Rezensiert von Torsten Näser
Die Wissenschaft rekurriert immer wieder auf die Dichotomie von (Film-)Bild und Schrift. Mal wird sie zum Gründungsmythos von Subdisziplinen stilisiert wie im Fall der Visuellen Anthropologie, deren frühe Fürsprecherin Margaret Mead in ihr auch einen Kontrapunkt zur Ethnologie als einer “Discipline of Words” (Mead 2003: 3) verstand. Mal manifestiert sich die Zweiteilung in den kulturtheoretisch als Einschnitt apostrophierten turns, bspw. dann, wenn der iconic turn als Gegenentwurf des linguistic turns begriffen wird (vgl. Tschopp/Weber 2007: 102). Dass solche Zuspitzungen die feinen Nuancen hybrider Medialität zugunsten der Reproduktion eines binären Systems verschleiern, haben skeptische KulturwissenschaftlerInnen stets geahnt. Dass man sie nun mit einem konkreten Lesetipp in das Reich “ideologische[r] Diskurse” (440) verweisen kann, ist der Publikation von Christine Stenzer zu verdanken.Die Autorin befreit Schrift aus ihrer Subsidiarität, die ihr im Zusammenhang mit Film zugeschrieben wird, und erhebt sie zur Hauptdarstellerin. Bereits in der Einleitung macht Stenzer deutlich, dass Schrift filmische Produkte und den Prozess ihrer Erstellung stets auf vielfältige Weise bedingt hat. Als sogenannte Vor-Schrift etwa in Form von Drehbüchern oder als Nach-Schrift in Filmkritiken rahmt sie nahezu alle Filme. Sie kann aber auch als unselbstständiges Informationsmittel, bspw. als Zwischentitel in Stummfilmen, in Erscheinung treten. Hinzu kommen Verwendungsweisen, bei denen Schrift als Teil der Diegese, etwa in Form von Zeitungsartikeln oder Notizzetteln erscheint, sowie innovative Ansätze, bei denen Schrift in besonders hohem Maße Selbstständigkeit zugesprochen wird, weil sie in ihren formalen Implikationen oder in ihrer Materialität betont wird. Mit diesem breit gefächerten Ansatz gibt Christine Stenzer ein Überblicksversprechen, das durchaus innovativ anmutet: Ihr Ziel ist es, die Geschichte von Film und Video als eine “Geschichte filmischer Schrift in diesen Medien” (25) zu erzählen. Weil sie mit diesem Erkenntnisinteresse einen grundsätzlich gewendeten Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Mediums wirft, die allzu oft aus einer bildlichen Perspektive erzählt wurde, verheißt die Publikation ein breites Spektrum gewinnbringender Einblicke.
Nach der Einleitung, in der vor allem theoretische Konzepte und Termini für den weiteren Verlauf der Arbeit dargelegt werden, gliedert sich der Band in vier große Hauptteile. Diese befragen nacheinander Stummfilme, Avantgarde- und Experimentalfilme, Videokunstfilme sowie Werbespots, Musikvideos und TV- und Filmtitel-Designs in Hinblick auf ihren spezifischen Umgang mit schriftlichen Elementen. Den einzelnen Kapiteln stehen jeweils mehrseitige Einführungen voran, die entsprechende Genres filmtheoretisch und -historisch kontextualisieren. Sinnfällig geht die Autorin auch auf technische Entwicklungen ein, die ebenfalls Effekte auf ästhetische Strategien ausüben. Zur Lesefreundlichkeit trägt bei, dass zentrale und zusammenfassende Passagen kursiv gesetzt sind, was auch als inhaltlich motivierter Umgang mit Schrift(bildlichkeit) anerkennend verstanden werden kann.
Neben der Einteilung in Genres tritt die Entwicklungsgeschichte des Films vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute als weiterer maßgeblicher Gliederungsmodus der Publikation in Erscheinung. Innerhalb der Unterkapitel, die nach expliziten filmischen Formaten wie Animationsfilm oder Zeichentrickfilm aufgeteilt sind, werden einzelne Filmbeispiele in kurzen analytischen Zugriffen behandelt und partiell durch Screenshots illustriert. Hier wird an konkreten Beispielen spürbar, wie vielfältig Schrift in Filmen eingesetzt wurde.
Anhand derjenigen Filme, in denen die integrierten Schriftelemente die Ebene der Mise-en-scène verlassen, zeigt Stenzer die Brüchigkeit des binären Systems auf: Schrift erscheint dann nur noch in ihrer Bildlichkeit. Beflügelt wurde diese Transformation vor allem durch die Digitalisierung der Filmtechnik, die verstärkt neue Auseinandersetzungen mit Schrift im Film hervorgebracht hat. Dass die Publikation solch gewichtige Erkenntnisse und deren Verknüpfungen mit konkreten filmischen Praxen nur selten in einer ihnen eigentlich angemessenen Dichte präsentiert, sondern derartige Ergebnisse bisweilen wie Zufallsfunde anmuten, ist hingegen der unglücklichen Gliederung der Studie geschuldet.
Statt der Aufteilung in Genealogie und Genres zu vertrauen, hätte eine analytische Gliederung, die sich induktiv an spezifischen Verwendungsweisen von Schrift im Film orientiert und ganz bewusst quer zu den gewählten Ordnungsprinzipien verläuft, die an sich hoch einzuschätzenden Potentiale der Fragestellung stärker offen gelegt. Ein Vorteil wäre gewesen, dass der Band auch denjenigen als Anregungen und Hilfestellung hätte dienen können, die als FilmemacherInnen praktisch tätig sind und die kreative Lösungen zum Umgang mit schriftlichen Elementen in ihren Filmen suchen.
Die immerwährende Frage nach dem entweder oder, nach dem Leitmedium Schrift oder (Film-)Bild wird durch die mediale Praxis selbst ihres Anspruches enthoben. Stattdessen erweist sich der Blick auf die Wechselwirkungen und Mischverhältnisse als der viel lohnendere. Beides macht Christine Stenzer deutlich. Ob dafür allerdings über 250! filmische Produkte – das weist das Film- und Videoverzeichnis im Anhang aus – zur Analyse hätten herangezogen werden müssen, bleibt zweifelhaft. Ein geringeres, dafür aber analytisch motiviert ausgewähltes und für die Publikation sinnfälliger aufbereitetes Sample, hätte die wichtigen Erkenntnisse stärker zur Geltung gebracht.
Literatur:
- Mead, M.: Visual Anthropology in a Discipline of Words. In: Hockings, Paul (Hrsg.): Principles of Visual Anthropology. Third Edition. Berlin [Mouton de Gruyter] 2003, S. 3-10.
- Tschopp, S. S.; Weber, W. E. J.: Grundfragen der Kulturgeschichte. Darmstadt [WBG] 2007.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Christine Stenzer an der Ludwig-Maximilians-Universität München
- Webpräsenz von Torsten Näser an der Georg-August-Universität Göttingen