“Die Weisheit der Vielen”? – Chancen und Gefahren der Internetgesellschaft

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Rezensiert von Bernhard Irrgang

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“Um die Wende zum 21. Jahrhundert begann in der digitalen Revolution etwas falsch zu laufen. […] insgesamt hat die fragmentierte, unpersönliche Kommunikation die zwischenmenschliche Interaktion entwertet. […] Eine neue Generation ist herangewachsen, die geringere Erwartungen hinsichtlich dessen hegt, was ein Mensch sein oder werden kann” (13). So beginnt Jaron Lanier sein Buch Gadget oder “Schnickschnack”. Sein Fazit: “Statt Menschen als Quelle ihrer eigenen Kreativität zu behandeln, präsentierten die auf Zusammenstellung und Zusammenfassung ausgerichteten Sites anonymisierte Fragmente schöpferischer Leistungen, als wären sie vom Himmel gefallen oder aus dem Boden ausgegraben worden, ohne die wahren Quellen zu bezeichnen” (29f.). Der Autor plädiert dagegen für eine humanistische Computertechnologie (31). Viele der neuen Autoren glauben, dass der Unterschied zwischen Mensch und Computer verschwindet. Sie behaupten, mit dem Computer entstünde eine Lebensform, in der der Mensch sich besser versteht als vorher. Sie propagieren die Illusion einer neuen, möglichst hohen Metaebene, aber Information ist nichts anderes als entfremdete Erfahrung (42-44). Der kybernetische Totalitarismus wird zu einer Art Religion und führt zur Anbetung der digitalen Illusion (50).

Die “Weisheit der Vielen” ist eine Ideologie, eigentlich manifestiert sich im Internet ein Mangel an Neugier. “Im Internet findet sich eine gewaltige Flut von Videos mit erniedrigen Angriffen auf wehrlose Opfer. Die sadistische Online Kultur besitzt ihr eigenes Vokabular und gehört inzwischen zum Mainstream” (87). Neuartige Formen wie Internet-Mobbing und Ausbreitung des modernen vernetzten Terrorismus beruhen auf einem Konzept müheloser, folgenloser, vorübergehender und eher beiläufigen Anonymität aufgrund eines zu Fehlverhalten einladenden Design des Internets (88f.). Leider zeigt sich in der Geschichte, dass die kollektivistische Sicht sich zu gewaltigen sozialen Katastrophen auswachsen kann (91). Die Online-Kultur ähnelt auf immer verstörenderer Weise einem Slum und wird letztendlich auf die Dominanz von Werbeanzeigen hinauslaufen. Die Open Culture übertreibt auf unsinnige Weise die Übel der Plattenindustrie und all derer, die glauben, das alte Urheberrechtsmodell habe auch gute Seiten. Vielen College-Studenten gilt Filesharing als Akt zivilen Ungehorsams. Mit dem Diebstahl digitalen Materials stünden sie so in einer Reihe mit Gandhi und Martin Luther King (120).

Die größten Gefahren der Open Culture drohen wahrscheinlich den Mittelschichten im Bereich des geistigen und kulturellen Schaffens. So verschlechtern sich derzeit die Aussichten für freiberufliche Studiomusiker und den Korrespondenten, die für Zeitungen arbeiten. Bisher lebten sie vom alten Presse-System, vom Internet haben sie nichts zu erwarten (127). Hinsichtlich der Internetökonomie glauben die neuen Firmen, dass das Netzwerk von ihnen kontrolliert werden kann und zwar in einem Bereich, auf den alle anderen angewiesen sind (129). Der Open Culture-Ansatz hat zwar aufpolierte Kopien hervorgebracht, war aber kaum in der Lage, bemerkenswerte Originale zu schaffen. Obwohl die Open-Source-Bewegung sich der Rhetorik einer aufmüpfigen Gegenkultur bedient, hat sie sich in der Praxis doch als konservative Kraft erwiesen (166). “Der logische Positivismus ist außer Mode gekommen, und nur wenige würden sich heutzutage darauf berufen, aber inoffiziell erlebt er durch den Computer eine gewisse Wiedergeburt” (201).

“Da die Menschen dank des technischen Fortschritts länger leben, verlangsamt sich der kulturelle Wandel” (234). Jaron Lanier gilt als Erfinder des Begriffs der virtuellen Realität. Er präsentiert seine Sicht der neuen Internetkultur, die eigentlich keine Kultur ist. Die neuen Formen technischer Information und Kommunikation erlauben es nicht, die eigene Personalität und Kreativität angemessen darzustellen. Die Gefahren des Kollektivismus breiten sich in ihm aus, eine neue Ökonomie des Internet konnte bislang nicht generiert werden, so dass viele Bereiche der bisher etablierten Kultur in Gefahr sind, ihre ökonomische Basis zu verlieren. Insgesamt zeichnet Lanier ein eher düsteres Bild des neuen Mediums, welches von vielen gerade der Jugendlichen als nicht angemessen empfunden wird. Dennoch – viele Anregungen sind bedenkenswert.

