Rezensiert von Thomas Keiderling
Seit McLuhans Schlagwort vom “Untergang der Gutenberg-Galaxis” (vgl. McLuhan 1962) ist es in der Medientheorie en vogue geworden, der Erfindung des Buchdrucks einen besonderen Stellenwert in der Mediengeschichte zuzuschreiben. Der Autor des vorliegenden Buches hat es sich zum Ziel gesetzt, die Bedeutungszuschreibung des Buchdrucks in kanonischen Texten der Medientheorie zu untersuchen. Die mit 558 Seiten sehr umfangreiche Dissertation ist theoretisch-methodisch anspruchsvoll und – wie auch die zu untersuchenden Texte – keine leichte Lesekost. Sie thematisiert auf tiefgründige Weise eine zentrale Fragestellung der Disziplin.Zum Aufbau der Arbeit
Sven Grampp hat seine Dissertation dreigeteilt: Im ersten Kapitel werden die “Zielkoordinaten der Lesereisen” (13-101) umrissen. Grampp stellt darin die zentrale These auf, dass der Buchdruck einerseits als Gründungsfigur einer neuzeitlichen (Medien-)Gesellschaft, andererseits als Kontrastfigur für jüngere medientechnische Konstellationen stilisiert wird (vgl. 26). Der Autor zieht bei seiner Analyse “kanonische Texte” heran. Darunter versteht er Einführungen, Textsammlungen und Lexika zur Medientheorie, die im Zeitraum von 1999 bis 2004 im deutschsprachigen Raum erschienen sind beziehungsweise neu aufgelegt wurden (vgl. 94ff.).
Im zweiten und eigentlichen Hauptkapitel unternimmt Grampp “Lesereisen in die Gutenberg-Galaxis” (105-442). Darin werden die Buchdruck-Interpretationen einschlägiger Medientheoretiker wie Friedrich Kittler, Vilém Flusser, Niklas Luhmann, Siegfried J. Schmidt, Neil Postman, Elizabeth Eisenstein, Michael Giesecke, Hans Magnus Enzensberger, Marshall McLuhan u. a. vorgestellt. In Exkursen geht der Autor auch auf die “Kino-Debatte” zum Buchdruck und auf Medientheorien ein, die gänzlich ohne den Buchdruck auskommen.
Im dritten und letzten Teil, “Am Ende der Lesereisen” (445-521), wird ein längeres Fazit mit Blicken zurück und nach vorn gezogen. Der Text ist durch zahlreiche, teils umfangreiche erklärende Fußnoten angereichert. Zuweilen wird ein essayistischer Erzählstil angestrebt, wie Überschriften wie “Rundflug”, “Blindflug” oder “(Zwischen-)Landung” verraten.
Zutreffende Funktionszuschreibungen des Buchdrucks
In seinen “Lesereisen” stellt Sven Grampp die wichtigsten Auffassungen einschlägiger Medientheoretiker über den Buchdruck vor. So wird dem Buchdruck eine identitätsstiftende Funktion zugesprochen und eine “Brechung des Schriftmonopols durch technische Analogmedien” bescheinigt (Kittler). Er gilt als “Gründungsakt der Neuzeit” schlechthin (Kittler, Flusser), als Exempel für den Einfluss medientechnischer Entwicklungen auf Wahrnehmung, Erkenntnis und Kommunikation, als “starting point” einer Technisierung und Abstrahierung der Informationsverarbeitung, die ihren vorläufigen Abschluss in der Computertechnik findet (Kittler, Flusser, Luhmann, Postman und andere). Die frühe mechanische Technik des Letternsatzes wird denn auch immer wieder als Kontrast für neue mediale Entwicklungen gesehen. Diese und weitere Einschätzungen treffen zu beziehungsweise versuchen der Rolle des Buchdrucks in der Mediengeschichte gerecht zu werden. Dann aber kommt es zu weitergehenden beziehungsweise aus Sicht des Rezensenten zu weit gehenden Einschätzungen der einschlägigen Medientheoretiker, die im Folgenden unter “Fehlinterpretationen” kurz angerissen werden sollen.
