Daniel Müller; Annemone Ligensa; Peter Gendolla (Hrsg.): Leitmedien

Sammelrezension
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Rezensiert von Manuel Wendelin

Sammelrezension
Dass schon ‘Medium’ ein Begriff ist, über dessen Definition man wunderbar streiten kann, ist bekannt. Dieses Schicksal teilt der Terminus mit anderen Grundbegriffen wie dem der ‘Kommunikation’ oder dem der ‘Öffentlichkeit’. Im alltäglichen (wissenschaftlichen) Gebrauch werden solche Differenzen meist problemlos umschifft. Diese Praxis der Umgehung von unüberbrückbaren Klüften ist notwendig, um diesseits des endlosen Nachdenkens über sprachliche Grundlagen überhaupt sinnvoll arbeiten zu können. Hin und wieder kommt es aber vor, dass bewusste Entscheidungen für die Verwendung eines bestimmten Medienbegriffs getroffen und begründet werden müssen. Spätestens in solchen Situationen ist man dankbar für die in der Literatur vorhandenen Systematisierungen (Mock 2006; Pross 1972). Das ist nicht anders, wenn es um die Forschung zu Leitmedien geht. Im Unterschied zum Medienbegriff sind tiefer gehende begriffliche Auseinandersetzungen hier aber kaum vorhanden. Gleiches gilt für die Systematisierung des Forschungsstands. Vor dem Hintergrund der offensichtlich immer häufiger werdenden Verwendung des Wortes “Leitmedien”, ist dieser Befund das zentrale Relevanzargument für den von Daniel Müller, Annemone Ligensa und Peter Gendolla herausgegebenen Zweibänder.

Das Buch ist im Kontext der 2007 veranstalteten Jahrestagung des Forschungskollegs (SFB/ FK) 615 “Medienumbrüche” entstanden und hat es sich zum Ziel gesetzt, “möglichst viele relevant scheinende Positionen und Aspekte zum Thema zu versammeln” (Band 1, 9). Im Vordergrund steht dabei die “sehr wichtige Dichotomie” von kulturwissenschaftlich orientierten Sichtweisen aus Medien- und Literaturwissenschaft sowie Philosophie auf der einen und sozialwissenschaftlichen Perspektiven aus Kommunikations- und Politikwissenschaft sowie Soziologie auf der anderen Seite (Band 1, 14). Während es in den kulturwissenschaftlichen Arbeiten eher um Medienumbrüche gehe, die dadurch definiert sind, dass ein vormals dominantes Medium von einem neuen Medium abgelöst wird und somit Veränderungen in der etablierten Hierarchie auftreten (Zeitung, Fernsehen, Internet), würden sozialwissenschaftliche Arbeiten eher auf einzelne Medien fokussieren und diese auf ihre meinungsbildende oder –führende Rolle hinterfragen (Bild, Tagesschau, Spiegel Online). Solche Unterscheidungen sind aber idealtypisch zu verstehen – schon unter den einzelnen Beiträgen im Buch gibt es empirische Gegenbeispiele. Dennoch liefert genau diese Dichotomie ein weiteres, ein fachtheoretisches Argument für die Relevanz einer Beschäftigung mit dem Thema Leitmedien. Hier bietet sich die Gelegenheit, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der “gegensätzlichen Forschungstraditionen” herauszuarbeiten und zu diskutieren. Diese Gelegenheit haben die Herausgeber leider kaum genutzt.

Es wird dem Leser überlassen, die verschiedenen Zugangsweisen “produktiv aufeinander zu beziehen”. Obwohl die Herausgeber kommunikations- und medienwissenschaftliche Sichtweisen nicht “streng” trennen wollten, haben sie im ersten Band die eher kommunikationswissenschaftlichen und im zweiten Band die eher medienwissenschaftlichen Beiträge zusammengefasst und ohne eine weitere Unterteilung vorzunehmen, nacheinander abgedruckt. Im Sinne einer besseren Nachvollziehbarkeit der “scharfen Widersprüche” und “Berührungspunkte” wäre es besser gewesen, sich um eine thematische Gliederung zu bemühen (Band 1, 16-17). Obwohl oder gerade weil es wegen der institutionellen Klüfte und der Komplexität des Themas schwierig bis unmöglich sein mag, eine übergreifende Synthese zu finden, wäre der Versuch einer stärkeren Systematisierung der Diskussion allemal lohnend gewesen. Das Buch beinhaltet sehr spannende konzeptionelle Ideen, historische Interpretationen und Forschungsergebnisse aus den Perspektiven beider Seiten der Dichotomie.

