Rezensiert von Christian Nuernbergk
Das ‘Web 2.0’ steht im Mittelpunkt der Dissertation von Cornelia Jers: In ihrer Arbeit versucht sie die zentrale Frage zu klären, warum Web-2.0-Nutzer in unterschiedlichem Maße aktiv sind. Sowohl die Art der Nutzungsaktivität als auch die Nutzungsintensität differieren stark zwischen den Nutzern sozialer Medien im Internet. Die Dissertation erkundet − basierend auf den Ergebnissen einer Nutzerbefragung − mittels einer sozial-kognitiven Modellierung die Anreize und Bedingungen, die diese Unterschiede erklären könnten. Wesentlich für die Charakterisierung der originellen Studie ist die Differenzierung dreier Aktivitätsstufen in der Web-2.0-Nutzung: Konsumieren, Partizipieren, Produzieren. Diese können als unterschiedlich voraussetzungsvolle Dimensionen von Nutzungsaktivität verstanden werden.Das Werk ist theoretisch in einer Schnittstelle verschiedener Forschungsrichtungen des Uses-and-Gratifications-Ansatzes zu verorten (vgl. 99). Über die klassische Perspektive des Uses-and-Gratifications-Ansatzes hinaus berücksichtigt die Arbeit Erweiterungen aus der sozial-kognitiven Theorie von Bandura (1986). Auf diese Weise wird das Zusammenspiel von Ergebniserwartungen und Wirksamkeitserwartungen der Nutzer zur Erklärung ihrer Web-2.0-Nutzung herangezogen. Bestehende Skalen wie etwa zur Internet-Selbstwirksamkeit von Eastin/LaRose (2000) werden von der Autorin diskutiert und vor dem Hintergrund einer spezifischen Analyse der Motive und Gratifikationen im Web 2.0 angepasst und erweitert. Um Erwartungen und medienbezogene Bedürfnisse nicht allein zu beschreiben, sondern auch deren Ursachen zu ergründen, greift Cornelia Jers zusätzlich in ihrer Arbeit auch das Fünf-Faktoren-Modell aus der Persönlichkeitspsychologie auf. Dieses Modell stellt aus Sicht der Verfasserin ein “grundlegendes und sparsames System” (138) zur Beschreibung von Persönlichkeiten zur Verfügung. Zu den fünf zentralen Faktoren zählen hier Extraversion, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Neurotizismus und die Offenheit für Erfahrungen.
Cornelia Jers prüft alle genannten Ansätze, indem sie theoretische Grundlagen anschaulich beschreibt und daran anknüpfend ihre bisherige empirische Anwendung und Aussagekraft reflektiert. Auf Basis der Analyse des Forschungstands gelangt die Verfasserin in den Grundlagenkapiteln jeweils zu konkreten Annahmen: Im dritten Kapitel werden Hypothesen zur Erklärung der Web-2.0-Nutzung anhand von Ergebniserwartungen und Selbstwirksamkeitserwartungen vorgelegt. Diese werden im vierten Kapitel um Hypothesen über den Zusammenhang von Persönlichkeit, Web-2.0-Nutzung, Ergebniserwartungen und Selbstwirksamkeit ergänzt. Daraus resultiert ein Gesamtmodell zur Erklärung der Web-2.0-Aktivität hinsichtlich der drei Dimensionen ‘Konsumierende Nutzung’, ‘Partizipierende Nutzung’ und ‘Produzierende Nutzung’. Das komplexe Modell berücksichtigt darüber hinaus auch die allgemeine Internetnutzung (Erfahrung, Aktivität) als Erklärungsfaktor. Zwischen einzelnen psychologischen und motivationalen Erklärungsfaktoren werden überdies ebenfalls Zusammenhänge angenommen, so dass indirekte und direkte Auswirkungen auf die Aktivität im Web 2.0 und die einzelnen Nutzungsdimensionen gemessen werden können.
