Johannes Angermuller, Martin Nonhoff, Eva Herschinger et al. (Hrsg.): Diskursforschung

Sammelrezension
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Rezensiert von Siegfried Jäger

97838376272205429821bcb69d_720x720Sammelrezension
Das hier vorgelegte umfängliche Handbuch Diskursforschung stellt die erste Veröffentlichung der Reihe DiskursNetz im transcript Verlag dar, die von Johannes Angermuller, Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Nonhoff, Martin Reisigl, Juliette Wedl, Daniel Wrana und Alexander Ziem betreut wird. Diese zumeist sehr jungen Autorinnen und Autoren sind Mitglieder eines Gemeinschaftsprojekts von Forschenden aus den unterschiedlichsten geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen vornehmlich aus Deutschland, die sich mit dem Thema Diskurs im weitesten Sinne befassen.

Und damit deutet sich bereits das Dilemma dieses Projektes an: Die hier vorgelegten rund 60 Artikel operieren mit den unterschiedlichsten Diskursbegriffen und beziehen auch solche Konzepte ein, die mit gängigen Verständnissen von Diskurs in den Wissenschaften nichts zu tun haben, sondern nahezu die gesamte Erforschung des Verhältnisses von Sprache und Kultur in Deutschland und Frankreich sowie in England in den Blick genommen haben, und zwar aktuell wie historisch. Dies führt aber zu einer derartigen Fülle von Theorien und Methoden und zu einem letztlich nicht mehr zu überschauenden pluralistischen Feld von Ansätzen und Problemen, an dem jeder Versuch des Ordnens und Sortierens scheitert und scheitern muss. Das sehen die BeiträgerInnen zu diesem dennoch anspruchsvollen Projekt auch selbst ein, wenn sie von einer kaleidoskopartigen Fülle der vielfältigen Möglichkeiten und Problematiken dieses riesigen Anspruches sprechen. Das äußert sich besonders auch im zweiten Band dieser Aufsatzsammlung, in dem es darum geht, die im ersten Band dargelegten Theorien und Methoden(bruchstücke) in konkrete Forschungspraxis umzusetzen.

Der Versuch, das Problem der Nicht-Überschaubarkeit und Nicht-Darstellbarkeit des Feldes der aktuellen Diskursforschung dadurch zu bändigen, dass die AutorInnen im zweiten Band bei ihren Analysen auf die Befassung mit einem einzigen Gegenstand verpflichtet wurden, der Bologna-Hochschulreform, resultiert, wie nicht anders zu erwarten, in einem chaotischen Pluralismus, der darüber hinaus dadurch noch unübersichtlicher wird, dass die Ansätze aus dem ersten Band im zweiten kaum Beachtung finden. Das rhyzomartig-chaotische Wuchern des Diskurses zur Diskursforschung erfährt hier nur seine weitere Fortsetzung. Den Herausgeberinnen dieses etwas voreilig so genannten Handbuches ist das letztendlich aber auch selbst aufgefallen, wenn sie im Abgesang zu diesem Projektbericht von der Notwendigkeit einer Diskursanalyse des Diskurses der Diskursforschung sprechen.Doch selbst in dieser Einsicht verbirgt sich der grundsätzliche Fehler dieses Projekts: will man nämlich einen Diskurs erforschen und analysieren, sollte man ihn zunächst einmal erst – sozusagen als ersten Schritt einer Diskursanalyse – zu fassen bekommen haben. Das ist leider bei diesem Projekt nicht der Fall.

Damit sei auf ein weiteres Problem dieses Projektes hingewiesen: Immer wieder taucht – in den verschiedensten Variationen – die Frage auf, wie man den Gegenstand einer Diskursanalyse überhaupt erfassen kann. Wie sieht der oder das Korpus einer Diskursanalyse aus? Kann ich es oder ihn einfach vorfinden, zum Beispiel in den riesigen Korpora des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim? Oder muss ich ihn mir selbst irgendwie erarbeiten, erspekulieren? Oder hilft mir die Korpuslinguistik oder die Dauerbeobachtung eines oder tausender von Medien? Was ist mit dem Internet und seinen oft ungreifbaren Flüchtigkeiten? Wann fängt mein Diskurs an und wann hört er auf? Dabei wird übersehen, dass die Erfassung eines Diskurses bereits Teil und zwar wohl wichtigster Teil der Diskursanalyse und dieser nicht äußerlich ist.

Nun ist nicht zu bestreiten, dass diese beiden Bände auch eine Reihe interessanter Anregungen enthalten. So befassen sich einige Aufsätze auch mit den Medien, mit Problemen des Internets, mit der Frage, ob Diskursanalyse kritisch zu sein hat oder sich mit der Beschreibung von Diskursen zu begnügen hat. Diese und andere Fragen deuten an, wie groß der Anspruch ist, den die AutorInnen und HerausgeberInnen an sich und an uns Leser und an die gesamten (Geistes- und Sozial-)Wissenschaften einschließlich der Philosophie und leider nicht der Naturwissenschaften herantragen, allerdings nur selten und dann meist nur in althergebrachte Weise ein wenig zu beantworten vermögen. Auf einige wenige dieser Anregungen möchte ich abschließend kurz eingehen, zunächst auf die Medien und darauf auf das Problem des Kritischen Potentials von Diskursanalysen:

In dem kurzen Artikel von Stefan Meier und Christian Pentzold ‘Diskursforschung in den Kommunikations- und Medienwissenschaften’ (I, 118-129) wird zunächst einmal konstatiert, dass die Kommunikationswissenschaften über keinen genuinen Diskursbegriff verfügen. Weshalb sie dann hier angeführt werden, bleibt Geheimnis der Verfasser. Zu den Medienwissenschaften wird vorgeschlagen, Diskursanalyse und Inhaltsanalyse miteinander zu verbinden. Das kann man ja machen, wenn man davon ausgeht, dass die Medienwissenschaft unter Diskurs “zumeist eine Abfolge von Redeeinheiten” versteht. (123) So trivialisiert, kann jeder damit machen, was ihm/ihr in den Sinn kommt.

