Wolfgang Seufert, Claudia Wilhelm: Mediennutzung als Zeitallokation

Einzelrezension
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Rezensiert von Peter H. Hartmann

Mediennutzung als ZeitallokationEinzelrezension
Während viele Studien persönliche Merkmale potentieller Mediennutzer zu Art und Umfang der Nutzung auf deskriptive Art und Weise in Beziehung setzen, befassen sich andere Untersuchungen mit situationalen Determinanten der Medienwahl. Das vorliegende Buch versucht eine Synthese, indem einerseits die Abhängigkeit der Mediennutzung von der situational verfügbaren Zeit untersucht wird, andererseits aber der Bündelung typischer situationaler Kontexte auf bestimmte Personengruppen Rechnung getragen wird.

Zu diesem Zweck wird die “Medienauswahl als Entscheidung über knappe Ressourcen” (35) konzipiert; folgerichtig versuchen Seufert und Wilhelm zunächst, auf das Standardmodell mikroökonomischer Entscheidungstheorie zurückzugreifen. Die Mediennutzer werden als “homo oeconomici” (17; allerdings in falscher Pluralbildung dieses Menschenbildes) begriffen. Bei der Medienwahl handelt es sich typischerweise um eine Niedrigkostensituation, in der unbewusste Entscheidungsheuristiken eine große Rolle spielen (48). Da sich in Anbetracht pauschaler Rundfunkbeiträge und Internet-Flatrates der finanzielle Preisbildungsmechanismus als wenig relevant erweist (46), plädieren Seufert und Wilhelm für die Nutzung eines um Zeitrestriktionen erweiterten mikroökonomischen Modells. Zwar erscheint ihnen eine Definition unterschiedlicher Preise der Zeit pro Aktivität nicht sinnvoll, aber sie nehmen an, dass die Enge der Zeitrestriktion (das sogenannte “Zeiteinkommen”) bei ein und demselben Individuum je nach Situation variiert (52).

Wie Seufert und Wilhelm theoretisch demonstrieren, variiert die Elastizität der Mediennutzung für verschiedene Medien in Abhängigkeit von der verfügbaren Zeit, und zwar je nach technischen Zugangsmöglichkeiten, dem zur Nutzung erforderlichen Grad der Aufmerksamkeit und möglichen alternativen nichtmedialen Tätigkeiten (57ff.). Interessant ist der Hinweis, dass der Begriff der “Komplementarität” von Aktivitäten in der Kommunikationswissenschaft oft anders gebraucht wird als in der Ökonomie (26, 56). Gemäß ökonomischer Terminologie ist nur dann von Komplementarität die Rede, wenn die Zunahme der Nutzung eines Mediums mit der Zunahme der Nutzung eines anderen einhergeht, weil die Verwendung eines Mediums auch den Nutzen der Verwendung des anderen erhöht. Komplementarität im Sinne des Rieplschen Gesetzes ist also keine Komplementarität im Sinne der Ökonomie.

Um den Effekt verfügbarer Zeit auf die Mediennutzung zu untersuchen, unterscheiden Seufert und Wilhelm drei verschiedene Kategorien von Zeit (60), nämlich erstens Arbeitszeit. Hier ist eine Mediennutzung als Hauptaktivität in der Regel unmöglich, und nur selten können Medien parallel zur Arbeit genutzt werden. Zweitens definieren sie Freizeit, in der Mediennutzung auch als Hauptaktivität möglich ist. Dagegen ist drittens in der sogenannten Reproduktionszeit Mediennutzung zwar möglich, aber in der Regel nur nebenher.

Unter Berücksichtigung der Abhängigkeit von unterschiedlichen Funktionen der Medien und der unterschiedlichen Typen verfügbarer Zeit formulieren Seufert und Wilhelm eine Reihe von Hypothesen (65ff.), gemäß denen Präferenzen und Nutzungsdauer für bestimmte Medien in einer Zeitkategorie keinen Effekt auf Präferenzen und Nutzungsdauern in einer anderen haben und gemäß denen sich die Medienwahl zwischen Werktagen und Wochentagen unterscheidet. Die Zeitelastizität von Medien mit Unterhaltungsfunktion ist bei der Freizeit hoch, während die Zeitelastizität von Medien mit niedrigem Aufmerksamkeitserfordernis bei der Reproduktionszeit hoch ist.

Die vorliegende Studie ist nicht rein theoretisch, vielmehr nutzen Seufert und Wilhelm auch Daten der Media Analyse von 1995 und 2005 sowie Daten der Langzeitstudie Massenkommunikation zum Test ihrer Hypothesen. Die Hypothesentests werden vorwiegend mit Hilfe von Strukturgleichungsmodellen (Amos) vorgenommen; die meisten Hypothesen bestätigen sich (150). Die Gruppierung von Personen nach ihrem Tagesablauf wurde offensichtlich mit dem K-Means-Verfahren, das in SPSS als “Clusterzentrenanalyse” bezeichnet wird, durchgeführt. Da kann man nur hoffen, dass Startwerte in reproduzierbarer Weise explizit vorgegeben wurden; beim von SPSS voreingestellten Startwertfindungsverfahren sind die gefundenen Cluster nämlich oft eine Funktion der (willkürlichen) Reihenfolge der Fälle in der Datei. Ob hier ein Problem besteht, ließe sich durch Umsortieren der Fälle und Wiederholung der Analysen leicht ermitteln.

Zu Recht kritisieren Seufert und Wilhelm, dass die in den Sekundäranalysen verwendeten Daten bei den Mediengattungen und bei der Abfrage der Freizeit zu wenig differenziert sind (169f.). Wenn der Zeitverlauf der Mediennutzung nur für einen Tag in der Woche erhoben wird, ist dies aber kein Problem, so lange diese Tage tatsächlich zufällig ausgewählt wurden (170). Die Darstellung der interessanten Idee, Bourdieus Typologie der Kapitalformen mit der Mediennutzung zu verbinden, erscheint mir dagegen zu knapp. Insbesondere sehe ich nicht, wie aus einem “allgemeinen Habitus-Konzept” (187) in einfacher Art und Weise Hypothesen zur Mediennutzung abgeleitet werden können.

Das Buch ist innovativ und sowohl für Kommunikationswissenschaftler als auch für Ökonomen interessant, da es eine Brücke zwischen beiden Disziplinen schlägt. Die Vielzahl der Datenanalysen ist dagegen nicht immer im Detail klar dokumentiert, auch macht die Art der Ergebnisdarstellung das Buch etwas mühsam zu lesen.

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Über das BuchWolfgang Seufert, Claudia Wilhelm: Mediennutzung als Zeitallokation. Zum Einfluss der verfügbaren Zeit auf die Medienauswahl. Reihe: Rezeptionsforschung, Band 30. Baden-Baden [Nomos] 2014, 233 Seiten, 39,- Euro.Empfohlene ZitierweiseWolfgang Seufert, Claudia Wilhelm: Mediennutzung als Zeitallokation. von Hartmann, Peter H. in rezensionen:kommunikation:medien, 5. Juli 2014, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/16674
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