Ausgangspunkt ist ein Beitrag von Jürgen Wilke, der sich schon knapp zehn Jahre vor seinem Eröffnungsvortrag auf der Jahrestagung des SFB/ FK 615 mit dem Thema befasst hat (Wilke 1998). Wilke unterscheidet mehrere Dimensionen des Leitmedienbegriffs und bespricht Kriterien, mit denen Leitmedien bestimmt werden können. Leitmedien sind demnach Medien, die als “Meinungsführermedien” eine Führungs- oder Leitungsfunktion wahrnehmen können. Diese Meinungsführung bezieht sich entweder direkt auf das Publikum der Massenmedien oder als Intermedia Agenda-Setting auf andere Medien. Leitmedien haben im ersten Fall eine hohe Verbreitung und Reichweite insbesondere unter den gesellschaftlichen Eliten. Auch eine hohe subjektive Bindung an ein Medium kann Indikator für seine Führungsposition sein.

Im zweiten Fall sind Leitmedien vor allem solche Medien, die eine hohe Reichweite unter Journalisten haben, die von Experten als Leitmedien etikettiert und häufig von anderen Medien zitiert werden. Wichtig zur Bestimmung und Einordnung von Leitmedien sind Randbedingungen, wie das politische System und das Mediensystem. Außerdem muss im Hinblick auf Zielgruppen und Medienfunktionen differenziert werden. In einem liberal-demokratischen System hat der Begriff “Leitmedium” beispielsweise eine andere Bedeutung, Funktion und Wirkung als im Dritten Reich. Gleiches gilt auch für den Unterschied zwischen überregionalen Tageszeitungen und der Parteipresse. Hinsichtlich eines möglichen Leitmediencharakters von Internetangeboten hat Wilke 2007 zurückhaltend argumentiert. Zumindest in Bezug auf Intermedia Agenda-Setting und mit Blick auf die Rolle von Spiegel Online ist diese Frage mittlerweile zu bejahen.

Die weiteren Beiträge im ersten Band schließen häufig explizit oder implizit an Wilkes Text an. Während Henning Groscurth, Gebhard Rusch und Gregor Schwering beispielsweise anhand der Webcam-Kolumne der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ergänzen, dass auch die Übernahme von technischen Medieninnovationen durch etablierte Einzelmedien ein Kriterium für die Klassifikation als Leitmedium sein kann, gehen Benjamin Krämer, Thorsten Schroll und Gregor Daschmann den Funktionen der Koorientierung für den Journalismus nach. Die Komplexitäts- und Kostenreduktionsfunktion sowie die Legitimationsfunktion tragen demnach dazu bei, die Rolle von Leitmedien für andere Medien zu erklären. Lars Rinsdorf greift dagegen das Verhältnis von Leitmedien und dem Publikum auf. Dabei wird über ein “angemessenes” Publikumsverständnis nachgedacht und nach Leitmedien unter verschiedenen Mediengattungen und im Bezug auf Medienmarken gefragt. Glaubwürdigkeit ist demnach ein entscheidendes Charakteristikum von Leitmedien aus Publikumssicht.

