Ludwig Jäger, Gisela Fehrmann, Meike Adam (Hrsg.): Medienbewegungen

Einzelrezension
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Rezensiert von Johanne Mohs

Einzelrezension
Der im Kölner Forschungskolleg ‘Medien und kulturelle Kommunikation’ entstandene Sammelband Medienbewegungen: Praktiken der Bezugnahme widmet sich dem virulenten medientheoretischen Problem referenzbedingter Bedeutungsdimensionen. Um nachzuvollziehen, wie Sinn allein durch mediale Verortung, Übersetzung oder Verschiebung entstehen kann, schlagen die Herausgeber Ludwig Jäger, Gisela Fehrmann und Meike Adam vor, Verfahrenslogiken der “kulturellen Semantik” (8) zu bestimmen. Den Orientierungsrahmen für die unterschiedlichen Referenzverfahren liefert Ludwig Jäger im ersten Artikel des Bandes unter dem Titel “Bezugnahmepraktiken – Skizze zur operativen Logik der Mediensemantik”. Hier entwickelt er eine von den anderen Autoren des Sammelbandes, vielfach auch explizit, bekräftigte Typologie medialer Operationsprinzipien (vgl. etwa 87, 117, 194). Die insgesamt fünf Varianten seines Entwurfs verpflichtet er einer “Logik der Transkription” (15) und betont damit den von Medien hervorgerufenen Gestaltwandel ihrer Referenten durch Neuschreibung oder Rekontextualisierung. Darstellungsvorgänge zeichnen sich demnach explizit durch intramediale Selbstbezugnahmen und intermediale Fremdbezugnahmen aus, eben durch sinnkonstitutive Bewegungen zwischen verschiedenen Medien oder wiederholten Aktivierungen ein- und desselben Mediums.

Jäger unterscheidet dafür zwischen dem “Spur-Prinzip”, dem “Übersetzungs-Prinzip”, dem “Medialitäts-Prinzip”, dem “Rekursions-Prinzip” und dem “Störungs-Prinzip” (vgl. 22ff.). Letzteres hat sowohl innerhalb des Bandes (vgl. etwa 111f., 122f., 293) als auch generell (vgl. z. B. Kümmel/Schüttpelz 2003, Koch/Petersen/Vogl 2011 oder das 2013 an der Universität Siegen beginnende Forschungsprojekt ‘The principle of disruption’) derzeit die höchste wissenschaftliche Konjunktur. Jäger setzt zwar voraus, dass die vier erstgenannten Prinzipien transkriptiver Bezugnahme erfüllt sein müssen, bevor Störungen eintreten und mediale Transparenz anschaulich machen können. Er scheint sich implizit aber von Auseinandersetzungen des Medialen abzugrenzen, die dessen Sichtbarkeit dezidiert über Negativität (vgl. Mersch 2002, Mersch 2007: 81ff.) oder aus “Störung[en] der Verweisung” (Geimer 2002) heraus bestimmen.

Im Verlauf des Theorieteils der insgesamt in drei Unterkapitel gegliederten Aufsatzsammlung wird Jägers konstruktiver Tenor in der Frage nach der Erkennbarkeit von medialer Übertragung fortgesetzt und vielschichtig mit semiotischen und psychoanalytischen Grundbegriffen abgestimmt. Der unbestreitbare Hauptfokus nahezu aller hier versammelten Beiträge ist Jacques Derridas Differenzbegriff (vgl. etwa 20, 44, 117, 120 f., 168 ff.). Gut fünfzig Jahre nach seiner Formulierung ist das im intellektuellen Pariser Milieu der 1960er Jahre bereits mit ähnlicher Leitfunktion rezipierte Konzept der différance (vgl. etwa Tel Quel 1968: z. B. 71, 396) damit endgültig medientheoretisch etabliert. Einerseits erfasst es die Semantik von Bezugnahmen als etwas grundsätzlich Nachgängiges, das nur über die Materialität vollzogener Zeichenprozesse beschrieben werden kann (vgl. 20). Andererseits macht es, wie Christoph Tholen in seiner kritischen Revision des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs zeigt, Kommunikation als einen medial-performativen Ort der “Mit-Teilung” (52) zugänglich.

Erfreulicherweise beschränkt sich der theoretische Teil aber nicht auf die Auseinandersetzung mit Derrida, denn Erik Porath vergleicht den Moment der medialen Übertragung mit den Eigenschaften von Siegmund Freuds Auffassung des Unbewussten, Michael Wetzel differenziert Medialität u. a. mit Walter Benjamins Übersetzungsbegriff als ein Moment des Passierens oder Vorübergehens aus, Elisabeth Birk erweitert Nelson Goodmans Begriff der Bezugnahme, um mediale Verfahrenslogik beschreibbar zu machen und Sven Trantow arbeitet mediale Referenzproblematiken anhand von Charles Sanders Peirce‘ Zeichenmodell auf. In dieser prominenten semiotisch-philosophischen Verankerung der Transkriptionstheorie hätten allenfalls noch Louis Marins aus der Malerei entwickelte Repräsentationskritik (vgl. etwa Marin 1993) sowie Ludwig Wittgensteins Sprachspiele (vgl. Wittgenstein 2003) Erwähnung finden können.

