Rezensiert von Wiebke Loosen


Der theoretische Teil setzt sich aus insgesamt drei Kapiteln zusammen: Im ersten nimmt Annette Siemes eine konstruktivistisch-systemtheoretische Einordnung von Kommunikation und Medienkommunikation vor, welche sie als “Grundperspektive” (9) ihrer Arbeit versteht. Das gut 60 Seiten umfassende zweite Kapitel “Konzepte des Zählens und Messens” fasst schwerpunktmäßig Arbeiten zu kognitiven Grundlagen der Mengenwahrnehmung sowie zu Zahlensystemen und Zahlschriften zusammen. Im dritten Theoriekapitel werden diese Ausführungen schließlich zusammengeführt zu Beschreibungs- und Erklärungsansätzen in Bezug auf Zahlen in Kommunikationen. Hierbei geht es der Verfasserin vor allem darum zu verdeutlichen, dass Zahlen in Kommunikationen nicht gleichgesetzt werden können mit Zahlen im mathematischen Sinn. Vielmehr kämen ihnen durch ihre Anwendungen im Kommunikationsprozess verschiedene kommunikative Funktionen zu, welche sie u. a. über die theoretische Differenzierung des Zahlkonzepts auf der Ebene der Sprache verdeutlicht (111ff.).
Für die bis zu dieser Stelle über 140 Seiten brauchen Leser und Leserin einen langen Atem und die Bereitschaft, sich in bisweilen kommunikationswissenschaftlich verhältnismäßig ferne Bereiche einzudenken. Zwar ist es durchaus nachvollziehbar, dass ein in der Kommunikationswissenschaft derart wenig beackertes Thema einen entsprechenden theoretischen Vorlauf, viele Quellen und Bezüge braucht. Dies scheint über weite Strecken insbesondere aber auch dem Tribut an die Textform Dissertation geschuldet: Der vorliegenden Veröffentlichung hätte es sicher gutgetan, diese Passagen etwas kompakter zu gestalten.
Mit Kapitel 4 kommt Annette Siemes schließlich zur Konzeption ihrer Untersuchung. Sehr transparent macht sie hierbei die Spezifika ihrer qualitativ orientierten Grundperspektive (149ff.) und die Vorgehensweise bei der Inhaltsanalyse. Das Untersuchungsmaterial speist sich aus Texten aus dem Nachrichtenmagazin “Der Spiegel” aus dem Jahre 1998. Die Auswahl dieses Titels folgt vor allem praktischen Erwägungen (154f.), das Untersuchungsjahr wurde bewusst als nicht allzu aktuell gewählt, um “eine neutrale Betrachtung zu ermöglichen” (155). Grundlage der Auswertung sind insgesamt 187 Artikel (s. Tab. 1, 162), aus denen wiederum 2.914 Zahlbelege (einzelne Zahlangaben, Tab. 3, 169) extrahiert und analysiert wurden.
Für die Ergebnisdarstellung nährt sich die Verfasserin der “Welt der Zahlen” (167) in einem ersten quantifizierenden Analyseschritt über die Strukturierung verschiedener “Wirklichkeitsbereiche” (Kapitel 5). Auf der Suche nach Regelmäßigkeiten und Mustern werden hierfür die Bereiche Zeit, Personen, Geld/Wirtschaft, Sonstige Mengen und Raum unterschieden; zu allen werden weitere Untergruppen gebildet. Als besonders relevant für die Medienkommunikation erweist sich hierbei der Bereich Zeit; fast die Hälfte der verwendeten Zahlen in den analysierten Artikeln ist zeitbezogen und bezieht sich zu einem Großteil auf kalendarische Daten und Jahreszahlen (169). Aus diesem für journalistische Medienangebote nicht gerade überraschenden Befund entwickelt die Autorin im weiteren Verlauf der Darstellung u. a. einige sehr luzide Überlegungen zum Konstrukt Aktualität, die durchaus auch anschlussfähig sind an die Journalismusforschung.
Mit dem zweiten Analyseschritt (Kapitel 6) verzichtet Annette Siemes auf Quantifizierung und geht eher explikativ vor, indem sie die verschiedenen Muster der Verwendung von Zahlen in den analysierten “Spiegel”-Artikeln zusammenfassend beschreibt und mit vielen Textbeispielen erläutert. Hierbei arbeitet sie z. B. verschiedene Formen von Relationierungen, als zahlengestützte In-Bezug-Setzungen z. B. durch Prozent- und Anteilsangaben (242ff.), und Zahlen als Teil von Wörtern und Wendungen, z. B. ‘zweite Reihe’, ‘obere Zehntausend’, (253ff.) heraus. Derartige Muster erlauben es, so eine zusammenfassende Deutung der Verfasserin, “bei vergleichsweise geringem Aufwand viel Kontext zu produzieren” (304). Die am Ende dieses Kapitels insgesamt drei vorgestellten – nicht zwingend zahlenspezifischen – “Formen der Funktionalisierung” (verkürzt: Relevanzmarkierung, Anschlussfähigkeit/Anschlussmöglichkeiten, Normalisierung), (267ff.), versteht sie als Synthese der bis zu dieser Stelle gewonnenen Ergebnisse. Etwas verwirrend sind in diesem Teil die Übergänge zwischen der Beschreibung von Mustern, Verfahren, Formen und Funktionen von Zahlen. Im Kern wird hier aber herausgearbeitet, wie, d. h. durch welche Verfahren, aus Zahlen in Medienangeboten funktionalisierte Kommunikationszahlen werden, die als solche Funktionen erfüllen, die über Messen und Zählen hinausgehen.
Insgesamt ist der Ergebnisteil ein gutes Beispiel dafür, wie fruchtbar die Kombination qualitativer und quantitativer (Auswertungs-)Methoden eingesetzt werden kann: Die Darstellung enthält viele aufschlussreiche quantifizierende Befunde und Tabellen (und einige kreative Abbildungen) ebenso wie detaillierte, vertiefende Beispiele. Die Interpretation dieser vielfältigen Befunde ist aufschlussreich, wenn auch teilweise wenig lesefreundlich formuliert und immer wieder mit dem theoretischen Teil verknüpft. Auf diese Weise wird der sehr umfangreiche – und bisweilen etwas zähe Theorieteil – gewinnbringend genutzt. In Fazit und Ausblick entwickelt die Autorin noch interessante Ideen für weiterführende Untersuchungen zum Thema, etwa medien- oder ressortspezifische Vergleiche zum Einsatz von Zahlen.
Annette Siemes hat eine ambitioniere Arbeit mit (zu) viel Liebe zum Detail vorgelegt; für (sehr) einschlägig Interessierte ist sie eine wahre Fundgrube. Allen anderen wird ein selektiver Zugriff nicht gerade leicht gemacht – hierzu trägt auch eine zum Teil unnötig verklausulierte Ausdrucksweise bei.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Wiebke Loosen an der Universität Hamburg