Die vorgenommenen Analysen sind mit Blick auf das erklärte Ziel, ein sozial-kognitives Modell der Web-2.0-Aktivität zu entwickeln, kohärent und einleuchtend. Da insbesondere im zweiten Kapitel manche Ausführungen recht knapp geraten sind, eignet sich das Werk eher weniger als umfassende Übersicht über den Forschungsstand zu den vielfältigen Diensten des Web 2.0. Nach einer Begriffsanalyse und Abgrenzung der ‘Medieninnovation Web 2.0’ werden die einzelnen Anwendungen (Blogs, Wikis, Soziale Netzwerkplattformen, Bilder- und Videoplattformen und Diskussionsforen) in Kurzform vorgestellt. Dabei wird im Wesentlichen auf Einführungsliteratur zum ‘Social Web’ zurückgegriffen. Spezifische Studien folgen allerdings in den Abschnitten, in denen der Forschungsstand zu den Motiven und der Nutzung im Web 2.0 im Zusammenhang mit dem Uses-and-Gratifications-Ansatz ergebnisorientiert vorgestellt wird. Insgesamt wird somit eine eher enge Perspektive auf das Thema gewählt, die jedoch stringent und in der Leserführung klar erfolgt.
Die Differenzierung von partizipierender und produzierender Nutzungsaktivität, die konsequent im Band angewandt wird, wirft nicht nur begriffliche Fragen auf. Leichte Zweifel an dieser Unterteilung lässt auch die Autorin selbst erkennen (im Fazit, vgl. 385), da sich in der von ihr durchgeführten empirischen Studie im Ergebnis eine große Nähe zwischen beiden Konstrukten zeigt. Die rein partizipierende Nutzung zeichnet sich im Unterschied zur produzierenden Nutzung dadurch aus, dass Beiträge anderer Nutzer zwar kommentiert und bewertet werden, die partizipierenden Nutzer selbst aber keine originären Beiträge verfassen (vgl. 86). Allerdings wird schon eine Kontaktaufnahme (“Ich füge andere Mitglieder als Kontakt/Freund hinzu”) in dieser Analyse als eine partizipierende Nutzungsform gewertet (vgl. 179). Hier stellt sich die Frage, ob dies nicht generell als Voraussetzung auch einer konsumierenden Nutzung von sozialen Netzwerkplattformen gelten kann. Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, dass lediglich 19 Prozent der Befragten über alle einzelnen Dienste hinweg als rein konsumierende Nutzer beschrieben werden konnten. 54 Prozent der befragten Personen im Online-Access-Panel treten dagegen als produzierende Nutzer auf (vgl. 265). Insgesamt liegt der Anteil partizipierender bzw. produzierender Nutzer unter den Befragten mit 72 Prozent auffallend hoch. Dies könnte nicht nur auf die Panelzusammensetzung (vgl. 267), sondern auch auf die hier verwendete Skala zur Abfrage der Aktivität zurückzuführen sein.
Die Arbeit zeichnet sich insgesamt durch einen anspruchsvollen und reflektierten Methodeneinsatz aus. Im Zuge der Skalenentwicklung und -überprüfung sowie der empirischen Modellanwendung geraten zahlreiche Auswertungsoptionen in den Fokus (konfirmatorische Faktorenanalyse, Pfadanalysen, Strukturgleichungsmodelle). Die Befunde werden immer wieder auch graphisch ansprechend modelliert. Besonders gut gelungen sind die Anschlussüberlegungen der Autorin, in denen sie viele Anknüpfungsmöglichkeiten zu ihren Forschungsergebnissen hervorhebt. Es ist zu erwarten, dass ihre Befunde sowohl zur Erklärung der Aktivität im Web 2.0 als auch zur Überprüfung der Persönlichkeitsmerkmale in der weiteren Forschung zu Social Media Anklang finden werden.
Literatur:
- Bandura, A.: Social Foundations of Thought and Action. A Social Cognitive Theory. Englewood Cliffs, New Jersey [Prentice-Hall] 1986.
- Eastin, M. S.; R. LaRose: Internet Self-Efficacy and the Psychology of the Digital Divide. In: Journal of Computer Mediated Communication, 6, 2000, o. S.
Links:
Über das BuchCornelia Jers: Konsumieren, Partizipieren und Produzieren im Web 2.0. Ein sozial-kognitives Modell zur Erklärung der Nutzungsaktivität. Köln [Herbert von Halem] 2012, 424 Seiten, 34,50 Euro.Empfohlene ZitierweiseCornelia Jers: Konsumieren, Partizipieren und Produzieren im Web 2.0. von Nuernbergk, Christian in rezensionen:kommunikation:medien, 1. August 2013, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/13849