In den beiden recht nah beieinander liegenden Folgesektionen mit den Titeln “Mediale Verfahren” und “Szenen medialer Bezugnahme” folgen dann exemplarische Untersuchungen von Medienbewegungen aus unterschiedlichen Disziplinen. Positiv ist hier die Weitläufigkeit der Problematiken hervorzuheben, mit denen der Semantik medialer Bezugnahmen in ästhetischen (vgl. hierfür vor allem den Beitrag von Gottfried Boehm, 211ff.), aber auch ethischen (vgl. Oliver Marchart, 163ff.) und erkenntnistheoretischen Bereichen (vgl. Ulrike Bergermann, 175ff.) nachgegangen wird. In Bezug auf das Spektrum von Beispielen ließe sich höchstens, wenn auch keineswegs mehr eine “Sprachvergessenheit der Medientheorie” (vgl. Jäger 2000: 9ff.), so doch eine gewisse ‘Fotografievergessenheit’, kritisch anmerken. Obwohl die aktuelle Fototheorie sich über die hohe Relevanz des Indexikalischen in fotografischen Prozessen einig ist und den Zeichenstatus von Fotografie nicht mehr an ihrer Identität mit dem Referenten ausmacht (vgl. etwa Geimer 2009: 54), sondern an ihrer spezifischen Verweisung auf ihn, widmet sich kein Beitrag der Fotografie. Aber ihr Fehlen wird durch die vielfältige Veranschaulichung des Medialen an Bezugnahmepraktiken aus Literatur (vgl. die Beiträge von Meike Adam, 117ff. und Hanjo Berressem, 137ff.), Architektur (vgl. den Beitrag von Anna Valentine Ullrich, 193ff.), Film (vgl. den Beitrag von Wolfgang Beilenhoff und Sabine Hänsgen, 225ff.), Schamanismus (vgl. den Beitrag von Erhard Schüttpelz, 243ff.), aus der Kulturgeschichte des Schattens (vgl. den Beitrag von Thomas Reinhardt, 261ff.) und musikalischen Widerstandsbewegungen (vgl. den Beitrag von Eckhard Schumacher, 285ff.) problemlos ausgeglichen.

Insgesamt wird mit dem Sammelband auf hohem Niveau eine Theorie lanciert, die in vielen Bereichen der Medientheorie, aber auch in der Bild- und Kulturwissenschaft mit Sicherheit Beachtung finden wird.

Literatur:

  • Geimer, P.: Was ist kein Bild? Zur “Störung der Verweisung”. In: Ders. (Hrsg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie. Frankfurt a. M. [Suhrkamp Verlag] 2002, 313-342.
  • Geimer, P.: Theorien der Fotografie zur Einführung. Hamburg [Junius Verlag] 2009.
  • Jäger, L.: Die Sprachvergessenheit der Medientheorie. Ein Plädoyer für das Medium Sprache. In: Kallmeyer, W. (Hrsg.): Sprache und neue Medien. Berlin, New York [de Gruyter] 2000, 9-31.
  • Koch, L.; C. Petersen; J. Vogl (Hrsg.): Störfälle. Bielfeld [transcript] 2011.
  • Kümmel, A.; E. Schüttpelz (Hrsg.): Signale der Störung. München [Wilhelm Fink Verlag] 2003.
  • Marin, L.: Des pouvoirs de l’image, Gloses. Paris [Seuil] 1993.
  • Mersch, D.: Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis. München [Wilhelm Fink Verlag] 2002.
  • Mersch, D.: Absentia in praesentia. Negative Medialität. In: Kiening, C. (Hrsg.): Mediale Gegenwärtigkeit. Zürich [Chronos] 2007, 81-95.
  • Tel Quel: Théorie d’ensemble. Paris [Seuil] 1968.
  • Wittgenstein, L.: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M. [Suhrkamp Verlag] 2003.

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Über das BuchLudwig Jäger, Gisela Fehrmann, Meike Adam (Hrsg.): Medienbewegungen. Praktiken der Bezugnahme. Paderborn [Wilhelm Fink Verlag] 2012, 320 Seiten, 39,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseLudwig Jäger, Gisela Fehrmann, Meike Adam (Hrsg.): Medienbewegungen. von Mohs, Johanne in rezensionen:kommunikation:medien, 8. Januar 2013, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/11241
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