Karl Bühler: Sprachtheorie

Klassiker
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Karl Bühler (1879-1963) stammte aus Meckesheim bei Heidelberg. Nach dem Abitur studierte er in Freiburg Medizin und im Anschluss daran Philosophie in Straßburg. Als Assistent von Oswald Külpe arbeitete er im Kreise seiner Würzburger Kollegen an seiner Habilitationsschrift, die unter dem Titel Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge (Bühler 1907/08) publiziert worden ist. Bühler folgte Külpe an die Universitäten Bonn und München, wo sie experimentalpsychologische Laboratorien aufbauten. 1918 erhielt Karl Bühler an der TU Dresden seinen ersten eigenen Lehrstuhl und 1922 folgte er dem Ruf an die Universität Wien, wo er im Laufe der folgenden sechzehn Jahre gemeinsam mit seiner Frau Charlotte Bühler und zahlreichen äußerst begabten Mitarbeitern und Schülern, zu denen u. a. Egon Brunswik, Paul Lazarsfeld, Bruno Bettelheim, Marie Jahoda, Rudolf Ekstein, Karl Popper, Konrad Lorenz, Hildegard Hetzer usw. zählten, die Wiener Psychologische Schule aufbaute. 1938 wurde Karl Bühler von der Gestapo verhaftet und kurze Zeit später aus seinem Amt entlassen. Gemeinsam mit seiner Tochter Ingeborg verließ er Wien und verbrachte die folgenden fünfundzwanzig Jahre im amerikanischen Exil. Der außerordentliche Erfolg, den Karl Bühler bis zum Beginn der Naziherrschaft mit seinen zahlreichen Publikationen in den deutschsprachigen Ländern erzielt hatte, flaute jäh ab, wofür nicht nur die Tatsache verantwortlich zu machen ist, dass beispielsweise in Amerika deutschsprachige Literatur nicht zur Kenntnis genommen wird. Es ist allerdings auch nicht zu bestreiten, dass sich Karl Bühler seit seiner Habilitation mehrfach in Opposition zu den herrschenden Paradigmen befand. Und wenn man dem Denkstil eines Denkkollektivs widerspricht, so ist das selten karriereförderlich.

Nach Jahrzehnten des Vergessens und Verschweigens, in denen Bühler nicht einmal in einschlägigen Fachbüchern Erwähnung fand, änderte sich die Lage gegen Ende der sechziger Jahre allmählich, als sich in verschiedenen und dennoch miteinander vernetzten Disziplinen dramatische wissenschaftliche Revolutionen ereigneten: Noam Chomskys Skinner-Rezension räumte mit dem sprachwissenschaftlichen Behaviorismus auf; Ludwig Wittgenstein, Bruno Liebrucks, Richard Rorty u. a. entwickelten unter der Parole eines linguistic turn eine Philosophie von der Sprache her; Norbert Wiener hatte bahnbrechende kybernetische Studien vorgestellt und in Paris fand in einem breit aufgestellten interdisziplinären Forscherkreis die erste Semiotikkonferenz statt. Es ist äußerst bemerkenswert, dass Karl Bühler zu all diesen grundstürzenden Veränderungen die entscheidenden Impulse verliehen hatte, auch wenn dies anfänglich nur einer relativ kleinen Gruppe polyglotter Spezialisten vertraut war. Dies änderte sich allmählich, als im Gefolge der Bühler-Studien und der Bühler-Konferenzen in Kirchberg und Essen am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik dank der Weitsicht und Großzügigkeit der beiden Direktoren Willem Levelt und Wolfgang Klein das Bühler-Editions-Projekt (BEP) unter meiner Leitung in Gang gesetzt werden konnte. Nach und nach wurden jetzt auch Übersetzungen von Bühlers Sprachtheorie angefertigt, was ca. 250 neuere und neuste Publikationen nach sich zog, die das Verzeichnis der Sekundärliteratur von Karl Bühlers Schriften zur Sprachtheorie (Bühler 2012) auflistet.