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Thematisiert wird in Digitale Mediapolis der digitale Strukturwandel der Öffentlichkeit und die neue Rolle des Journalismus in Zeiten des Internets. Interessant für Journalisten könnte die Vereinigung von Text, Bild, Video und Audio zu einem einzigen neuen Medium sein (25f.) Schwerer jedoch wiegt das allmähliche Verschwinden der Presse, die über Jahrzehnte Garant für hochwertigen, hoch bezahlten Journalismus war (29). Aufgrund des neuen Mediums und der deutlich geringeren Kosten für Werbung im Internet sind den klassischen Zeitungen und Printmedien Werbeeinnahmen verloren gegangen, mit einem Pressesterben ungeahnten Ausmaßes als Konsequenz. Dieses Marktversagen muss die traditionelle Demokratie aber erst einmal verkraften (44). Die Auflösung der klassischen kulturschaffenden Professionen und deren Ersetzung durch einen so genannten Bürgerjournalismus zeigt das Ende der bezahlten Arbeit in der Kulturindustrie an. Das Internet führt so implizit zu einer Zerstörung der Basis für Intellektuelle, die sich in Zukunft eine bürgerliche Existenz (mit Familiengründung usw.) nicht mehr leisten kann. Das Ende des klassischen Bildungsideals ist vorprogrammiert.

Das Internet mit seiner sozialen Organisation der Nachrichtenübermittlung trägt ganz entscheidend dazu bei, dass bei der Generierung und Präsentation von Information die Unterschiede zwischen Profis und Laien verschwinden. Dies gefährdet die Verlässlichkeit und richtige Interpretation von Daten, Information und Wissen. Die Wissensgesellschaft entzieht sich auf diese Art und Weise ihre eigene Grundlage (70). Der Journalismus als verlässliches Frühwarnsystem für gesellschaftliche und politische Krisen und der Kontrolle der Mächtigen wird verschwinden, Laien als Gelegenheits-Meinungsmacher können die kritische Funktion des herkömmlichen Journalismus nicht übernehmen (77-79). Der freischaffende Berichterstatter wird sich als Ein-Personen-Nachrichten-Organisation von Projekt zu Projekt hangeln (103).

Jedes Jahr investieren Menschen, um Wikipedia zur unglaublichen Wissensressource zu machen. Nachrichten und Information werden nicht mehr als Produkt einer Firma verstanden, sondern als eine gemeinsame Netzwerk-Ressource, die allen möglichen Menschen gehört, die zusammen daran arbeiten und von den Informationen profitieren (85). Auf der anderen Seite kann das Wikipedia-Prinzip nicht alle Probleme des Wissenstransfers bewältigen. Neue Modelle für einen professionellen Journalismus könnten spendenfinanzierte Zentren für neue Recherchemethoden darstellen wie auch andere Modelle, Nutzer für die Präsentation von Nachrichten bezahlen zu lassen (65). Das Internet scheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt mehr Probleme zu schaffen als zu lösen. Im Übergangsfeld zur Erschaffung einer neuen und digitalen Form von Öffentlichkeit tut sich sowohl die traditionelle Ökonomie wie aber auch die ökonomische Basis der traditionellen Kulturschaffenden schwer, neue Horizonte zu eröffnen das hier vorliegende präsentiert einen beängstigende Analyse der Konsequenzen des Internets für die Erzeugung und Vermittlung unserer Nachrichten, die durch die Interviewform des rezensierten Buches zwar an persönlicher Authentizität gewinnt, aber durch diese Präsentation eine Reihe von Redundanzen und Wiederholungen aufweist, die an der Sache orientierte Leser nicht immer hilfreich anleiten.

Links:

Über das BuchJaron Lanier: Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht. Frankfurt [Suhrkamp Verlag] 2010, 247 Seiten, 19,90 Euro.

Stephan Weichert; Leif Kramp; Alexander von Streit: Digitale Mediapolis. Die neue Öffentlichkeit im Internet. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2010, 216 Seiten, 18,- Euro.Empfohlene Zitierweise“Die Weisheit der Vielen”? – Chancen und Gefahren der Internetgesellschaft. von Irrgang, Bernhard in rezensionen:kommunikation:medien, 16. Oktober 2011, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/6604
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