Rezensiert von Hans Mathias Kepplinger
Die Kernthese von Pörksen und Detel lautet: Das Internet hat einen völlig neuen Skandaltyp geschaffen. Charakteristisch hierfür seien vor allem drei Aspekte – die Bedeutung des Internets als Plattform der Kommunikation; der Verlust der Kontrolle der Skandalisierten über die Kommunikation; die räumliche, zeitliche und soziale Entgrenzung der skandalfähigen Geschehnisse: Alles kann jederzeit weltweit zum Skandal werden – das Vergangene und Aktuelle, das Triviale und Private usw. Die Verfasser entwickeln ihre Überlegungen nach einer beispielgesättigten Einleitung, die sie in ihrem Schlusskapitel fortführen, in drei thematisch gegliederten Kapiteln anhand gut dokumentierter und anschaulich beschriebener Fälle. Zunächst behandeln sie das Verhältnis der “neuen Enthüller” und der “alten Medien” u. a. ausführlich anhand der Anprangerung von Bill Clinton durch den Internet-Aktivisten Matt Drudge sowie der Affäre um die Senatsmitarbeiterin Jessica Cutler nach einer irregeleiteten E-Mail mit exakten Daten über ihre Liebhaber.Während weite Teile der amerikanischen Gesellschaft die sexuelle Beziehung von Clinton zu Lewinsky empörend fanden, reagierten die meisten auf die ungewollte Selbstentblößung von Cutler mit Häme und Spott. Ähnlich waren die Reaktionen auf einen hemmungslosen Streit in der U-Bahn von Hongkong, den ein Mitfahrer mit dem Handy gefilmt und ins Internet gestellt hat. Damit stellt sich die Frage, ob es sich bei der öffentlichen Bloßstellung von Menschen, die zum Opfer des Spotts und der Häme anderer werden, wirklich um Skandale im engeren Sinn handelt. Offensichtlich fehlt hier nicht nur die skandaltypische Reaktion auf ein Fehlverhalten – die Empörung über den Frevler und die Forderung nach seiner Bestrafung. An ihre Stelle tritt sogar das Gegenteil, Schadenfreude und Hohngelächter. Ein Drittel des Buches handelt deshalb nicht von Skandalen, sondern von den verheerenden psychischen und sozialen Auswirkungen der reziproken Effekte von Medien – ihren Wirkungen auf die dargestellten Personen und ihr soziales Umfeld. Hierbei handelt es sich im Gegensatz zu den Vermutungen der Autoren keineswegs um ein neues Phänomen. Neu ist nur, dass im Zeitalter des Internet davon immer mehr Menschen betroffen sind, über die die traditionellen Medien in der Vergangenheit nie berichtet hätten.
Ein Teil der Fallbeispiele des Bandes zeichnet die Entwicklung von Skandalen im engeren Sinn nach. Dazu gehören neben der bereits erwähnten Sexaffäre von Bill Clinton die Skandalisierung des Plagiats von Karl-Theodor zu Guttenberg, von Kriegsverbrechen der US-Armee im Irak, der Sexaffären von Tiger Woods und Anthony Weiner sowie der Produktion von Schokoriegeln (KitKat) der Firma Nestlé. Gemeinsam ist den Darstellungen die Perspektive der Autoren: Schuld an dem, was den Angeprangerten in der Öffentlichkeit wiederfährt, sind sie selbst, entweder weil ihre Verfehlung so gravierend ist, dass man das nicht erörtern muss, oder weil sie sich durch ihre ungeschickte Verteidigung selbst in ihre üble Lage gebracht haben. Die Grundlage dieser Sichtweise besteht in der Identifikation der medialen Darstellung mit dem dargestellten Geschehen: Jenseits ihrer Darstellung gibt es keine Realität. Deshalb taucht die Frage, ob das Ausmaß der Skandalisierung der Missstände gerechtfertigt ist, nicht auf. Besonders offensichtlich ist das im Bericht über die fragwürdige Kampagne von Greenpeace gegen Nestlé.
Eine Besonderheit ist der Bericht über die gescheiterte Skandalisierung der angeblich pädophilen Vergangenheit von Daniel Cohn-Bendit, die zu einem publizistischen Konflikt zwischen ähnlich großen Lagern führte. Die Autoren ergreifen hier die Partei des Skandalisierten, indem sie ihn als Opfer des damaligen Zeitgeistes und des heutigen Rechtsradikalismus im Internet präsentieren. Allerdings weichen sie auch hier der entscheidenden Frage nach dem Charakter des skandalisierten Geschehens aus: Muss man Cohn-Bendits neue Interpretation seiner damaligen Äußerungen als geschickte Beschönigung betrachten oder kann man sie als realitätsgerechte Darstellung ansehen?
Pörksen und Detel haben ein informatives und spannendes Buch über die Entwicklung der Anprangerung von Missständen und ihren Auswirkung auf die Angeprangerten vorgelegt. Ihre Thesen zur “Entfesselung” von Skandalen sind jedoch kaum haltbar. Wurde Heinrich Lübke nicht lange vor dem Internet durch Jahrzehnte alte Dokumente skandalisiert, die zudem noch gefälscht waren? Hat Philipp Jenninger, als die Medien über ihn herfielen, nicht jenen Kontrollverlust empfunden, der nach Ansicht der Autoren erst durch das Internet aufgetreten ist? Handelte es sich bei dem Foto von Friedrich Ebert in Badehose, das einen nationalen Skandal ausgelöst hat, nicht um eine private Trivialität, die angeblich erst durch das Internet skandalfähig wurde? War der Skandal um Clinton wirklich eine Folge der Publikation im Internet oder der Bereitschaft der meisten amerikanischen Medien, die bis dahin beachteten journalistischen Regeln zu brechen und das, was sie sie vorher aus guten Gründen nicht publiziert haben, groß aufzumachen? Können Aktivitäten im Internet überhaupt Missstände eigenständig skandalisieren, d. h. eine Empörung hervorrufen, die Konsequenzen erfordert? Welches Wirkungspotential besitzen einigen hunderttausend Internetklicks im Vergleich zu BILD und Tagesschau, die rund 10 Millionen Menschen erreichen – und das täglich über Wochen und Monate?
Das Internet hat die Zunahme der Skandalhäufigkeit beschleunigt. Begonnen hat diese Entwicklung aber aus ganz anderen Gründen, lange bevor es das Internet gab – in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Heute setzen sich auch traditionelle Medien über Regeln hinweg, die sie vor der Etablierung des Internets beachtet haben. Aber auch das ist weniger eine Folge des Internets als des Kampfs um Aufmerksamkeit angesichts schwindender Reichweiten, Verkaufserlöse und Werbeeinnahmen. Das Internet ist zu einem auch bei Journalisten beliebten Sündenbock geworden, der nicht nur für die zunehmende Skandalisierung verantwortlich gemacht wird, sondern auch für die um sich greifende Verletzung von journalistischen Berufsnormen selbst in den Qualitätsmedien. Dieser Mystifikation des Internets als Quelle aller Übel der modernen Mediengesellschaft erliegen über weite Strecken auch Pörksen und Detel. Das ist zwar unterhaltsam, trägt aber wenig zur wissenschaftlichen Klärung bei.
Links:
Über das BuchBernhard Pörksen, Hanne Detel: Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2012, 248 Seiten, 19,80 Euro.Empfohlene ZitierweiseBernhard Pörksen, Hanne Detel: Der entfesselte Skandal. von Kepplinger, Hans Mathias in rezensionen:kommunikation:medien, 3. Januar 2014, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/15304