Karl Bühlers Meisterwerk, seine Sprachtheorie, ist 1934 mit einiger Verzögerung erstmalig erschienen und seitdem in Deutschland in Taschenbuchausgaben bei Ullstein und in der UTB-Reihe neu aufgelegt worden. Bühler hat zumindest Teile dieses Werkes bereits während seiner amerikanischen Gastprofessuren 1927/28 an den Universitäten Stanford, Johns Hopkins, Harvard und Chicago benutzt, was den class notes zu entnehmen ist, die im BEP vorliegen. Bühler selbst betont (vgl. Bühler 1934:1) dass die Sprachtheorie auf seine fünfundzwanzigjährige Auseinandersetzung mit der Sprachproblematik zurückginge, wobei er sich einen nahezu vollständigen (sic !) Überblick über die einschlägige Fachliteratur verschafft habe, was der heutige Leser dieses Klassikers mit laut vernehmlichen Stöhnen bestätigen wird (und der Co-Übersetzer der englischen Ausgabe dieses Werkes ebenso, dem kaum jemals ein dichterer Text zur Übersetzung vorgekommen ist).

Schriften zur SprachtheorieKlassiker
Die 450 Seiten umfassende Sprachtheorie mit all ihren Details vorstellen zu wollen, würde wahrscheinlich mehr als 450 Seiten verlangen und damit die Aufgabe einer Klassiker–Präsentation völlig verfehlen. Die Sprachtheorie stattdessen auf einen – zugegebenermaßen großartigen – Gedanken herunterzukochen, hat Ivἀn Fonἀgy bereits 1984 in seinem Beitrag zu den Bühler-Studien ganz zu Recht zurückgewiesen. Konsequenterweise bleibt nur der auch von Bühler favorisierte Mittelweg, den er im Prinzipienkapitel seiner Sprachtheorie vorzeichnet, die wichtigsten Problemfelder zu skizzieren, die in Zukunft bearbeitet werden sollen.

Semiotik als universitäre Disziplin oder auch nur als einigermaßen gefestigte Theorie hat es 1934, als die Sprachtheorie erstmalig erschien, kaum in Ansätzen gegeben. Bühler hatte zwar das Glück, über seine Zugehörigkeit zur Würzburger Schule mit Franz Clemens Brentano, Edmund Husserl, Otto Selz, Alexius Meinong vertraut gemacht zu werden und es wird ihm kaum die von seinem Mentor Külpe betraute Doktorarbeit Grundzüge einer Psychologie des Zeichens von Richard Gätschenberger entgangen sein; was er aber von Peirce, Welby und de Saussure kannte, bleibt vorläufig mangels einschlägiger Dokumente unklar. Bühler hat allerdings bereits in seiner Straßburger Dissertation aus den gleichen Quellen geschöpft wie Charles S. Peirce, insofern beide sich auf die schottische Schule berufen haben, wenn es um die Abduktion, Erweiterungsurteile und die Konstitution des Zeichenbegriffs ging.

Eine direkte Bezugnahme Bühlers auf die Signifik Viktoria Lady Welbys ist im BEP aktuell nicht nachweisbar, obwohl Bühler mit Michel Bréals Sémantique vertraut war. Die enge Zusammenarbeit Bühlers mit seinem Mentor Külpe dürfte es allerdings ausschließen, dass Karl Bühler nichts davon erfahren hat, dass Külpe Mitglied der Jury des Lady Welby Prize Essays war, wofür schließlich Ferdinand Tönnies ausgezeichnet wurde.

