Rezensiert von Wolfgang Schweiger
Soeben blättert der Rezensent die aktuelle UVK-Verlagszeitschrift durch – und was sieht er? Unter der Rubrik “UVK – Die Besten” steht im Bereich “Kommunikationswissenschaft” das zu besprechende Buch auf Platz 3. Zwar erfährt man nichts über das Zustandekommen dieses Rankings. Dass Hermann Meyns Klassiker “Massenmedien in Deutschland” auf Platz 1 steht, legt die Messlatte aber fraglos hoch. Vermutlich wird ein Band über ein neues Phänomen wie das Social Web, das sich wie alle Online-Entwicklungen mit immenser Dynamik entwickelt, nicht zu einem ‘Longrunner’ wie die “Massenmedien”, dennoch ist an dem Vergleich etwas dran.Denn Schmidt bringt – dem Journalisten und früheren DJV-Vorsitzenden Meyn ähnlich – eine wesentliche Voraussetzung für einen solchen Band mit: Er ist nicht nur Kommunikationswissenschaftler und gelernter Soziologe, sondern selbst aktiv im Social Web. Seit Jahren führt er den Blog “schmidtmitdete.de“, wo er sich selbst ironisch als “hard bloggin’ scientist” bezeichnet. Entsprechend beginnt das Fazit des Buches zunächst im Twitter-Stil (maximal 140 Zeichen pro Spiegelstrich). Und natürlich gibt es auch einen Blog zum Buch: www.dasneuenetz.de. Dort findet man neben persönlichen Bemerkungen und einer so genannten Urlographie mit allen Links auch Rezensionen und Leserreaktionen. Und wie es in der wissenschaftlichen Community so ist, halten sich die Leser weitgehend mit Reaktionen zurück. An dieser Kultur des “Lieber-Nicht-Diskurses” jenseits lebenslaufrelevanter Publikationen und jenseits der Biertische an langen Tagungsabenden ändert auch ein Blog als neuer Medienkanal nur wenig.
Damit bin ich beim Inhalt des Buches angelangt, denn genau dies ist eine der zentralen Aussagen: Nicht technische Eigenschaften allein entscheiden darüber, welche Praktiken sich im Umgang mit neuen Medien herausbilden, sondern auch soziale und wirtschaftliche Beziehungen und Verwendungsregeln (47ff.). Nun ist diese Erkenntnis nicht neu – seit vielen Jahren schütteln Sozialwissenschaftler den Kopf über den so genannten Technikdeterminismus, d.h. die naive Annahme mancher Technikentwickler und Ökonomen, neue Techniken würden automatisch neue Nutzerbedürfnisse erzeugen und eine erhöhte Nachfrage hervorrufen. Dennoch ist es immer wieder wichtig, auf die Verschränkungen zwischen technischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen und individuellen Gewohnheiten hinzuweisen und diese anhand konkreter Medienbeispiele zu illustrieren. Dies tut das Buch auf vorbildliche Weise.
Ein weiteres Plus: Als halbwegs Internet-sattelfester Leser – als Einstieg in die Materie setzt der Band zu viel voraus – bekommt man einen lesbaren und kurzweiligen Überblick über Techniken, Angebote, Nutzungsroutinen, soziale Zusammenhänge und aktuelle Debatten im und über das Social Web. Apropos Social Web: Während im Untertitel des Bandes vom “Web 2.0” die Rede ist (eine Verlagsentscheidung?), entledigt sich Schmidt nach einem kurzen geschichtlichen Abriss recht früh (21) dieses Marketing-Terminus, der obendrein eine Revolution suggeriert – von Version 1.0 zu 2.0 –, die es so nicht gibt. Stattdessen spricht er nur noch vom Social Web.
So informativ, kurzweilig und kompetent das Buch insgesamt ist, aus wissenschaftlich-akademischer Sicht überzeugt es nur teilweise: Schmidt entwickelt in Kapitel drei einen durchaus überzeugenden theoretischen Rahmen zur allgemeinen “Analyse von Nutzungspraktiken”. Dieser besagt im Kern, dass sich längerfristige Nutzungspraktiken aus sich wiederholenden Episoden herausbilden, die sich wiederum vom spezifischen Code einer Medienanwendung, den technischen und sozialen Relationen und dauerhaften Verwendungsregeln dieses Mediums ergeben. Der Autor spricht in Anlehnung an Goffman und – diesem folgend – Höflich von einer Rahmung. Ähnliche Ansätze haben auch Hasebrink und der Rezensent vorgelegt. Das Modell wird in diesem Kapitel überzeugend erläutert und durchdekliniert und findet damit sicherlich Beachtung im Fach. Gut gefällt mir auch die Systematik des nachfolgenden Kapitels vier, wo sämtliche Social-Web-Praktiken auf drei zentrale Handlungskomponenten bzw. Funktionen zurückgeführt werden: Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagement. Allerdings sollte man diese Liste um ein Unterhaltungsmanagement ergänzen – und ist damit wieder in der klassischen Motiveinteilung des Uses-and-Gratifications-Ansatzes.
Leider werden die beiden genannten Systematiken kaum miteinander verknüpft; man könnte zum Beispiel die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den drei Handlungskomponenten hinsichtlich der Entstehung von Nutzungspraktiken diskutieren. Vor allem aber – und das ist meine einzige gravierende Kritik an dem Band – greift Schmidt die Ideen des ‘Theorieteils’ in den nachfolgenden Kapiteln nur noch sporadisch und ein wenig lustlos in den jeweiligen Fazits auf. Zur Gliederung – oder besser: Rahmung – der weiteren Darstellung dienen sie nicht. So wirken die drei letzten Kapitel, in denen es um Phänomene persönlicher Öffentlichkeiten und der Privatsphäre im Social Web geht (Kapitel fünf), um die “Erweiterung professionell hergestellter Öffentlichkeiten” (fokussiert auf Journalismus und politische Kommunikation; Kapitel sechs) und um den “Umgang mit Informationen und Wissen” (am Beispiel von Social Tagging und Wikipedia; Kapitel sieben), etwas beliebig zusammengestellt. Um nicht falsch verstanden zu werden: Auch hier trägt Schmidt eine Fülle eigener und fremder empirischer Befunde zusammen, diskutiert sie kompetent und zeichnet so ein durchgehend plastisches Bild des jeweiligen Themengebiets.
Fazit: Schmidt ist einer der wenigen Soziologen bzw. Kommunikationswissenschaftler, die das Social Web nicht nur vollständig kennen, verstehen und mit Begeisterung nutzen, er analysiert es auch nüchtern und weitgehend objektiv. “Das neue Netz” ist gegenwärtig sicherlich die beste Publikation zum derzeitigen Modethema, auch wenn das Buch eher deskriptiv und erklärend geraten ist. Aus wissenschaftlicher Sicht steht zu hoffen, dass Schmidt sein Potenzial nutzt und bald einen in sich schlüssigeren theoretisch-empirischen Buchbeitrag vorlegt – zuzutrauen ist es ihm.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Weblog zum Buch
- Webpräsenz von Jan Schmidt am Hans-Bredow-Institut
- Persönliches Weblog von Jan Schmidt
- Webpräsenz von Wolfgang Schweiger an der TU Ilmenau
- Persönliche Homepage von Wolfgang Schweiger
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