Astrid Erll, Ann Rigney (Hrsg.): Mediation, Remediation and the Dynamics of Cultural Memory

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Rezensiert von Jana Magdanz

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Die Aufsatzsammlung Mediation, Remediation and the Dynamics of Cultural Memory, herausgegeben von Astrid Erll und Ann Rigney, stellt einen wichtigen Schritt dar, das Verhältnis zwischen Kultur und Erinnerung als ein wesentliches Thema interdisziplinärer Forschung auf hohem Niveau auszuleuchten, wie es in der jüngeren Vergangenheit immer wieder angeregt und gefordert wurde (Erll 2008: 1; Confino 1997: 1390; Welzer 2002: 10; Matussek 2003).

Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses geht auf die Forschungen des französischen Soziologen Maurice Halbwachs (1877-1945) zurück. Die Professorinnen Astrid Erll (Goethe-Universität Frankfurt, Anglophone Literaturen und Kulturen) und Ann Rigney (Universität Utrecht, Vergleichende Literaturwissenschaften) tragen als Herausgeberinnen der vorliegenden Sammlung mit zwölf Aufsätzen diese Forschungen in die Gegenwart und erweitern sie durch einen transdisziplinären Überblick über die Mediatisierung kulturellen Gedächtnisses und ihre Dynamiken. Auf Grund der Internationalität der beitragenden Autoren und der Tatsache, dass die Sammlung in englischer Sprache erschienen ist, werden die Forschungen einem breiten Publikum zugänglich gemacht und wird der Kanon zum Thema damit bleibend erweitert.

Wenn Halbwachs selbst die Medien der Aufbewahrung kollektiven Gedächtnisses in seinen Schriften nur streift, so ist dies auf die untergeordnete Rolle von Medien im Alltag vor annähernd einem Jahrhundert zurückzuführen. Ohne die Medien ins Kalkül zu ziehen wäre das Studium des kulturellen Gedächtnisses jedoch heute sinnlos (vgl. Erll/Nünning 2004). Deshalb stellt der vorliegende Essayband die Fragen nach der Rolle der Medien bei der Produktion und beim Wiederaufgreifen und der Etablierung von kulturellem Gedächtnis und verwendet einen besonders weiten, integrativen Medienbegriff nach Erll (vgl. Erll/Nünning 2004; Zierold 2008). Neuronale und hirnphysiologische Zusammenhänge werden in diesem Denkansatz außen vor gelassen. Es geht um das kollektive Gedächtnis als soziales Phänomen, als etwas, das sich im Verlauf eines Lebens bildet und mit dem Kollektivbewusstsein der Bezugsgruppe übereinstimmt.

Medien formen heute ganz entscheidend die Elemente und auch die Art und Weise des kulturellen Erinnerns und die Agenda des kollektiven Gedächtnisses. So haben Erll und Rigney ihre Sammlung mit mehreren Schwerpunkten ausgestattet: Nicht nur die Mediatisierung von Erinnerung und Gedächtnisleistung selbst ist im Fokus der Autorinnen und Autoren, auch die Remediatisierung und ihre Dynamik in der öffentlichen Wahrnehmung und in der Arena der Meinungsbildung stehen im Mittelpunkt. Damit erweitern Erll/Rigney das Forschungsfeld und ziehen den fundiert untersuchten Radius über sehr unterschiedliche Genres der Erinnerung – vom Medium Fotografie aus der Kolonialzeit über Reiseliteratur und den öffentlichen Ritus von Jubiläumsfeiern bis zu Nachrichtenmagazinen und fiktionalen Kinofilmen, angesiedelt in mehreren Ländern und verschiedenen Kontexten.

Diese Essay-Sammlung ist aus einem Symposium an der Universität Gießen im Jahr 2007 mit dem Titel Media and the Dynamics oft Cultural Memory hervorgegangen, veranstaltet vom Giessen International Graduate Center for the Study of Culture, und liegt nun als erschwingliche Broschürenbindung vor (Hardcover-Ausgabe 2009). Auf Grund seiner fundierten Einführung und der Vielfalt der angerissenen Themen ist die Herausgabe der Symposiumsinhalte vor allem ein Gewinn für Studenten der Medienwissenschaften und der Gedächtnisstudien.