Schon auf den Anfangsseiten seiner Sprachtheorie verdeutlicht Bühler, dass er mit den Überlegungen der Leipziger Junggrammatiker bestens vertraut war. Das schließt natürlich auch die Kenntnis der völlig unterschätzten Abschlußarbeit Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-européennes (Saussure 1879/1968) de Saussures ein, die Bühlers Bemerkungen im Prinzipienkapitel verständlich werden läßt:

„Seine Vorlesungen die posthum zu einem Buch abgerundet wurden, müssen wohl wie Führungen durch die halbfertigen Entwürfe eines noch ringenden Gestalters großen Formates gewesen sein. Ich bin überzeugt, daß wir erst am Anfang der historischen Auswirkung des de Saussureschen Werkes seiner Skizzen zum Thema der Sprachtheorie stehen. Mir wenigstens geht es so, daß ich jedesmal ein neues Blatt entdecke, wenn ich die Dinge noch einmal durchsehe. Schade fast, daß man kritisieren muß“ (Bühler 1934:7).

Bühler_StudienKlassiker
Bühler hat mit untrüglichem Gespür und Jahrzehnte vor den bahnbrechenden Studien Rudolf Englers, Tullio de Mauros, Robert Godels, Johannes Fehrs und vor allem Ludwig Jägers bemerkt, dass an der de Saussure zugeschriebenen Zeichendyade von Signifiant und Signifié etwas Grundsätzliches nicht stimmen konnte, weshalb er die alte scholastische Merkformel signum est quod stat pro aliquo einer neuen kritischen Musterung unterzog. Wenn Bühler das “stare pro” genauer analysiert, dann ist es wie so oft bei Bühler dringend angeraten, sorgfältig auf seinen Wortlaut achtzugeben.

Das von Bühler gewählte Verfahren der kongenialen Lektüre führt ihn geradewegs aus der dualistischen Substitutionstheorie heraus und hin zu einer sematologischen Betrachtungsweise, die er erstaunlicher Weise aus den Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft von F. de Saussure herauszudestillieren versteht:

“Er ordnet weit mehr der Zweiseitigkeitsthese unter als man zunächst vermuten sollte, kennt nicht weniger als vier Erscheinungsformen des unaufhebbaren Janusgesichtes der sprachlichen Erscheinungen: Greif die Silbe auf und du wirst erfahren, daß sie als akustische und als motorische Einheit zugleich bestimmt werden muß. Du kommst analytisch auf tieferer Stufe zum Laut und mußt erkennen, er ‘existiert nicht für sich selbst‘ (sc. So wie du ihn erfassen mußt.), sondern bildet seinerseits mit der Vorstellung eine zusammengesetzte Einheit die physiologisch und geistig (mental = psychisch) ist. Du betrachtest die Rede als Ganzes und findest eine individuelle und eine soziale Seite an ihr. Und schließlich ist die Sprache in jedem Zeitpunkt ‘eine gegenwärtige Institution’, als solche ein ‘feststehendes System‘ und doch auch ein Produkt der Vergangenheit, ‘eine Entwicklung‘. Was folgt daraus? Immer wieder, so sagt de Saussure, stehe der Sprachforscher vor demselben Dilemma: entweder verfällt er der Einseitigkeit oder greift in dem Bestreben, das Ergebnis der Zweiblickpunktsbetrachtung doch einheitlich zu fassen, zum Syndetikon. Denn im zweiten Fall erscheint uns der Gegenstand der Sprachwissenschaften als ein wirrer Haufen verschiedenartiger Dinge, die unter sich durch kein Band verknüpft sind. Wenn man so vorgeht, tritt man in das Gebiet mehrerer Wissenschaften ein.” (Bühler 1934:8).

Dasjenige, was Bühler hier aus den sprachwissenschaftlichen Erwägungen F. de Saussures abzuleiten versucht, betrifft den gleichen semiotisch-erkenntnistheoretischen Sachverhalt, mit dem sich Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft herumplagte, als es ihm um die Synthesis von Sinnlichkeit und Verstand ging, und auch Charles Sanders Peirce befaßte sich mit dieser Problematik, als er sich in seinen Pragmatismus-Vorlesungen um den Nachweis bemühte, dass Wahrnehmungsurteile Extremfälle abduktiven Schließens, d. h. Zeichen sind (vgl. Eschbach 1981).