Bei dem Artikel von Stefan Meier und Juliette Wedl: ‘Von der Medienvergessenheit der Diskursanalyse. Reflexionen zum Zusammenhang von Dispositiv, Medien und Gouvernementalität’ (1, 411-435) handelt es sich um einen dialogisch entwickelten Text, in dem mehrere fiktive TeilnehmerInnen so richtig kreativ chatten und skypen. Es geht um die Bedeutung der Techniken, unter Bezug auf Luhmann, der sich auf Inhalte konzentriere und nicht auf Funktionsweisen, die aber die TeilnehmerInnen besonders zu interessieren scheinen. Es folgen Hinweise auf die Kompliziertheit der Internetmedien, auf Unterbrechungen und Überlagerungen, die durch die Art und Weise der Kommunikation in den Internetmedien entstehen “Das genutzte Medium strukturiert jeweils das Gesagte mit”. (417) Es geht um Unterschiede zu Zeitungsmedien. Medialität spielt eine besondere Rolle sowie Medienmacht, die Möglichkeit der Massenmedien, Sagbarkeiten zu produzieren. Diskutiert wird das Mediendispositiv als Apparat im Ausgang, ein Verständnis, das dem Begriff des Dispositivs zu Grunde liege. Sodann werden unterschiedliche Medienbegriffe sowie Mediale Kommunikation und Gattungen diskutiert. Massenmedien sollten als Regierungstechnologien verstanden werden. Sie seien Subjektivationsmaschinen. Subjektivation meine dabei den Prozess des Unterworfenwerdens durch Macht und den Prozess der Subjektwerdung. Eine genaue zeichentheoretische Bestimmung fehle jedoch. Diskurs umfasse nicht nur die Inhalte der Äußerungen, sondern auch deren stilistische Gestaltetheit (Schrift, Bilder, Layout etc.). Angesprochen wird auch das Thema der großen Materialmengen bei elektronischen Zeitungsartikeln.

Damit sind mehrere interessante Themen angesprochen, die zum weiteren Nachdenken anregen oder daran erinnern mögen, es liegt jedoch kein (klarer) Diskursbegriff vor und es bleibt völlig unklar, worin denn die angebliche Medienvergessenheit der Diskursanalyse besteht. Den interessierten Medienwissenschaftler aber werden diese teilweise sehr eklektischen Baustellen kaum von der Wichtigkeit der Diskursforschung überzeugen können.

Was aber sind die Vorteile der Diskursforschung, was macht ihre Attraktivität aus gegenüber der Vielfalt der vorhandenen und etablierten interdisziplinär-sozialwissenschaftlichen theoretischen und methodischen Ansätze? Dies scheint die Mehrheit der Autorinnen und HerausgeberInnen dieses ‘Handbuchs’ kaum oder gar nicht zu interessieren. Das kritische Potential von Diskursanalysen kommt in diesem ‘Handbuch’ nur ganz am Rande vor, nämlich fast nur dort, wo es um den Stand der Forschung geht. Und wenn es vorkommt, dann eher in Gestalt von Sprachkritik (zum Beispiel bei Alfonso Del Percio und Martin Reisigl: ‘Angewandte Diskursforschung’, 1, 317-339) oder von Kritik an rhetorischen Tricks (“metapragmatische Marker”) (Jan Zienkowski: ‘Kritisches Bewusstsein durch den Gebrauch metapragmatischer Marker. Eine Kritik des Bologna-Prozesses’, 2, 502-527, Übersetzung aus dem Englischen). Dass es auch um Kritik und Hinterfragung angeblich eherner und ewig gültig scheinender Wahrheiten gehen kann, kommt HerausgeberInnen und AutorInnen offenbar nicht in den Sinn. Für diejenigen, die sich in die Diskursforschung erst einmal einarbeiten möchten, ist dieses angebliche Handbuch daher ungeeignet, für erfahrenere ForscherInnen wenig hilfreich.

Links:

Über das BuchJohannes Angermuller, Martin Nonhoff; Eva Herschinger, Felicitas Macgilchrist, Martin Reisigl, Juliette Wedl, Daniel Wrana, Alexander Ziem (Hrsg.): Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Band 1: Theorien, Methodologien und Kontroversen. Band 2: Methoden und Analysepraxis. Perspektiven auf Hochschulreformdiskurse. Bielefeld [transcript], 2014, 1264 Seiten, 44,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseJohannes Angermuller, Martin Nonhoff, Eva Herschinger et al. (Hrsg.): Diskursforschung. von Jäger, Siegfried in rezensionen:kommunikation:medien, 21. März 2015, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/17341
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