Frank Bösch: Öffentliche Geheimnisse

Einzelrezension
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Rezensiert von Thomas Birkner

bösch2009Einzelrezension
Sex sells! Schon vor 1900 druckten die Zeitungen und Illustrierten in Großbritannien und Deutschland gerne Bilder von nackten afrikanischen Brüsten (230; vgl. Gebhardt 2001). Als jedoch die sexuelle Ausbeutung von Afrikanerinnen durch Kolonialbeamte über die Medien in der Öffentlichkeit bekannt wurde, kam es zu handfesten Skandalen. Definiert als durch Veröffentlichung entstandene Empörung über einen Normbruch (9), hat der Historiker Frank Bösch Skandale in den Mittelpunkt seines Buches zum Zusammenhang von Politik und Medien in den Jahren 1880 bis 1914 gestellt. Darin bündelt er auch seine aufwändigen Recherchen zur Medialisierung (vgl. Meyen 2009) an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (vgl. Bösch 2004a, 2004b, 2005a, 2005b, 2006; Bösch/Frei 2006).

Insgesamt untersucht Bösch sechs Skandalfelder: Homosexualität, Ehebruch, Kolonialismus, Journalismus, Königshäuser und Korruption. Dabei versteht er Medien als „Beobachtungssystem zweiter Ordnung“ (18), stellt aber dennoch klar, dass man insbesondere im Falle der von ihm untersuchten „Homosexualitätsskandale“ nicht von einem „eigenständigen System“ (158) bzw. in der Terminologie Pierre Bourdieus nicht von klar getrennten, autonomen Feldern (472) sprechen könne. Denn die Medienskandale (vgl. Burkhardt 2007) sind zumeist politisch motiviert.

Mit sorgfältiger Quellenarbeit, der Auswertung zahlreicher Zeitungen und Dokumente aus 23 Archiven zu 30 Skandalen, breitet Bösch detailliert die Vorgeschichte aus, vor deren Hintergrund sich der jeweilige Skandal dann abspielt. Anschaulich beschreibt er das politische Setting, stellt die Verlaufsformen der Skandale dar, sucht nach Mustern und weist nach, wie und von wem die Skandale lanciert wurden.

Dabei erstaunt zum einen, dass es in beiden Ländern nicht die aufkommenden ‚kommerziellen’ Massenblätter sind, die die Skandale anschieben, sondern in einigen Fällen Politiker, zumeist jedoch die parteipolitisch gebundenen Zeitungen. Die Veröffentlichung der Skandale diente laut Bösch vornehmlich politischen Interessen und nicht der Steigerung der Auflage. So ist es der sozialdemokratische „Vorwärts“, der 1902 den Vorwurf, der Großindustrielle Krupp vergnüge sich mit Knaben auf Capri, in die Öffentlichkeit bringt. Dabei hatte Krupp schon vor dem sich dann entfesselnden Skandal seine Frau in ein Sanatorium gesteckt, weil er wohl von ihr Enthüllungen fürchtete. Kurz nach dem Skandal nahm er sich „aller Wahrscheinlichkeit nach“ (104) das Leben.

Vertuschung, so die zweite wichtige Erkenntnis, sieht Bösch als sekundären Skandal (76) bzw. als zweite Phase des Skandals (157). Dies ist auch heute zu beobachten. Meist ist erst die Reaktion eines Unternehmens auf Enthüllungen (wie bei den Bespitzelungsskandalen bei Deutscher Bahn AG oder Deutscher Telekom AG), der Versuch, die Öffentlichkeit zu täuschen, der eigentliche Skandal. Deshalb ist es journalistische Praxis, immer noch Munition für weitere Runden der Eskalation in der Hinterhand zu haben, so wie dies vor hundert Jahren schon der gelernte Journalist und Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger praktizierte (297).

Dies- und jenseits des Ärmelkanals macht Bösch je einen Starjournalisten in Skandalfragen aus: William Thomas Stead und Maximilian Harden. Die beiden hatte er bereits als „Volkstribune und Intellektuelle“ (Bösch 2006) porträtiert, in dem von Clemens Zimmermann herausgegebenen Buch „Politischer Journalismus, Öffentlichkeiten und Medien im 19. und 20. Jahrhundert“. Deshalb verwundert, dass er die im gleichen Band publizierten journalismusrelevanten Erkenntnisse von Barbara Duttenhöfer (2006) zur Zabern-Affäre ungenutzt lässt und vor allem auf Hans-Ulrich Wehler rekurriert, der diesen Skandal schon 1970 thematisierte (vgl. Wehler 1970), ihn aber vor allem politisch deutete (Wehler 1995: 1129).

Davon abgesehen treibt Bösch den Forschungsstand enorm voran (vgl. u. a. Kohlrausch 2005; Geppert 2007) und festigt seine Position als Kapazität auf dem Gebiet. Als Spezialist des transnationalen Vergleichs (Bösch/Geppert 2008; vgl. Chapman 2005) stellt er heraus, dass man die Liberalität Großbritanniens nicht überschätzen, die Medialisierung und Demokratisierung im deutschen Kaiserreich nicht unterschätzen solle. Für Großbritannien offenbart er damit für die Jahre nach 1900 eine bisher so nicht vermutete Nähe von Politik und Journalismus; die von ihm untersuchten Skandale zeigen die Grenzen journalistischer Unabhängigkeit auf.