Bühler erläutert diesen semiotisch ausschlaggebenden Sachverhalt folgendermaßen:

“Es ist ein allgemeiner Satz der Sematologie, daß alle Dinge oder Vorgänge in der Welt die wir als Zeichen verwenden, verwendet werden nach dem Prinzip der abstraktiven Relevanz. Wenn man z.B. Signallaternen im Schiffverkehr, Eisenbahndienst, Straßenverkehr einführt, so gelten etwa die Abmachungen: rot -> Gefahr, Weg gesperrt; grün -> keine Gefahr, Weg frei. Selbstverständlich wird jedes Signalding, das ich dann einsetze, jede Laterne, ein Konkretum mit unausschöpfbar vielen Bestimmtheiten wie Gestalt und Größe sein. Aber relevant für den Verkehr und die Verkehrspartner ist nur das Moment rot oder grün oder welches in der Konvention enthalten ist” (Bühler 1934: 224)

und er fährt fort:

“Wir wiederholen das Axiom von der Zeichennatur der Sprache und stellen nocheinmal fest, daß jeder Versuch eine Sematologie (sagen wir kurz) rein physikalistisch aufzubauen, ein Versuch mit untauglichen Mitteln ist und schon bei den einfachsten Tatbeständen des sprachlichen Zeichenverkehrs, wie er sich zwischen Menschen abspielt, scheitern oder wenigstens ins Stocken geraten muß” (ebd. 225).

Dasjenige, was den individuellen Sprechakt überschreitet und an die kollektiven Erfahrungen und Erinnerungen appelliert, hat Bühler in seinem genialen Vierfelderschema zusammengefaßt. In seiner Sprachtheorie hat sich Bühler nicht besonders intensiv mit den überindividuellen apperzeptiven Ergänzungen auseinandergesetzt, was sich allerdings auch insofern erübrigte, als er dies in seiner Sozialpsychologie-Vorlesung bereits erledigt hatte, so dass an dieser Stelle lediglich festzuhalten ist, dass der Weg zur Zeichenkonstitution unvermeidlich über die abstraktive Relevanz und die apperzeptive Ergänzung führt. Ohne im vorliegenden Zusammenhang detaillierter darauf einzugehen, weil dazu eine umfangreiche Untersuchung erforderlich wäre, sei zumindest darauf verwiesen, dass von Kants synthetischen Urteilen über Hegels spekulative Synthesis und Wundts schöpferische Synthese bis zu John Deweys Reflexbogenkonzept allerhand Anregungen und Vorlagen existierten, das Konzept der apperzeptiven Ergänzung dahingehend inhaltlich zu füllen, dass im Sinne einer Übersummativität, d. h. die Summe der Elemente überschreitenden Verknüpfung etwas Neues erschlossen wird, das die Erkenntnisse der Einzelwahrnehmung produktiv überschreitet.
Wenn man sich vor Augen hält, wie akribisch und detailreich Bühler seine großen Monographien wie etwa die Ausdruckstheorie ausgearbeitet hat, kann man sich in etwa eine Vorstellung davon machen, was er mit der folgenden Ankündigung meinte:

“Meinen Vorschlag kennen Sie: Man vergleiche die Sprache mit anderen Darstellungsgeräten. Wären wir soweit und könnten eine allgemeine Zeichenlehre, eine ausgewachsene Sematologie vorlegen, so wäre unser Beitrag geleistet. Eine allgemeine Sematologie – das ist es, was zustande gebracht werden muß und hier werden von allen Seiten die heute noch getrennten Beiträge einmünden” (Bühler TS 90: 4; Hervorhebungen im Original).