Ein zentrales Zitat von Erll aus einer Einführung zum Thema könnte getrost als Leitsatz über der aktuellen Aufsatzsammlung stehen: “Es gehört zu den Grundannahmen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung seit Halbwachs und Warburg, dass kollektives Gedächtnis weder eine vom Individuum abstrahierte Instanz noch ein Resultat biologischer Mechanismen wie Vererbung ist. Genau deshalb müssen Medien als Vermittlungsinstanzen und Transformatoren zwischen individueller und kollektiver Dimension des Erinnerns gedacht werden” (Erll 2005: 251).

Forschung am kulturellen Gedächtnis ist immer auch Medienforschung. Aber “[…] das Phänomen des Gedächtnisses ist in der Vielfalt seiner Erscheinungen nicht nur transdisziplinär in dem Sinne, daß es von keiner Profession aus abschließend und gültig zu bestimmen ist, es zeigt sich auch innerhalb der einzelnen Disziplinen als widersprüchlich und kontrovers” (Assmann 2006: 16; vgl. Erll 2011: 1). Einige der kritischen Aspekte dieses Diskurses spiegeln sich in der Aufsatzsammlung wider, wie zum Beispiel aggressives Agenda-Setting, im vorliegenden Beispiel als “collective-memory setting” (190).

Vor allem aber wird einem wesentlichen Manko des Bereichs entgegengewirkt: der sorglosen Verwendung der Begriffe und der Verwischung wichtiger, feinsinniger Unterscheidungen (vgl. Berek 2009). Denn: “Terminology is one of the most intricate issues in memory studies” (Erll 2011: 6). In der Regel ist es deshalb auch schwierig, die isolierten Einzeluntersuchungen zum Thema unter einen Hut zu bekommen. Diese Klippe umschifft der vorliegende Band, da von einer weitgehend einheitlichen, gemeinsam erarbeiteten Basis ausgegangen wird und individuelle Ansätze bewusst offen gelegt werden. Zahlreiche Aufsätze stammen aus Promotionsstudien und sind so aus dem Zentrum des wissenschaftlichen Diskurses heraus entstanden.

Hilfreich sind auch die guten Einführungen zum Thema allgemein und zu Einzelaspekten, die manchen Aufsätzen vorangestellt sind, wie beispielsweise bei Maren Röger zum Thema des historischen Erinnerns von Vertreibung und Flucht im zweiten Weltkrieg (187-203) und von Jesseka Batteau zum kulturellen Gedächtnis in literarischen Texten (229-244). So profitiert der Leser sowohl als Einsteiger als auch als Experte, da die einzelnen Essays von einer gut verständlichen Ebene ausgehend zu einer sehr spezifischen Ebene getrieben werden und so tiefe Einsichten – jeweils gut argumentiert – möglich sind.

Literaturverzeichnis:

  • Assmann, A.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München [Beck] 2006.
  • Berek, M.: Kollektives Gedächtnis und die Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen. Wiesbaden [Harrassowitz] 2009.
  • Confino, A.: Collecitve Memory and Cultural History: Problems of Method. In: The American Historical Review, Vol. 102, 5, 1997, S. 1386-1403.
  • Erll, A.: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, A.; A. Nünning (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Berlin [De Gruyter] 2005, S. 249-276.
  • Erll, A.: Memory in Culture. Basingstoke [Palgravce Macmillan] 2011.
  • Erll, A.; A. Nünning: Medien des kollektiven Gedächtnisses: Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität. Berlin [De Gruyter] 2004.
  • Matussek, P.: Kulturwissenschaft und Gedächtnisforschung. Ein Verhältnis wechselseitiger Konstitution. In: Handlung Kultur Interpretation. Zeitschrift für Sozial- und Kulturwissenschaften, 1, 2003, S. 59–71.
  • Welzer, H.: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München [Beck] 2002.
  • Zierold, M.: Memory and Media Cultures. In: Erll, A.; A. Nünning: Cultural Memory Studies: an international and interdisciplinary handbook. Berlin [De Gruyter] 2008, S. 399-408.

Links:

Über das BuchAstrid Erll, Ann Rigney (Hrsg.): Mediation, Remediation and the Dynamics of Cultural Memory. Berlin [DeGruyter] 2009, 256 Seiten, 24,95 Euro.Empfohlene ZitierweiseAstrid Erll, Ann Rigney (Hrsg.): Mediation, Remediation and the Dynamics of Cultural Memory. von Magdanz, Jana in rezensionen:kommunikation:medien, 24. Mai 2013, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/12459
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