitlichen Architektonik des Zeitbegriffs zeigt sich, wie, je verschieden, Heidegger und Derrida, Benjamin und Lyotard, gezeigt haben, ex negativo an dieser Begriffsbestimmung selbst: So findet sich beispielsweise die Allgegenwart Gottes in modifizierter Form in dem jeder Zeitmessung vorgängigen Maßstab der reinen Zeitfolge von Jetzt-Punkten wieder. Beide Zeitbegriffe setzen einen beständigen Untergrund des Unbeständigen voraus. Noch genauer: Mit dieser Annahme eines Zugrundliegenden wird die Präsenz eines Zeit-Raums angenommen, der als solcher bereits da, also anwesend ist. Diese Anwesenheit hat sich als unverrückbarer Rahmen in der Metaphysik der Zeit eingeschrieben, als etwas, was gleichsam immer schon an seinem Platz sei, bevor dieser ihm angewiesen wurde.
So konnte u. a. Lyotard zeigen, dass jeder bereits vollzogene Schematismus der Zeit den Einschnitt, den das “schematisierende Ziehen der Zeitlinie” selbst (I. Kant) voraussetzt, ausblendet und vergisst. Hier kristallisierte sich ein Zeit-Denken heraus, welches es erlaubt, die sich verschiebenden und wiederholenden, aber zugleich unvordenklichen Brüche und Interferenzen der Zeit zu ver-orten, sei es in der Geschichte, in der Technik wie auch in den medialen Ästhetiken. Die kinematographische Manipulation der Zeitachsen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eröffnet nicht nur eine andere Erzählweise, sondern interveniert in den bisherigen Vorstellungen und Begriffen von Zeitlichkeit überhaupt: Die “choc”-haften Zäsuren (W. Benjamin) und Konstellationen der Mediengeschichte erlauben es, Sprünge und Risse, Wiederholungen und Verschiebungen als in sich selbst hetertope Vielgestaltigkeit von Raumzeiten zu verstehen, die die das Schema der Wiederkehr gleicher Ablaufmuster oder dasjenige des unaufhörlichen Flusses dezentrieren und fragmentarisieren. Von einer solchen Diskontinuität ausgehend lässt sich, im Gegenzug zum klassischen Zeitbegriff, erst zeigen, wie und warum die Muster der Kontinuität und der Wiederkehr in den Diskursen über die Zeit sich heraus- und sich in unserem Denken einbilden konnten und können.
Der vorliegende Sammelband nimmt teilweise die hier zusammengefassten Momente des zeitgenössischen Zeit-Denkens, zu denen es seit den 1990er Jahren bereits eine umfangreiche Literatur gibt, wieder auf und erweitert sie in zahlreichen Fallstudien, von denen einige besonders originell und wegweisend sind. Ansatzweise unklar bleibt dem Leser jedoch die Aufteilung der Beiträge in drei etwas willkürlich betitelte Hauptkapitel, nämlich ‘Theoretische Reflexionen‘ (9-120), ‘Medium und Zeit im Horizont der Heilsgeschichte‘ (121-220) und ‘Vermittelte Zeit – Perspektiven der Moderne‘ (221-268). Dies sei deshalb erwähnt, weil beispielsweise die im dritten Kapitel zu findenden Beiträge von Felix Christen (über Hölderlins Zeitbild) und von Johannes Binotto (über die Chrono-Logik von Film und Psychoanalyse) genau so gut in das Kapitel über die ‘Theoretischen Reflexionen‘ hätten aufgenommen werden können.