Fehlinterpretationen
Wiederholt wird der Buchdruck als “Medium” oder sogar “Speichermedium” bezeichnet (Kittler). Für Kittler werden Medien durch die Speicherung, Übertragung und Verarbeitung von Daten gekennzeichnet (vgl. 111ff.). Hierzu ist zu sagen, dass der Buchdruck in diesem Sinne kein Medium darstellt, sondern eine Technologie, die zu speicherfähigen Printmedien1 führt. Unmittelbar nach dem Druckvorgang werden die Druckvorlagen (Druckstöcke) komplett zerlegt und die beweglichen Lettern in die Satzkästen zurücksortiert. Der Buchdruck hat somit kein Gedächtnis, die Technik ist sogar speicherresistent.2 Diese Fehlinterpretation Kittlers hätte im Buch nicht nur seitenlang referiert, sondern widerlegt oder zumindest kritisch hinterfragt werden müssen.
Eine weitere Funktionszuschreibung Kittlers ist problematisch: So ist er der Meinung, dass der Buchdruck das Denken tiefgreifend verändert habe. Stimmt das? Rein technisch gesehen kommt es in der Tat mit dem Buchdruck zu einer Entfremdung des Autors und Lesers vom Text, weil nun formal gesehen eine analoge Technologie dazwischengeschaltet wurde, die das gedruckte Buch schafft. Ob sich alleine dadurch das Denken verändert, kann bezweifelt werden. Denn der Buchdruck ist für die Nutzer eine “black box”, eine Kenntnis derselben ist nicht notwendig, um das gedruckte Buch lesen zu können. Zudem sind, wie die Buchforschung bewiesen hat, frühe gedruckte Bücher wie Bibeln, Katechismen etc. Neuauflagen und auch in der grundlegenden Gestaltung Imitationen von Handschriften gewesen. Eine Schulung in der Mediennutzung war für die bisherigen Handschriftenleser nicht notwendig. Woran ließe sich dann der radikale Bruch des Denkens festmachen? Die medientheoretische Behauptung müsste durch konkrete Beweise unterfüttert werden, was aber nicht geschieht. Kittler sieht im Buchdruck sogar den “Beginn der Datenverarbeitung”, deren (vorläufiger) Endpunkt im autonom operierenden Computer liege (vgl. 128). Ganz im Gegensatz zu dieser Charakterisierung kann die einfache mechanische Apparatur des Buchdrucks eher als ein Anticomputer bezeichnet werden, denn sie speichert – wie bereits erwähnt – nicht und ermöglicht innerhalb ihres technischen Systems keinen erleichterten Zugriff auf Daten.
Generell ist zu bemängeln, dass kaum ein Medientheoretiker die durchgreifende Technisierung und Digitalisierung des Buchdrucks würdigt, denn Buchdruck ist nicht gleich Buchdruck. In den ersten 400 Jahren nach der Gutenberg’schen Erfindung blieben die ursprünglichen Geräte und Techniken in etwa gleich. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts setzte die Technisierung ein, an deren Ende die digitale Revolution des Buchdrucks steht. Seit mehreren Jahren werden so gut wie keine Bücher mehr nach dem Verfahren Gutenbergs hergestellt. Die komplette Textkreation und -verarbeitung der Bücher ist nun digital. Sie werden vom Autor am PC verfasst und elektronisch “gesetzt”. Im Verlag findet die elektronische Bearbeitung und Gestaltung statt und schließlich werden auch die Druckmaschinen digital angesteuert. In einem letzten Schritt kommt das Buch zu mehr als 90 Prozent des Produktionsausstoßes wieder als herkömmliches, gedrucktes Medium (Codex-Buch) auf den Markt – vorrangig deshalb, weil Käufer und Leser diese Form gegenüber der elektronischen bevorzugen. Es wird nicht immer deutlich, welche Phase des Buchdrucks die Medientheoretiker meinen. Auch bleibt zu bezweifeln, ob die Theoretiker die jüngsten revolutionären Veränderungen desselben ausreichend zur Kenntnis genommen haben. Wenn beispielsweise Vilém Flusser die Operationsweisen und Effekte des Buchdrucks in größtmöglicher Opposition zu denen des Computers sieht (vgl. 152), dann muss er seine Betrachtung auf den Buchdruck zeitlich einschränken.
