Rezensiert von Hans-Dieter Kübler
Plattformtheorien wie die von Srnicek (2017) und Seemann (2022) einerseits und umfangreiche Netzgesellschaftstheorien wie die von Castells (2001, 2002, 2003) andererseits gelten als analytische Versuche, die durch die Digitalisierung bewirkten Neuformationen in der (digitalen) Ökonomie oder auch generell den anhaltenden gesellschaftlichen Wandel paradigmatisch in den Griff zu bekommen. Beide Ansätze sind längst noch nicht am Ende, wenngleich sie derzeit weniger engagiert und differenziert vorangetrieben werden.
Anders sieht es der Professor für Kunst und Netzwerkkulturen am Fachbereich Kunstgeschichte an der Universität von Amsterdam in seiner neuesten Veröffentlichung zu Digitalisierung, Internet und Social Media. Häufig verweist er auf ähnliche Bücher, die er bereits zuvor zu diesem Themenkomplex veröffentlich hat. Ein “Buch der Verzweiflung” sei es (in Gedenken an Bernard Stiegler), bekundet er gleich eingangs (9), um hernach (30) zu relativieren, es handele sich “auf der Basis eines tiefen Verständnis der digitalen Krise” um eine “rückfall-resistente Geschichte vom Aufstieg der Plattformalternativen”.
Doch zuvor ruft er das “Zeitalter des Netzwerksterbens” aus, dem die Plattformen “den Rest” gegeben haben (54). Das hindert den Autor jedoch nicht daran, wenige Seiten später zu dekretieren: “Der Inhalt der Plattform ist das Netzwerk” (66). Weitere Gegensätze und Ungereimtheiten finden sich zuhauf. Denn Lovinks Duktus oszilliert ständig zwischen larmoyanten bis kritischen Sentenzen zu unterschiedlichen technischen oder gesellschaftlichen Phänomenen, die er ausführlich mit persönlichen Mails und Zitaten befreundeter Expert*innen illustriert, und unbewiesenen, aber als definitiv deklarierten Behauptungen, für die er beliebig auf die eine oder andere Studie verweist. So heißt es einmal: “Plattformen erzeugen eine psychische Blockade gegen das Denken und Handeln…” (61), und wenige Seiten später: “Digitale Technologien sind zu einem lebenswichtigen Teil unseres Soziallebens geworden und sollten nicht ausgelagert werden” (77) – wiewohl sein gesamtes Buch ein wortreiches, ungestümes Plädoyer dafür ist, digitale Technologien aus dem Alltagsleben und den psychischen Beziehungen der Individuen zu verbannen. Gespickt ist seine Sprache zudem mit immens vielen einschlägigen Insider-Vokabeln und Abkürzungen, die man ständig googeln müsste, um sie zu verstehen.
“Anatomie der Zoom-Müdigkeit”, “Requiem für das Netzwerk”, “Sondierung der Online-Hyper-Sensibilitäten”, “In der Plattformfalle”, “Minima Digitalia”, “Anmerkungen zur Cancel Culture” und zur “Kryptokunst”, “Prinzipien des Stacktivismus” sind die attraktiven, aber kryptischen Überschriften der Kapitel. In ihnen handelt er recht sprunghaft diesen oder jenen Aspekt oder Trend ab, jedoch ohne inhaltliche Stringenz oder gar Systematik. So springt er bei der “Zoom-Müdigkeit” zu allfälligen Erschöpfungen der Covid-Pandemie, verreißt unter Cancel-Culture alle mögliche Zeitabsurditäten und verknüpft Kryptokunst mit Kryptowährungen, um den Kunstmarkt auseinander zu nehmen. Schließlich langt er beim “Stacktivismus” an, definiert als eine Bewegung, die “eine kritische Konversation und Forschungsrichtung (Infra-Spektion?), um Infrastruktur Form zu geben” versucht (183), um gegen die Monopole der Plattformen, die Kommerzialisierung des Netzes durch Social Media und Apps zu kämpfen. Oder noch grundsätzlicher: um gegen die Silicon Valley-Konzerne vorzugehen.
Wie die “Plattform-Falle” umgangen oder gar gesprengt werden kann, eröffnet erst die “Schlussfolgerung”, die mit der “Rekonfiguration des Technosozialen” noch attribuiert wird, einigermaßen konkret und nachvollziehbar: Die Vision richtet sich auf ein neues, dezentrales, öffentliches und weitgehend entkommerzialisiertes, also kommunitarisches Internet, das nicht mehr den IT-Giganten gehört, auch nicht mehr von Staaten mehr schlecht als recht reguliert wird, sondern wie in der (verklärten) Anfangsphase den Nutzer:Innen obliegt und von ihnen gestaltet wird.
Dafür führt Lovink am Ende sechs konkrete Schritte des Vorgehens bzw. der Rückeroberung an. Aber wie solch ein partizipatives, inklusives Netz gegen die “großen Akteure”, die “Null Interesse an Veränderungen haben” (220), die ihr globales, lukratives Geschäftsmodell und ihre Interessen verteidigen (werden), durchgesetzt werden soll, das bleibt “unklar” (ebd.), räumt er ein. Ebenso wenig beschäftigt er sich ausreichend mit der Frage, wo und wie die oppositionellen Akteure rekrutiert werden und wie sie zusammen agieren können, zumal sie fast alle in den Posts, Shares, Likes und Follows der Plattformen unlösbar verfangen sind. Die aktiven NGOs kanzelt er nämlich genauso vehement ab wie die Konzerne. Gleichwohl werden sicherlich darüber noch etliche Kongresse abgehalten, mehr oder weniger realistische, aber attraktive Visionen kreiert und plakative Forderungen verabschiedet, und letztlich auch: noch viele einschlägige, hoffentlich stringentere und nutzbarere Bücher geschrieben. Der sachliche, in der Ebene mühsame Diskurs bleibt da weitgehend außen vor.
Links:
Über das BuchGeert Lovink: In der Plattformfalle. Plädoyer zur Rückeroberung des Internets. Bielefeld [transcript] 2022, 232 Seiten, 28,- EuroEmpfohlene ZitierweiseGeert Lovink: In der Plattformfalle. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 12. August 2024, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/24972