Wiener ErbeKlassiker
In seiner Krise der Psychologie (Bühler 1927) stellt Karl Bühler eine Axiomatik vor, die sich in Umfang und Akzentsetzung von derjenigen der Sprachtheorie unterscheidet. Es wird mit einigem Recht die Ansicht verfochten, die Krise sei kommunikationswissenschaftlich ergiebiger als die Sprachtheorie, insofern die wechselseitige Steuerung in einer echten Gemeinschaft und die Eindrucks- vor der Ausdrucksseite der Kommunikation in den Vordergrund gerückt werden, wohingegen die Sprachtheorie verwandte Probleme auf einem wesentlich avancierteren semiotischen Niveau behandelt. Es ist immer wieder behauptet worden, dass die Verfügung über bestimmte Zeichenarten eine Unterscheidung der anthropo- und zoosemiotischen Sphären gestattete (vgl. z. B. Sebeok 1977; Frisch 1965; Hediger 1961; Lorenz 1957 oder Eibl-Eibesfeld 2004), was vielfältige, erstaunliche Grenzphänomene und Übergangsformen wie etwa den Ultraschallverkehr der Bienen, das Trauerverhalten von Elephanten und Hunden oder die Tendenz einiger Vogelarten ihre Nester auszuschmücken, ausdrücklich ein- und nicht etwa ausschließt. Man muss sogar von einem qualitativen Unterschied der nur dem Menschen vorbehaltenen Symbole sprechen, die stoffentbunden, d. h. immateriell, abstrakt und von den symbolisierten Gegenständen und Sachverhalten ablösbar sind, während die sowohl Menschen als auch Tieren verfügbaren Signale und Symptome konkret, stoffgebunden und nicht-ablösbar sind. Dies könnte man leicht vergröbernd als den Kern der Standardtheorie bezeichnen.

Seit den Arbeiten N. Trubetzkoys (1962) und E. Buyssens (1970) über Phonetik und Phonologie und die doppelte Artikulation der Sprache ist eine weiterführende semiotische Betrachtungsweise möglich geworden, die Bühler im vierten Axiom seiner Sprachtheorie als das S – F-System vom Typus Sprache vorstellt. Mit Blick auf die semiotische Entwicklung des Kindes werden wir in allen Sprachen und Kulturen konstatieren, dass am Anfang der noch relativ unartikulierte Laut steht, dem das einzelne Wort (der Einwortsatz) folgt, dem sich die (Mehrwort-) Sätze anschließen. In meiner eigenen semiotischen Axiomatik (vgl. Eschbach 1993) benötige ich zwei Axiome, um den von Bühler gemeinten Sachverhalt vollständig zu erfassen: Das Diakrise- und das Ökonomie-Axiom. Mit dem Diakrise-Axiom wird dem Tatbestand Rechnung getragen, dass ein Zeichen nur diakritisch, d. h. in Abgrenzung von einem anderen Zeichen zu bestimmen ist oder anders ausgedrückt: Wir müssen durch geeignete Grenzziehung oder Elementarisierung das Lautkontinuum gliedern. Das können wir auch noch als Erwachsene lebhaft nachvollziehen, wenn wir eine völlig fremde Sprache hören, bei der wir nicht einmal entscheiden können, ob es sich tatsächlich um eine Sprache oder nur um die Simulation einer Sprache handelt. Bei diesem Elementarisierungsprozeß bezieht Bühler sich auf Überlegungen des Feldtheoretikers Kurt Lewin, der in seiner Verhaltensgleichung fordert, dass die Wechselwirkung individueller und sozialer Faktoren berücksichtigt wird. Dieses bemerkenswerte Phänomen kann man während der geistigen Entwicklung des Kindes verfolgen, wenn eine kurze Zeit lang von einem jeden Kind dieser Welt alle menschenmöglichen Laute fabriziert werden, während nur wenig später ausschließlich die in seiner Muttersprache gebräuchlichen Laute vorkommen, weil nur die verstärkt und positiv sanktioniert werden.