Dies sind nur einige Beispiele für Fehlinterpretationen. Weitere sind in den Abhandlungen der Medientheoretiker wiederholt zu finden. Sie zeugen einerseits von einem enormen Willen zur theoretischen Abstraktion, andererseits von einer gewissen Unkenntnis historischer Entwicklungen und technischer Abläufe im Buchdruck. Bei vielen Einschätzungen, die den Buchdruck in Beziehung zum Computer setzen, drängt sich der Eindruck auf, dass die heutigen Medientheoretiker, ganz von der Euphorie des PCs erfasst, eine Jahrhunderte alte Mediengeschichte völlig neu – sozusagen “auf den Computer” – zugeschrieben haben. Es ist vorstellbar, dass diese modischen Uminterpretationen in den kommenden Jahrzehnten relativiert oder revidiert werden müssen.
Fazit
Die vorliegende Darstellung stellt eine ausgesprochen fleißige und in ihrem Detailreichtum zu lobende Literaturanalyse zur Rolle des Buchdrucks in der Medientheorie dar. Der Autor hat die aktuelle Medientheorie gründlich ausgewertet und bietet dem Leser eine gut strukturierte Gesamtschau. Grampp hält sich allerdings mit Urteilen weitgehend zurück – auch dann, wenn die Charakterisierungen oder Rollenzuschreibungen des Buchdrucks problematisch sind oder einfach nicht zutreffen. Dieser durchgängige Eindruck bei der Lektüre wird erst durch das Fazit etwas relativiert, in dem einige Kernaussagen der Medientheoretiker widerlegt oder zurückgewiesen werden.
Abschließend sei auf folgenden Sachverhalt verwiesen: Namhafte Medientheoretiker wenden sich explizit dem Buchdruck und nicht dem Medium Buch zu. Zuweilen wird der Buchdruck mit dem Medium Buch verwechselt. Das hat durchaus Methode, denn in der einschlägigen Kommunikations- und Medienwissenschaft kommt die Untersuchung des Mediums Buch entweder zu kurz oder sie wird ganz außer Acht gelassen. Hier hätte der Autor auch danach fragen können, ob der Buchdruck eine Stellvertreterfunktion für die unterlassene Buchforschung der Medienwissenschaft darstellt. Vielleicht ist das vorliegende Werk ein Anlass, um darüber intensiver in der Theoriediskussion zu reflektieren.
Literatur:
- McLuhan, M.: The Gutenberg Galaxy. The Making of Typographic Man. Toronto [University of Toronto Press] 1962.
- Rautenberg, U. (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Buches, 2., verbesserte Auflage. Stuttgart [Philipp Reclam jun.] 2003.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Sven Grampp am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Universität Erlangen
- Webpräsenz von Thomas Keiderling am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig
- Zu den gedruckten Erzeugnissen (Printmedien), darauf geht Grampp nur einmal am Rande ein, gehören nicht nur Bücher, sondern auch Zeitungen, Zeitschriften, Kunstdrucke, Musikaliendrucke, in früheren Jahrhunderten auch Einblattdrucke, Flugschriften oder Messrelationen (ein historisch untergegangenes Mittelding zwischen Buch und Zeitung). ↩
- Eine temporäre Ausnahme ist der sogenannte Stehsatz, bei dem die gesetzten Druckvorlagen einige Zeit für einen möglichen Neudruck aufgehoben werden. Dieser “Speichervorgang” bindet jedoch zu viele Arbeitsmittel und wurde in der Praxis möglichst vermieden (vgl. Rautenberg 2003). ↩
Eine Rezension sollte sich schon auf das vorliegende Werk beziehen. Wenn Herr Kittler irgendetwas nicht gesagt hat, ist das ja wohl nicht Dr. Grampps Schuld.
Liebe Uschi,
das sagt niemand – lesen Sie am besten das Buch! Die Auseinandersetzung mit Kittler und anderen Medientheoretikern ist d e r zentrale Gegenstand des Buches, auf den eine Rezension eingehen muss. Sven Grampp hat eine wirklich ausgezeichnete Arbeit abgeliefert, das schreibe ich auch in der Rezension. Kritik, wenn sie angebracht werden kann, geht dahin, die offensichtlichen Fehler bzw. Missverständnisse der Medientheoretiker zentraler zu behandeln.