Rezensiert von Markus Rautzenberg
Auf dem Umschlag des von Gottfried Boehm, Birgit Mersmann und Christian Spies herausgegebenen Sammelbands Movens Bild. Zwischen Evidenz und Affekt, der auf die erste Jahrestagung des im Jahre 2005 gegründeten Nationalen Forschungsschwerpunkts “Bildkritik” der Universität Basel zurückgeht, befindet sich eine Arbeit des Künstlers und Fotografen Thomas Struth, die seiner berühmten “Audiences”-Serie entnommen ist. Zu sehen ist die Frontalansicht einer Gruppe von Menschen, die sichtlich gebannt und staunend etwas betrachtet. Die Fotografie zeigt nur diese Augenzeugen, die sich, in bunter Freizeitmontur gekleidet, offenbar in einem Museum befinden, sowie ihre Reaktion auf das Gesehene. Dieses selbst bleibt jedoch im Verborgenen.Passender könnte die Umschlaggestaltung für diese voluminöse Aufsatzsammlung kaum ausfallen, denn in Movens Bild geht es nicht nur um das affektive Potenzial, sondern auch um den für die Theorie in den letzten Jahren zunehmend prekär gewordenen Status der Bilder selbst. Denn die scheinbar einfache Frage “Was ist ein Bild?” – so der Titel einer einflussreichen und prominent besetzten Anthologie, die 1994 ebenfalls von Gottfried Boehm herausgegeben wurde – hat nichts von ihrer Brisanz verloren. Bilder sind durch ihre penetrierende Allgegenwart selbst geradezu unsichtbar geworden – gerade deshalb muss Boehms Frage inzwischen vielleicht umformuliert werden und möglicherweise nun “Was ist kein Bild?” lauten. Boehms Frage wurde zu einer Zeit formuliert, als es noch nicht in jedem Haushalt einen Computer gab und großflächig verbreitetes Breitband-Internet ebenso Zukunftsmusik war wie Youtube, Google Imagesearch oder BluRay. Gerade angesichts der digitalen Medien bewahrheitet sich Marcel Duchamps Diagnose über das 20. Jahrhundert in ihrer ganzen Tragweite: Unsere Zeit ist dem Optischen verfallen.
Umso dringlicher stellt sich für die Autoren von Movens Bild daher die Frage nach dem Affektcharakter, dem Bewegenden der Bilder, denn deren Wirkungsmacht lasse sich – so eine grundlegende These dieses Bandes – nicht auf ihren Sinngehalt reduzieren. In seinem Beitrag “Augenmaß. Zur Genese der ikonischen Evidenz” schreibt Gottfried Boehm ferner: “Es gibt das Wissen nicht und wird es niemals geben, das zu sagen vermöchte, was dieses Sichtbar machende gerade bedeutet. Dennoch haben wir es mit Evidenzen zu tun, verschiedener Prägnanz” (38). Affekt, Evidenz, Prägnanz, das “Sichtbar machende” – diese Begriffe werden gewählt, um ein Doppeltes anzudeuten: Den Autoren geht es zum einen um Bewegung im Sinne der e-motio, der von den Bildern ausgehenden affektiven Bewegtheit des Betrachters. Im Anschluss daran wird zweitens die kinesische Qualität ikonischer Vollzüge selbst thematisiert, was weitreichende Folgen für die Theorie des Bildes hat, denn Bilder zeigen hier ihre Unverfügbarkeit. In der Konfrontation mit Ikonischem ist eine Dynamik am Werk, die einer Eigengesetzlichkeit folgt und sich der Verfügungsgewalt des betrachtenden Subjekts nicht subordiniert. Dieser Eigengesetzlichkeit des Bildes nachzuspüren ist Motivation dieses Sammelbandes.
Auf der Grundlage von postontologischer Phänomenologie und Hermeneutik werden Zugänge zu Phänomenen des Bildlichen favorisiert, die mit strukturalistischen Herangehensweisen ebenso brechen wie mit klassisch kunsthistorischen Methoden (etwa Ikonografie oder Ikonologie). Bildlichkeit wird nicht in ihrer rein dinglichen Faktizität aufgesucht oder auf ihren Sinngehalt hin abgeklopft, sondern in ihrem Widerfahrnischarakter akzentuiert. Das “Movens Bild” ist in einem Dazwischen angesiedelt, weder “Bild im Kopf” noch “Bild an der Wand” (Hans Belting), und genau das entspricht der paradoxen Logik des eingangs erwähnten Titelbildes: Avancierter Bildtheorie kommt es darauf an zu sehen, was nicht zu sehen ist: das – offenbar bewusst ungewöhnlich geschriebene – “Sichtbar machende”.
