Jessica Nitsche: Walter Benjamins Gebrauch der Fotografie

Einzelrezension
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Rezensiert von Bernd Kiefer

Walter Benjamins Gebrauch der Fotografie_onlineEinzelrezension
“Kein anderes Werk dürfte in den letzten Jahrzehnten so tiefgreifenden Einfluß auf die ästhetische Reflexion gehabt haben wie dasjenige Walter Benjamins” (Palmier 2009: 17). Mit dieser Feststellung leitet der französische Kunsthistoriker Jean-Michel Palmier seine im Original 2006 erschienene monumentale Studie über Benjamin ein. Der längst globalen Rezeption Benjamins und der längst auch schon unübersichtlich gewordenen Vielzahl von Einzelstudien zu einer Vielzahl von Aspekten seines Denkens zum Trotz, wollte Palmier eine konsistente Deutung Benjamins als eines Modernisten vorlegen. Noch jeder Nuance sollte dabei ihr Ort zugewiesen werden, und so wuchs Palmiers Studie immer weiter an.

Monumental ist sie, obgleich sie Fragment blieb, da Palmier vor dem Abschluss der Arbeit 1998 verstarb, monumental und unabgeschlossen wie Benjamins Werk selbst. Ein großes Gesamtbild hat seither niemand mehr vorgelegt. Dem tiefgreifenden Einfluss Benjamins auf die ästhetische Reflexion, auf Kultur- und Kunsttheorie, wird mehr denn je durch die kritische Rekonstruktion einzelner Aspekte seines Werkes nachgegangen, wobei vor allem der Medienästhetiker Benjamin erneut an Bedeutung gewinnt (vgl. Benjamin 2002).

Die Ausführungen Benjamins zur Fotografie, wesentlich also den Text Kleine Geschichte der Photographie (1931), stellte Palmier noch in den großen Kontext einer materialistischen Ästhetik des modernen Kunstwerks. Wenn Jessica Nitsches 2009 abgeschlossene Frankfurter Dissertation von Benjamins Gebrauch der Fotografie handelt, dann geht es ihr nicht um den Theorie-Einsatz der Fotografie auf dem Weg zu einer Ästhetik der Moderne, obgleich sie mit der Geschichte der Fotografie so vertraut ist wie mit der Geschichte ihrer Theorie. “Die Fotografie wird in dieser Studie als Medium vorgestellt, das für Walter Benjamins Schreiben von grundlegender Bedeutung war” (11). Fotografie wird verstanden als “Gegenstand und Impuls der schriftstellerischen Praxis und als epistemologische Metapher” (12). Damit trägt die Verfasserin der Tatsache Rechnung, dass Benjamin einer der ersten Denker des 20. Jahrhunderts war, der sich bewusst im Zeitalter der Fotografie, des Films und des Radios situierte. Spätestens seit der Einbahnstrasse (1928) und bis in seine letzten Texte zur Passagen-Arbeit hinein finden sich Reflexionen darüber, wie das Schreiben, ja wie das Denken der Gegenwart und sogar die Geschichtsphilosophie sich auszurichten haben an einer medial verfassten Wirklichkeit. Das Denken in schnell aufblitzenden Bildern, das Benjamin zur Armatur der Erkenntnis machte, ist seinerseits undenkbar ohne Rekurs auf die Medien Fotografie und Film.

Diesem Denkweg folgt für die Fotografie die Studie der Verfasserin in drei Schritten. Sie rekonstruiert zunächst “Benjamins Arbeit an der Fotografie” (27f.), also seine Auseinandersetzung mit Fotografien, als eine besondere Form der Lektüre von technischen Bildern. Hier geht die Verfasserin mit Sigrid Weigel davon aus, dass nicht nur Benjamins Lektüre von Fotografien (etwa von Atgets Paris-Bildern bis zu August Sanders Porträts) an diesen Fotos Spuren einer Geschichte der Wahrnehmung aufweisen kann, sondern dass diese Lektüren selbst, weil sie im von Benjamin diagnostizierten Augenblick einer Krise der Wahrnehmung erfolgen, dem Verfall/Verlust der Aura, heute ihrerseits Zäsuren in der Kulturgeschichte der Wahrnehmung markieren (vgl. 43). “Benjamin hat die Fotografien als Bilder wahrgenommen, über die geschrieben wurde, zugleich hat er selbst sie beschrieben, über sie geschrieben, sie überschrieben” (146). Benjamins Arbeit an der Fotografie ist also zunächst eine, in der sich das Lesen von Bildern und das Schreiben über sie in einer Situation wissen, in der Sprache, Schrift und Bild in eine neue mediale Relation treten (müssen). Dass Benjamin dabei Fotografien, deren Betrachten bei ihm zum Auslösen von Erinnerungsprozessen führt, im Schreiben über sie gleichsam re-auratisiert, ist eine wichtige Einsicht der Verfasserin (vgl. 150).