Neben der bereits erwähnten Einleitung zeigt der Beitrag von Dieter Mersch (‘Monstrosität und Bruch. Zur Temporalisation des Medialen’, 21-42), wie es – denkgeschichtlich gesehen – zu dem differentiellen Denken der Temporalität als Entzug und Einschnitt, als Diskontinuität und Bruch, kam und inwieweit die Dispositive der Medien, genauer: ihre ‘chiastische Dialektik‘ des Erscheinens und Verschwindens von kulturellen Dynamiken zu bestimmen wäre. Unter dem schönen Titel ‘Schon da und noch im Kommen begriffen. Zur Zeitlichkeit des Mediums Sinn‘ (43-64) versucht Thomas Khurana, den dekonstruktiven Gedanken der Wiederholbarkeit und Reproduzierbarkeit, der bei Walter Benjamin und Jacques Derrida in fast all ihren Texten stets neu entfaltet wird, an markanten Beispielen der künstlerisch reflektierten Mediengeschichte der Photographie, des Films, und neuerer multimedialer Installationen aufzuzeigen (Jean Cocteau, Hiroshi Sugimoto, Thomas Demand). Ob diese Formen der Zeitlichkeit des ‘Sinns‘ bzw. der ‘Unterbrechung des Sinns‘ sich, wie Khurana argumentiert, korrelieren lassen mit der systemtheoretischen, genauer: operativen Bestimmung von Medium und Form, ist wegen des doch sehr unterschiedlichen Denkhorizonts von Luhmann und Derrida zumindest diskussionswürdig.
Kohärent und klar hingegen ist die subtile Argumentation von Thomas Forrer in seinem Beitrag mit dem Titel ‘›Urgeschichte des Bedeutens‹. Ausdruck, Allegorie und Ereignis (Deleuze, Benjamin)‘ (65-90). Grundlegend ist sein zugleich sprach- wie medienphilosophischer Text insofern, als seine These über die Sprache als Medium ihrer eigenen Mitteilbarkeit, die in instrumenteller Kommunikation von Bedeutungen und Mitteilungen nicht aufgeht bzw. ihr vorausgeht, die Grundbegriffe der Kommunikations- und Medienwissenschaft neu zu reflektieren vermag. In einer feinsinnigen Re-Lektüre und Verknüpfung der Schriften von Walter Benjamin und Gilles Deleuze gelingt es Forrer, das ‘ursprungslose Werden‘ als Differenzpunkt zum bisherigen Zeit-Denken deutlich zu machen.
Hier wird dem aufmerksamen Leser bewusst, dass die Frakturen einer Zeitlichkeit, die weder unter das lineare Schema der Zeit als messbarer ‘Früher-Später-Relation‘ noch als modaler ‘Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft-Relation‘ zu subsumieren sind, mit dem Begriff der Medialität übereinstimmen, insofern dieser die Dazwischenkunft medialer Konfigurationen von alten und neuen Medien zu beschreiben vermag. Wie es vor allem Samuel Weber gezeigt hat, gewinnt so erst der Benjaminsche Begriff der Reproduzierbarkeit der Medien, der wahlverwandt ist mit demjenigen der Lesbarkeit und Mitteilbarkeit, eine Aktualität, die wiederum – auf je singuläre Weise – Denker wie Deleuze, Derrida und Nancy bezeugt haben.
Gleichsam als Übergang zum zweiten Schwerpunkt des Buches, der die teleologischen und theologischen Dimensionen der Zeitlichkeit behandelt, knüpft auch Philipp Stoellger in seinem Beitrag ‘Die Zeit des Bildes. Das Bild zwischen Simultaneität und Sukzession‘ (91-120) an die nicht-instrumentellem bzw. nicht-vulgären (M. Heidegger) Konzepte einer Zeitlichkeit an, die in dem erwähnten Konzept des unendlichen Nacheinanders von ‘früher‘ und ‘später‘ nicht aufgehen, sondern mit der Komplexität von Erfahrungszeit und Lebenszeit und der (apokalyptischen wie heilsversprechenden) Zeit der Erwartung des Kommenden zu tun haben.