Dieser ersten Semiotisierungsphase, die in jedem Frühjahr erneut belauscht werden kann, wenn z. B. Amseln aus ersten quasi-krächzenden Ansätzen im Wechselgesang mit anderen Amseln und nicht etwa Meisen ihre artspezifischen Melodie entwickeln, muss sich eine zweite Semiotisierungsstufe zugesellen, die Bühler im dritten Kapitel seiner Sprachtheorie unter der Überschrift “Das Symbolfeld der Sprache und die Nennwörter” diskutiert, was ich mit dem an Bronislaw Malinowski orientierten Ökonomie-Axiom erläutern möchte. Wenn man sich ein Zeichensystem vorstellte, das ohne Möglichkeit der Abstrahierung und Klassenbildung verfahren wollte, so hätten wir ein vermeintlich einfaches, in Wirklichkeit aber ungeheuer schwerfälliges System, in dem jeder Dackel Waldi von einem anderen Dackel nur mittels seines Eigennamens unterscheidbar wäre; der Lernaufwand wäre ungeheuerlich, weil dies der semiotischen Reduplikation der Welt gleichkäme, und die Kapazität selbst des besten Gedächtnisses geriete recht bald an ihre Grenzen. Exakt an dieser Stelle kommt das Ökonomie-Axiom zum Tragen und zwar mit einer ebenso einfachen wie effektiven Maßnahme: durch eine durchgängige Grammatikalisierung oder Syntaktisierung der Sprache sind wir Menschen vom Joch befreit, jedes Exemplar einer Art benennen und uns die Nennwörter merken zu müssen; stattdessen müssen wir nur eine Handvoll Grammatikregeln implizit oder explizit lernen und können ein Prinzip anwenden, das Gerold Ungeheuer (1987) das sprachliche Kreativitätsprinzip nennt (vgl. Musolff 1990): ohne eine sprachliche Formulierung in einer ausdrücklichen Lehr/Lernsituation kennengelernt zu haben, können wir sie sowohl bilden als auch verstehen. Dies unterscheidet den menschlichen Symbolverkehr von allen nicht-menschlichen Zeichensystemen.

Karl Bühlers Ausführungen über verschiedene Formen der Deixis gehören zu den großen Errungenschaften seiner Sprachtheorie und weil sich in letzter Zeit die Stimmen wieder deutlich vernehmen lassen, die ein Kontinuum von Sinnlichkeit und Verstand meinen erkennen zu können, die von dem Präsentischen, Performativen sprechen, das sich zeigt, ist es sehr wohl angetan, noch einmal genau nachzulesen, was Bühler über die Zeigzeichen sagt.

Ars SemioticaKlassiker
Zuerst einmal dürfte es völlig unstrittig sein, dass Bühler sämtliche Deiktika als Zeichen betrachtet, womit sich die nachlässige, anthropomorphisierende Rede von den sich zeigenden Zeichen von vorneherein verbietet, weil ein jedes Zeichen als eine seiner Existenzbedingungen einen Interpretant fordert, was allem sich Zeigenden, Präsentischen seinen performativen Impetus raubt. Keine auch nur halbwegs seriöse Semiotik darf daher die Tatsache vernachlässigen, dass immer dann, wenn von Zeichen die Rede ist, ein Prozess der Vermittlung impliziert ist.

Wenn auf der anderen Seite ein geradezu wollüstiges Suhlen in der Sinnlichkeit der Gegenstandswelt beschworen wird, fragt man sich verzweifelt, wie es vierhundert Jahre nach Giordano Bruno und einhundert Jahre nach Peirce immer noch möglich ist, von der Gegebenheit der Objekte zu phantasieren, als spazierten diese Objekte ohne unser Zutun auf direktem Wege in unsere Köpfe. Wenn man sich nicht hinter den großen Semiotikern Bruno, Peirce oder Bühler verstecken will, kann man ja einem zeitgenössischen Interpretationsphilosophen bei der Erklärung lauschen, welche vielfertigen Prozessen der Selektion, Erinnerung, Verdrängung, Verarbeitung usw. der Objektkonstitution (vgl. Ort 1998) angehören, wofür ich bereits vor zwei Jahrzehnten den Terminus ‘Verzeichnung‘ (vgl. Eschbach 1989) eingeführt habe.

