Rezensiert von Fernando Ramos Arenas
Achtunddreißig interdisziplinär und international ausgerichtete Texte (allerdings mit einem klaren deutschsprachigen Schwerpunkt) versammelt und kommentiert Marcus S. Kleiner, Lecturer an der Universität Siegen im Fach Medienwissenschaft, in dem hier besprochenen Band als relevante Beispiele sozialwissenschaftlicher Medienkritik und greift dazu sowohl auf Aufsätze der “Klassiker” dieses Feldes als auch auf diejenigen von weniger bekannten Autoren zurück. Daraus ist eine umfangreiche Publikation mit drei thematischen Schwerpunkten entstanden: “Theorien”, “Institutionalisierung der Filmkritik” und “aktuelle kritische Medienforschung”.Medienkritik versteht Kleiner als eine gesellschaftliche Medientheorie, welche Kritik an Mediensystemen übt und Reflexionen zum Verhältnis von Medien und Wirklichkeit sowie eine Anleitung zu einem emanzipatorischen Mediengebrauch bietet. Medien und Gesellschaft stellen in diesem Sinne ein spannungsreiches Interdependenzgeflecht dar (vgl. 49). In diesen systematisieren Reflexionen bezieht sich Kleiner des Öfteren auf die 2006 von ihm vorgelegte Monografie Medien-Heterotopien. Diskursräume einer gesellschaftskritischen Medientheorie, die als Basis für den hier besprochenen Band dient (52). Er verfolgt einerseits das Ziel, das Feld sozialwissenschaftlicher Medienkritik im Verlauf von fast 170 Jahren nachzuzeichnen, von Karl Marx‘ “Pressefreiheit und Zensur” aus dem Jahr 1842 bis zum Aufsatz “Kill your Idols! Negativlisten als Herausforderung für die Medienkritik”, der von Kleiner und dem Politikwissenschaftler Jörg-Uwe Nieland 2009 zusammen verfasst wurde; er präsentiert diesen Reader allerdings auch als einen Beitrag zur Institutionalisierung gesellschaftskritischer Medientheorien.
In der sehr informativen Einleitung erfolgt sowohl eine kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Medienkritik und ihrer Dauerkrise, welche der Herausgeber nach einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem aktuellen Forschungsstand in ihrer Marginalisierung innerhalb breiter Bereiche der Medien-, Kommunikations- und Sozialwissenschaften verortet (22f.), als auch eine präzise formulierte Abgrenzung gegenüber anderen Themenkreisen (54), die im Kontext der Medienkritik oft diskutiert werden, aber im vorliegenden Band keine Erwähnung finden (z. B. die Debatte über das Verhältnis von Gewalt und Medien, über Medienethik oder über transkulturelle Kommunikation). Das erste, “theoretische” Kapitel zeichnet dann eine Geschichte der sozialwissenschaftlichen Medienkritik nach, die, bei Marx anfangend, sich bis Douglas Kerners Text “Der Triumph des Medienspektakels” aus dem Jahr 2003 erstreckt. Dabei unterscheidet Kleiner sechs Unterkapitel, welche die Analyse dieser langen Periode strukturieren: Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag (Teil I und II), Theodor W. Adorno, kritische Medientheorien als materialistische Gesellschaftstheorien, fernsehkritische Einzelpositionen und Cultural Studies.
Neben dem bereits genannten Adorno, welcher mit seinen Texten der 1950er und 1960er Jahre zu Fernsehen und Kulturindustrie der am häufigsten vertretene Autor der Publikation ist, sind in der Auswahl auch Texte folgender Philosophen und Kulturtheoretiker zu finden: Ferdinand Tönnies, Jürgen Habermas, Hans Magnus Enzensberger, Raymond Williams oder John Fiske. Der Schwerpunkt auf den deutschsprachigen Raum, auch wenn er bezüglich der Cultural Studies mit britischen und amerikanischen Autoren ergänzt wird, lässt andere Traditionen (z. B. die französischsprachige Medienkritik Jean Baudrillards oder Paul Virilios) leider vermissen.