Hiermit ist der ‘heilsgeschichtlich‘ konnotierte Horizont der Verknüpfung von ‘Zeit‘ und ‘Medium‘ von fünf weiteren Beiträgen eröffnet, die jedoch eben diesen theologischen bzw. quasi-theologischen Zeitbegriff selbst nicht problematisieren. Kunsthistorisch und religionsgeschichtlich orientiert, lesen wir, beispielsweise in Christian Kienings Beitrag ‘Mitte der Zeit. Geschichten und Paradoxien der Passion Christi’ (121-138), viel über die vermittelnde, genauer: mediatisierende Funktion von Christus als Erlöser usw. Die onto-theologische Metaphysik der Zeit, der zufolge – so Kiening – Christus als das Medium fungiert, durch das Gott kommuniziert (122 f.) wird im Gestus ihrer christologischen Rekonstruktion nachgezeichnet, nicht aber als solche dekonstruiert (wie es jüngst die grundlegenden Arbeiten von Jean-Luc Nancy getan haben). Gleichwohl zeigt Kienings philologisch behutsame Lektüre, dass und wie das Überzeitliche und Jederzeitliche, das bei Augustinus bereits das Paradoxon des klassischen Zeitbegriffs konturiert hatte, nachhaltig das Imaginäre aller Zeitbilder geprägt hat.
Ähnlich argumentieren (in vergleichbarer philologischer Gründlichkeit ) alle nachfolgenden Beiträge, die hier – aus Platzgründen – nur noch genannt werden können: Marc-Aeilko Aris, ‘Tuba novissima. Medialisierung des Augenblicks in scholastischen Texten des Mittelalters‘ (139-148), Marcus Sandl, ‘Prekäre Zeiten. Der Diskurs des Propheten im Zeitalter der Reformation‘ (149-174), Yigit Topkaya, ‘Zwischen endzeitlicher Wiederkehr und verheißungsvoller Heilserwartung. Mediale Vergegenwärtigung des Türken um 1500‘ (175-190), Matthias Müller, ‘Cranachs chronotopische Landschaften. Raum-Zeit-Strukturen in den mytholgischen Bildern Lucas Cranachs d. Ä.‘ (191-220).
Auch die Studie von Christian Van Der Steeg im dritten Teil des Buches über die ‘Zeitverschiebungen zwischen Pflanzengeographie und Poesie. Adalbert Stifters real-ideale Gewächse‘ (235-252) rekonstruiert poetische wie naturwissenschaftliche Bilder des organischen ‘Werdens‘, endet jedoch mit der medientheoretisch wichtigen Beobachtung, dass und wie das mit Zeitschnitten operierende Medium der photographischen Technik die Metaphorik quasi-organischer Zeitbilder zu irritieren begann. Zeit- und medienphilosophisch zentral für die aktuelle Debatte ist jedoch neben dem bereits erwähnten Text von Thomas Forrer der feinsinnige (wenn auch wenig umfangreiche) Beitrag von Felix Christen über ‘Hölderlins Zeitbild‘ (221-234): Dass und wie Hölderlins fragmentarische Dichtung als Form eines Denkens zu verstehen ist, dass die kantische Apriorität von Zeit und Raum als bereits gegebene Form der sinnlichen Anschauung zugunsten einer individuellen oder (mit Nancy gesprochen) je-weilig singulären Sinnlichkeit der in sich brüchigen (d. h. textuell sich einritzenden) Zeitlichkeit zwischen Anwesenheit und Abwesenheit zu verwinden und zu überwinden sucht, belegt Christens Text.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der vorliegende Sammelband, angesiedelt im Nationalen Forschungsschwerpunkt der Schweiz mit dem Titel Medienwandel- Medienwechsel-Medienwissen. Historische Perspektiven die Reflexion über das Verhältnis von Zeit und Medium bereichert. Ein Ende dieser Reflexion ist nicht absehbar, auch und gerade wegen der kulturellen und technischen Dynamik der Medienentwicklung selbst.
Links:
Über das BuchChristian Kiening, Aleksandra Prica, Benno Wirz (Hrsg.): Wiederkehr und Verheißung. Dynamiken der Medialität in der Zeitlichkeit. Zürich [Chronos Verlag] 2011, 271 Seiten, 28,- Euro.Empfohlene ZitierweiseChristian Kiening, Aleksandra Prica, Benno Wirz (Hrsg.): Wiederkehr und Verheißung. von Tholen, Georg Christoph in rezensionen:kommunikation:medien, 14. Mai 2014, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/16352