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Michael Giesecke eröffnet den zweiten Band des Buchs. Sein medien- wissenschaftlicher Text könnte als theoretische Abstraktion aber durchaus auf die kommunikationswissenschaft- lichen Arbeiten im ersten Band bezogen werden. Giesecke stellt solche Bezüge zur Kommunikationswissenschaft an mehreren Stellen des Beitrags selbst her, wenn auch meist als Abgrenzung. Das stark normative Plädoyer für eine medienökologische Konzeption ist teilweise sicher irritierend – wenn zum Beispiel damit argumentiert wird, dass sich Forschung nicht damit begnügen solle, das Alltagswissen zu verdoppeln (festzustellen, was ist) sondern sich darum bemühen müsse, alternative Sichtweisen zur Verfügung zu stellen (“Beschäftigung mit der Struktur und Funktionsweise von Sollwerten”; Band 2, 22). Trotzdem kann die triadische Denkweise aber auch für Sozialwissenschaftler theoretisch anregend sein und sich zumindest bei historischen Untersuchungen als empirisch fruchtbar erweisen. Dann würde es allerdings nicht darum gehen, Hierarchien zu vermeiden oder grenzenlose Pluralität zu ermöglichen, sondern um eine ergebnisoffene Durchführung von kulturellen Vergleichen. Die Beschreibung eines “triadischen Kräftefeldes” auf der Grundlage einer “Prämierungsanalyse” würde dabei helfen, unterschiedliche Konstellationen von Leitmedien – im kommunikationswissenschaft- lichen Sinn – theoretisch einzuordnen und zu erklären (Band 2; 25).

Auf dieser interdisziplinären Ebene rückt auch das Verhältnis von Leitmedien und Öffentlichkeit in den Blick. Um dabei Unterhaltungsöffentlichkeiten und insbesondere Kino-Öffentlichkeiten einbeziehen zu können, brechen Corinna Müller und Harro Segeberg die in Öffentlichkeitstheorien übliche Beschränkung auf politische Öffentlichkeit auf und weisen auf die normativen Strukturen der Kategorie hin. Ohne eine solche Ausweitung bleiben Öffentlichkeitskonzepte zwar letztlich immer unvollständig, umgekehrt kann Öffentlichkeit aber ebenfalls kaum hinreichend erfasst werden, wenn dabei auf die politischen Funktionen verzichtet wird, die ihr seit der Aufklärung zugeschrieben werden. Auf diese politischen Funktionen konzentriert sich wiederum der Beitrag von Otfried Jarren und Martina Vogel. Vor dem Hintergrund des eben Gesagten, wirkt hier die Verortung von Leitmedien als Teil der Qualitätsmedien als zu eng. Leitmedien können zwar sicher auch “Leuchttürme” im gesellschaftlichen Diskurs sein, aber sie sind eben nicht nur das (Band 1, 83, 89). Inwiefern und wann auch die Medien von Teilöffentlichkeiten Leitmediencharakter haben können, ist bislang weitgehend unerforscht. Diesen Schluss lässt zumindest die sehr breite und theoretisch fundierte Metaanalyse zum “Leitpotential” von Gegenöffentlichkeiten zu, die Jeffrey Wimmer durchgeführt hat.

Insgesamt bietet das Buch einen umfassenden, spannenden und exklusiven Einblick in die unterschiedlichsten Möglichkeiten mit dem Thema Leitmedien wissenschaftlich umzugehen. Allerdings beschränkt sich die abgebildete Diskussion weitgehend auf den deutschsprachigen Raum. Internationale Sichtweisen werden verhältnismäßig selten in die Argumentationen einbezogen. Es ist ein Einblick in ein sehr heterogenes Themenfeld, in dem sich noch viel bewegen kann. Eine perspektivenübergreifende Systematisierung steht aber weiter aus.

Literatur:

  • Thomas Mock: Was ist ein Medium? In: Publizistik, 2006, 51. Jg., H. 2, S. 183-200.
  • Harry Pross: Medienforschung. Darmstadt [Habel] 1972.
  • Jürgen Wilke: Leitmedien und Zielgruppenorgane. In: Wilke, Jürgen (Hrsg.): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Köln [Böhlau] 1999, S. 302-329.

Links:

Über das BuchDaniel Müller; Annemone Ligensa; Peter Gendolla (Hrsg.): Leitmedien. Konzepte - Relevanz - Geschichte. Reihe: Medienumbrüche, Band 31 und 32. Bielefeld [Transcript Verlag] 2009, 349 Seiten (Band 1), 290 Seiten (Band 2), je 28,80 Euro.Empfohlene ZitierweiseDaniel Müller; Annemone Ligensa; Peter Gendolla (Hrsg.): Leitmedien. von Wendelin, Manuel in rezensionen:kommunikation:medien, 1. Juni 2011, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/4056
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