In Deutschland dagegen lässt sich im Zuge der Skandale eine zunehmende Politisierung der Gesellschaft diagnostizieren. Hier kann Bösch den Nachweis der Agenda-Setting-Funktion der Medien über die Auswertung von Spitzelberichten der Hamburger Politischen Polizei führen, die Gespräche vornehmlich in Arbeiterkneipen belauscht und aufgezeichnet hatte (vgl. Bösch 2004a; Evans 1989).

Diese heute wertvolle Quelle für die Medienrezeption jener Jahre zeigt, dass das Kaiserreich ein autoritärer Staat blieb, der selbstverständlich seine Bürger belauschte, ungeachtet der von Bösch detailreich nachgewiesenen Stärkung von Parlament und Pressefreiheit. Und gehörte Antisemitismus zum Standardrepertoire fast jeder politischen Diskussion in Deutschland, so konnte Bösch ihn zwar auch in England nachweisen, doch einen Blumentopf gab es damit in der politischen Auseinandersetzung kaum zu gewinnen. Wohl auch deshalb führten die Wege der beiden führenden Industrienationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trotz vieler Gemeinsamkeiten in ganz unterschiedliche Richtungen.

Literatur:

  • Bösch, F.: „Zeitungsberichte im Alltagsgespräch. Mediennutzung, Medienwirkung und Kommunikation im Kaiserreich“. In: Publizistik, 49, 2004a, S. 319-336.
  • Bösch, F.: „Das Private wird politisch: Die Sexualität des Politikers und die Massenmedien des ausgehenden 19. Jahrhunderts“. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 52, 2004b, S. 781-801.
  • Bösch, F.: „Zwischen Populärkultur und Politik. Britische und deutsche Printmedien im 19. Jahrhundert“. In: Archiv für Sozialgeschichte, 45, 2005a, S. 549-584.
  • Bösch, F.: „Die Zeitungsredaktion“. In: Gisthövel, A.; H. Knoch (Hrsg.): Orte der Moderne – Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main, New York [Campus] 2005b, S. 71-80.
  • Bösch, F.: „Volkstribune und Intellektuelle: W. T. Stead, Maximilian Harden und die Transformation des politischen Journalismus in Deutschland und Großbritannien“. In: Zimmermann, C. (Hrsg.): Politischer Journalismus, Öffentlichkeiten und Medien im 19. und 20. Jahrhundert. Ostfildern [Thorbecke] 2006, S. 99-120.
  • Bösch, F.; N. Frei (Hrsg.): Medialisierung und Demokratie im 20. Jahrhundert. Göttingen [Wallstein] 2006.
  • Bösch, F.; D. Geppert (Hrsg.): Journalists as Political Actors. Transfers and Interactions between Britain and Germany since the late 19th Century. Augsburg [Wißner] 2008.
  • Burkhardt, S.: Medienskandale – zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse. Köln [Halem] 2007.
  • Chapman, J.: Comparative Media History. Cambridge [Polity] 2005.
  • Duttenhöfer, B.: „Innovationen um 1900: Investigativer und lokaler Journalismus – Frauenjournalismus – Visualisierung“. In: Zimmermann, C. (Hrsg.): Politischer Journalismus, Öffentlichkeiten und Medien im 19. und 20. Jahrhundert. Ostfildern [Thorbecke] 2006, S. 139-168.
  • Evans, R. J. (Hrsg.): Kneipengespräche im Kaiserreich. Stimmungsberichte der Hamburger Politischen Polizei 1892-1914. Reinbek [Rowohlt] 1989.
  • Gebhardt, H.: „’Halb kriminalistisch, halb erotisch’: Presse für die ’niederen Instinkte’. Annäherungen an ein unbekanntes Kapitel deutscher Mediengeschichte“. In: Maase, M.; W. Kaschuba (Hrsg.): Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900. Köln, Weimar, Wien [Böhlau] 2001, S. 184-217.
  • Geppert, D.: Pressekriege – Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen 1896-1912. München [Oldenbourg] 2007.
  • Kohlrausch, M.: Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Diplomatie. Berlin [Akademie] 2005.
  • Meyen, M.: “Medialisierung”. In: Medien und Kommunikationswissenschaft, 57, 2009, S. 23-38.
  • Wehler, H.-U.: „Symbol des halbabsolutistischen Herrschaftssystems: Der Fall Zabern 1913/14 als Verfassungskrise des Wilhelminischen Kaiserreichs“. In: ders. (Hrsg.): Krisenherde des Kaiserreichs: 1871-1918. Studien zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte. Göttingen [Vandenhoeck & Ruprecht] 1970, S. 65-74.
  • Wehler, H.-U.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 3. Band: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914. München [Beck] 1995.

Links:

Über das BuchFrank Bösch: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880-1914. Reihe: Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Band 65. München [R. Oldenbourg Verlag] 2009, 540 Seiten, 59,80 Euro.Empfohlene ZitierweiseFrank Bösch: Öffentliche Geheimnisse. von Birkner, Thomas in rezensionen:kommunikation:medien, 25. Juli 2009, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/493
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