Eingedenk dieser Tatsache wäre zu untersuchen, welchen Unterschied Bühler mit der Differenzierung der Demonstratio ad oculos und der Deixis am Phantasma herausarbeiten wollte. Da all unser Wahrnehmen, Denken und Erkennen ein Wahrnehmen, Denken und Erkennen in Zeichen ist, und Bühler selbst in seiner Habilitationsschrift den Nachweis der Anschauungslosigkeit, d. h. der Vermitteltheit unseres Denkens geführt hatte, möchte er sich mit einem Ausdruck wie ‘Demonstratio ad oculos‘ gewiss nicht selbst in den Rücken fallen und jetzt plötzlich die Möglichkeit des unvermittelten Zeigens einräumen. Immer dann, wenn etwas vorgeführt wird, führt das zu einem Vergleichsprozess mit bereits Bekanntem oder der Feststellung, dass es sich bei dem Vorgeführten um etwas Neues, noch Unbekanntes handelt. Ferdinand de Saussure hat diesen Prozess in die beiden möglichen Relationen ‘simile: simile‘ und ‘simile: dissimile‘ untergliedert und konstatiert, dass es sich hierbei zweifelsohne um Zeichenprozesse handelt, insofern etwas als etwas identifiziert wird, was Hans Vaihinger in seiner Philosophie des Als Ob (vgl. Vaihinger 1911) in aller Breite untersucht hat.

Diese Deutung der Demonstratio ad oculos erscheint umso plausibler, als Bühler sie in einem Atemzug mit der Demonstratio ad aures einführt. Wie sollte man akustisch anders anschaulich demonstrieren als unter Zuhilfenahme sprachlicher, ergo symbolischer Zeichen, von deren Charakter und Interpretationsbedürftigkeit zuvor bereits wiederholt die Rede war.

Wenn Bühler von den Formen des anschaulichen Zeigens die Deixis am Phantasma meint unterscheiden zu müssen, sollte man annehmen, dass ein anderes semiotisches Vermögen damit bezeichnet werden soll. Während Charles Sanders Peirce in seiner Zeichentypologie den zunehmenden Determinationsgrad aus Sicht des Interpretanten zum ausschlaggebenden Kriterium erhebt, wählt Bühler die wachsende Entfernung zum Wahrnehmungsgegenstand als entscheidenden Gesichtspunkt: Vollzieht sich der Signalverkehr noch wesentlich stoffgebunden, indem die zum Stock heimkehrende Biene Stoffproben zur Verkostung verteilt, vermag schon ein recht kleines Kind der Aufforderung des Märchenerzählers Folge zu leisten und sich symbolisch in ein fernes, fernes Land zu versetzen, in dem vor langer, langer Zeit ein kleiner Mann lebte… Die Anforderungen an die verschiedenen Deiktika fallen dementsprechend bei Peirce und Bühler deutlich unterschiedlich aus: Peirce setzt erkenntnisoptimistisch darauf, dass die wachsende Determiniertheit der fortschreitenden Interpretation zu einer Zunahme an konkreter Vernünftigkeit führt, während für Bühler die Freiheit von den Zwängen des anschaulich und handgreiflich Gegebenen im Vordergrund steht, was allerdings keinen Gegensatz darstellt, sondern unter der Perspektive der fortschreitenden Tieferlegung der sematologischen Fundamente eine ständig sich verbessernde Erklärung der Bedingungen der Möglichkeit der Verzeichnung bietet.