Die kritische Auseinandersetzung mit dem Fernsehen, die bei der Auswahl der Adorno’schen Texte oder im Unterkapitel zu fernsehkritischen Einzelpositionen – mit Texten von Günther Anders, Neil Postman, Herbert I. Schiller und Klaus Kreimeier – bereits betont wurde, setzt sich im zweiten Teil fort: Sowohl in einem sehr kenntnisreichen Unterkapitel, das unterschiedliche Aspekte einer Institutionalisierung der Medienkritik in Deutschland aufzeigt und die bestehende Kluft zwischen Diskurs und Praxis auf diesem Gebiet überzeugend problematisiert (vgl. 490f.), als auch in einem zweiten, welches die Fernsehkritik als Medienkritik umfangreich und separat behandelt. Anhand der Analyse der Arbeit medienkritischer Institutionen in der Bundesrepublik und ihrer sozialen Relevanz seit den 1960er Jahren (z. B. die Mainzer Tage der Fernseh-Kritik, das Adolf Grimme Institut oder die Stiftung Medientest) sieht sich der Herausgeber in seiner These der Dauerkrise einer an die Gesellschaft gerichteten medienkritischen Tätigkeit bestätigt (z. B. “Medienkritik wird bei den Mainzer Tagen zu einer Stilblüte diskursiver Leere” [494]).
Die Auswahl der Aufsätze des dritten Teils des Buches nimmt Abstand von den bereits kanonisierten Autoren und Texten, welche den Hauptteil des ersten Kapitels bildeten, und widmet sich unterschiedlichen Beispielen einer aktuellen kritischen Medienforschung. Die Entscheidung des Herausgebers, sich unter diesen Texten zweimal vertreten zu lassen (einmal davon als Co-Autor), mag bei manchen Lesern, die an den im Buchtitel formulierten “Grundlagen”-Charakter der hier präsentierten Texte denken, für Irritation sorgen. In diesem, den aktuellen Tendenzen der kritischen Medienforschung gewidmeten Unterkapitel, ist die Auswahl jedoch durchaus zu verstehen.
Der Verfasser bietet auch in den einführenden Passagen der jeweiligen Oberkapitel einerseits eine kritische Auseinandersetzung mit den jeweiligen Texten (die Einführung zu Cultural Studies wird ausnahmsweise von Jörg-Uwe Nieland verfasst, der auch als Co-Autor des Textes zur Institutionalisierung der Medienkritik in Deutschland fungiert), anderseits gibt er genauere Angaben zum Medien- und Kritikbegriff bei den behandelten Autoren, wobei Kleiner immer wieder feststellen muss, dass dieser von der großen Mehrheit der Autoren nicht direkt problematisiert wird.
Diese drei Hauptteile werden durch einen kurzen “Ausblick” (745-751) ergänzt, welcher die wichtigsten Argumente des Bandes rekapituliert und sich als Aufruf zu einer stärkeren Institutionalisierung von Medienkritik im Kontext der Medienpraxis (749) versteht. Zwei Ziele hebt der Autor dabei hervor: Erstens fordert er die Bildung einer Tradition, die es erlauben würde, “Medienkritik nachhaltig in den Sozial-, Medien- und Kommunikationswissenschaften zu verankern” (746). Zweitens sieht Kleiner aber auch die Notwendigkeit, empirisch ausgerichteten Texten der Gegenwart einen Platz in seinem Band zu geben, um den Diskurs gesellschaftlicher Medientheorien in breiteren Kreisen (jenseits einer Expertenbeteiligung) weiter zu fördern.
Auch wenn aufgrund der Breite des hier zu behandelnden Themas die Textkonzeption an Stringenz an gewissen Stellen (vor allem in der 70-seitigen Einleitung) einbüßt, gelingt es dem Herausgeber in den meisten Fällen, theoretische Überlegungen mit den Realitäten der empirischen Forschung sinnvoll zu verbinden. Allerdings sind in den vom Herausgeber selbst verfassten Beiträgen zahlreiche Tipp- und Schreibfehler kritisch anzumerken. Besonders auffallend ist das auch im bereits oben genannten Text “Kill your Idols!”, wenn es um englische Namen von Rockbands und ihren Werken geht.
Trotz der hier geäußerten Kritik handelt es sich um einen sehr informativen, klar strukturierten Band, der sowohl eine gut fundierte Auswahl an Texten als auch deren kenntnisreiche medienwissenschaftliche Eingliederung vorweisen kann. Der Reader empfiehlt sich also nicht nur für diejenigen, die einen Einstieg in die Arbeit der Koryphäen der Medienkritik und in die aktuellen Forschungsansätze suchen, sondern auch für den Leser, der eine fundierte und kritische Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Rolle dieser Disziplin erwartet.
Literatur:
- Kleiner, Marcus S.: Medien-Heterotopien. Diskursräume einer gesellschaftskritischen Medientheorie. Bielefeld [Transcript] 2008.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Marcus S. Kleiner an der Universität Siegen
- Webpräsenz von Fernando Ramos Arenas an der Universität Leipzig