Vor allem in dem ersten der drei Abschnitte – “Sehen und Wirken” – ist die theoretische Anstrengung beachtlich, mit der Bildlichkeit in ihrer Ereignishaftigkeit konturiert wird. Bernhard Waldenfels etwa analysiert auf der Grundlage seiner “Phänomenologie der Aufmerksamkeit” ikonische Vollzüge als eine Dynamik von Auffallen und Aufmerken. Bilder “springen ins Auge”, da sie sich einem “Doppelereignis” verdanken: “etwas fällt mir auf – ich merke auf” (50). Der Ausgangspunkt der Bilddynamik ist eine Beunruhigung des Blicks, die sich auch störend in die Wahrnehmung einmischen kann. Genau hier zeigt sich die Autonomie des Bildlichen. Diese spielt in den Aufsätzen von Sebastian Egenhofer und Andreas Cremonini ebenfalls eine bedeutende Rolle. Mit Nietzsche sieht Egenhofer in der Gegenstandslosigkeit der Differenz, die im “Ikonoklasmus” der abstrakten Malerei aufscheine, das Residuum einer “präphänomenalen Dynamis“, die alle Bildlichkeit grundiere – eine Art dionysischen Urgrund des Bildes. Mit Lacan attestiert Andreas Cremonini hingegen den Bildern eine “eigentümliche Handlungsform”, die sich etwa im Glanz zeige, der “ins Auge sticht”.
Solchen Überlegungen, die mitunter auch die ganz große philosophische Geste nicht scheuen, sind in den beiden anderen Abschnitten – “Bewegende und bewegte Bilder” sowie “Weisen und Beweisen” – detaillierte Analysen konkreter Bildphänomene zur Seite gestellt. Die Palette des ausgebreiteten Materials reicht dabei von Gerhard Richters “Vorhangbildern” (Christian Spies) über den “Bild- und Affekthaushalt im spätbarocken Sakralraum” (Nicolaj van der Meulen), von “Eisensteins Theorie des Bewegungsbildes” (Hermann Kappelhoff) und antiken Weltbildern (Christoph Markschies) bis zu Präsentationsformen “in Zeiten von Powerpoint” (Sybille Peters).
Allen Texten gemeinsam ist ein ausgesprochen hohes Maß an Detailfülle, dem in den theoretischen Teilen ein ebenso hohes Abstraktionsniveau gegenübersteht. Eine große Stärke dieser Aufsatzsammlung besteht darin, sich nicht mit poststrukturalistischen Allgemeinplätzen aufzuhalten. Auch wird einer in den letzten Jahren immer mehr feststellbaren Fetischisierung des Negativen nicht nachgegeben. Den Positionen ist ein Ringen um die adäquate Beschreibung der Phänomene und ein Streben nach exakter Begriffsarbeit stets anzumerken. Trotz der genannten Qualitäten ist nicht zu übersehen, dass sich die fachliche Ausrichtung des Bandes – entgegen der interdisziplinären Absicht des NFS “Bildkritik” – sehr stark auf Kunstwissenschaften und philosophische Ästhetik konzentriert. Positionen der Medientheorie, Computervisualistik, Design- oder Architekturtheorie findet man hier vergeblich. Dessen ungeachtet liegt mit Movens Bild ein erstes und vor allem vielversprechendes Ergebnis der Forschungen des Baseler eikones-Kreises vor, das sich auf der absoluten Höhe des gegenwärtigen bildwissenschaftlichen Diskurses befindet und mit Sicherheit den Ausgangspunkt für künftige weitreichende Impulse für die noch junge Bildwissenschaft bilden wird.
Literatur:
- Boehm, G.: Was ist ein Bild? München [Wilhelm Fink Verlag] 1994.
- Waldenfels, B.: Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt am Main [Suhrkamp Verlag] 2004.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Gottfried Boehm an der Universität Basel
- Webpräsenz von Birgit Mersmann an der Jacobs Universität Bremen