Im zweiten Schritt folgt die Verfasserin dem Weg “(v)on der Fotografie zum Fotografischen” (151f.). Mit dem Fotografischen ist die besondere “Qualität des fotografischen Bildes” (177) gemeint, seine Fähigkeit, Indizien, Beweisstücke und Spuren zu sammeln, “ein Wissen, das der Betrachter nur erahnen kann” (177). Für Benjamin ist es das Fotografische, das aus Fotografien “Dokumente einer historischen Situation” (177) macht. Sie zu entziffern, sie zu lesen, dies führt für ihn zu einer neuen “Wahrnehmung der Wirklichkeit in ihrer fotografischen Abbildbarkeit” (192).

Das hat erhebliche Konsequenzen für Benjamins Schreibweise. “Benjamins fotografische(n) Schreibweisen” (215) folgt die Verfasserin dann im dritten Schritt. Es hat vor allem Konsequenzen für die autobiografische Schreibweise in der Berliner Kindheit um neunzehnhundert, in der das Schreiben auch ausgeht von Erinnerungsspuren, die das Betrachten von Fotografien auslöst, auch das einer Fotografie, die Benjamin und seinen Bruder als Kinder zeigt. Detailgenau weist die Verfasserin an Benjamins Text zu dieser Fotografie nach, wie der Autor “versucht, sich Erinnerungsspuren zu nähern, ohne sie verschwinden zu lassen”, wie er das Fotografische in seinen Text überführt: Der Text “entwickelt sich zu einem Medium der Erinnerungsspuren” (235). Natürlich liegt hier der Vergleich Benjamins mit Marcel Proust nahe, den Benjamin bewunderte und übersetzte. Für beide gilt “die große und nicht selten unterschätzte Bedeutung der Fotografie für deren literarisches Schaffen” (243).

Was der Fotograf Brassai in seiner bewundernswerten Studie Proust und die Liebe zur Photographie (Brassai 2001) zeigte, wie tief nämlich die Fotografie dessen Werk prägt, das gelingt Jessica Nitsche in der Analyse von Benjamins Texten der Berliner Kindheit. In ihr “ist der deutliche Einfluss optischer Medien auf die Textgestaltung zu beobachten” (260). Die Fotografie wird zum “Modell für die Darstellung von Wahrnehmungsprozessen” (260). Von den fotografischen Erinnerungsbildern der Berliner Kindheit führt der Weg abschließend zu den Geschichtsbildern von Benjamins Passagen-Arbeit, seiner groß konzipierten Geschichtsphilosophie der Moderne am Beispiel von Paris im 19. Jahrhundert. Wo immer Benjamin hier seine Erkenntnistheorie beschreibt, bedient er sich “Bildern der Optik” (321), ob es nun die Stereoskopie ist, die Teleskopie oder die Kaleidoskopie – Erkenntnistheorie und Medientheorie gehen als letzte Konsequenz eines höchst produktiven Gebrauchs der Fotografie ineinander über. Anders formuliert: Benjamins Fragment gebliebene intendierte Theorie der Moderne – und es ist das Verdienst der Arbeit von Jessica Nitsche, dies en détail aufgewiesen zu haben – ist eine mediale, eine fotografische Theorie.

Literatur:

  • Benjamin, W.: Medienästhetische Schriften. Mit einem Nachwort von Detlev Schöttker. Frankfurt am Main [Suhrkamp] 2002.
  • Brassai: Proust und die Liebe zur Photographie. Frankfurt am Main [Suhrkamp] 2001.
  • Palmier, J.-M.: Walter Benjamin. Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin. Berlin [Suhrkamp] 2009.

Links:

Über das BuchJessica Nitsche: Walter Benjamins Gebrauch der Fotografie. Berlin [Kadmos] 2011, 371 Seiten, 39,80 Euro.Empfohlene ZitierweiseJessica Nitsche: Walter Benjamins Gebrauch der Fotografie. von Kiefer, Bernd in rezensionen:kommunikation:medien, 28. Juli 2013, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/13738
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