Literatur:

  • Bühler, Karl: Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge. In: Archiv für die gesamte Psychologie 9 (1907) 60-74; 12 (1908) 1-23 und 24-92
  • Bühler, Karl: Die Krise der Psychologie. Jena [Fischer] 1927
  • Bühler, Karl: Schriften zur Sprachtheorie. Hrsg. von Achim Eschbach. Tübingen [Mohr Siebeck] 2012
  • Bühler, Karl: Teoria del lenguaje. Version espanola de Julian Marrias. Madrid [Alianza] 1967
  • Bühler, Karl: Teoria del linguaggio. Traduzione di Serena Cattaruzza Derossi. Rom [Armando] 1983
  • Bühler, Karl: Gengo riron: Gengo-no jojutso kino. Transl. Yukata Wakisaka 2 vols. Tokio [Kuronosu] 1983 – 1985
  • Bühler, Karl: Teorija jazyka. Reprezentativnaja funcija jazyka. Moskva [Progress] 1993
  • Bühler, Karl: Teoria jezyka o jezykowej funcji przedstawiania. Krakau [Universitas] 2004
  • Bühler, Karl: Ono iron: Ono-ui sosul kinung. Transl. Chi Kwangsin; Ch’oi Kyongun. Paju [Nanam] 2008
  • Bühler, Karl: Théorie du langage. Traduction par Didier Samain. Marseille [Agona] 2009
  • Bühler, Karl: Theory of language. The representational function of language. Amsterdam [Benjamins] 1990. Paperback 2011
  • Buyssens, Eric: La communication et l‘articulation linguistique. Brüssel [Presses Universitaires de Bruxelles] 1970
  • Eibl-Eibesfeld, Irenäus: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie. Vierkirchen [Blank] 2004
  • Eschbach, Achim: Wahrnehmung und Zeichen. Die sematologischen Grundlagen der Wahrnehmungstheorie Karl Bühlers. In: Ars semeiotica 4:3 (1981) 219-235
  • Eschbach, Achim (Hrsg.): Bühler-Studien. 2 Bände. Frankfurt [Suhrkamp] 1984
  • Eschbach, Achim (ed.): Karl Bühler’s Theory of Language. Proceedings of the Conferences Held at Kirchberg, August 26, 1984 and Essen, November 21-24, 1984 Amsterdam/Philadelphia [John Benjamins] 1988
  • Eschbach, Achim: Verzeichnung. In: Sturm, Hermann (Hrsg.): Verzeichnungen. Vom Handgreiflichen zum Zeichen. Essen [Klartext] 1989. 43-58
  • Eschbach, Achim: Semiotik der Schrift. In: Kodikas/Code 16:1-2 (1993) 29-53
  • Frisch, Karl von: Tanzsprache und Orientierung der Bienen. Berlin [Springer] 1965
  • Gätschenberger, Richard: Grundzüge einer Psychologie des Zeichens. Amsterdam/Philadelphia [Benjamins] 1987
  • Hediger, Heini: Beobachtungen zur Tierpsychologie im Zoo und im Zirkus. Basel [Reinhardt] 1961
  • Lorenz, Konrad: Methoden der Verhaltensforschung. Berlin [de Gruyter] 1957
  • Musolff, Andreas: Kommunikative Kreativität. Karl Bühlers Zweifelderlehre als Ansatz zu einer Theorie innovativen Sprachgebrauchs. Aachen [Rader] 1990
  • Ort, Nina: Objektkonstitution als Zeichenprozeß. Wiesbaden [DUV] 1998
  • Saussure, Ferdinand de: Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-européennes. Reprint der Ausg. Leipzig 1879. Hildesheim [Olms] 1968
  • Sebeok, Thomas A. (ed.): How Animals Communicate. Bloomington [Indiana University Press] 1977
  • Trubeckoj, Nikolai S.: Grundzüge der Phonologie. Göttingen [Vandenhoeck & Ruprecht] 1962
  • Ungeheuer, Gerold: Kommunikationstheoretische Schriften I: Sprechen, Mitteilen, Verstehen. Aachen [Rader] 1987
  • Vaihinger, Hans: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Leipzig [Meiner] 1911

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Über das BuchKarl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion von Sprache. Stuttgart [UTB] 1999, 434 Seiten 17,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseKarl Bühler: Sprachtheorie. von Eschbach, Achim in rezensionen:kommunikation:medien, 3. Juni 2013, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/13222
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