Rezensiert von Hans-Dieter Kübler
“Die Debatte um den digitalen Kapitalismus nimmt weiter Fahrt auf” (9), begründen die Herausgebenden gleich eingangs die Edition dieses wichtigen Readers. Diese Einschätzung mag für einschlägige Kreise kritischer Wissenschaftler*innen gelten, nicht aber für die alltägliche Rede, in der vorrangig von Digitalisierung und Transformation gesprochen wird. Die Spezifizierung auf die potenziell gegenwärtige Formation des Kapitalismus, die ja theoretische wie analytisch-praktische Weiterungen impliziert, fehlt weitgehend. Und wenn man die hier versammelten Beiträge einschlägiger Autor*innen wie C. Fuchs, N. Srnicek, P. Staab, U. Delata und J.-F. Schrape, F. Stalder überfliegt, meiden sie meist die eindeutige politökonomische Zuordnung oder befassen sich mit peripheren Themen. Selbst der ehemals Londoner, nun Paderborner Medienökonom C. Fuchs, der mehrfach marxistische Adaptionen der aktuellen Medienverhältnisse publiziert hat, kommt nach seiner peniblen Durchsicht einschlägiger Kategorien zu der abschließenden Prämisse: “Man sollte den digitalen Kapitalismus in der Gesellschaftsanalyse nicht verabsolutieren, sondern seine Interaktionen und Verschränkungen mit anderen Aspekten der kapitalistischen Gesellschaftsformation untersuchen” (186).
Womöglich räumen die Herausgebenden deshalb im Verlauf ihrer umfangreichen Einleitung ein, dass die in ihrem Sammelband geäußerten Sichtweisen auf den digitalen Kapitalismus “widersprüchlich, facettenreich und (regional) verteilt gefasst”, aber auch “umstritten und kulturell umkämpft” sind (26). Das gilt besonders für damit befassten Disziplinen der “kritischen Politischen Ökonomie” und der “Science and Technology Studies” (STS), die “weitgehend sprachlos nebeneinanderstehen” (9).
Die gut 30-seitige Einleitung dient den Herausgebenden deshalb auch dazu, die oft heterogenen Beiträge, die womöglich partiell zeitdiagnostisch bedingt sind, zum einen zu ordnen – und zwar nach den bewährten politökonomischen “Basiskategorien” (11) Produktivkräfte, Arbeitsorganisation, Wertschöpfung, politische und kulturelle Regulation – und zum anderen von ihnen aus zentrale Konzeptionen und Analysen zu den “Herausforderungen für die Theorie zum digitalen Kapitalismus” zu markieren. Dass diese Kategorien im Reader bei der Bezeichnung der Abschnitte etwas abgewandelt auftauchen, nämlich als Arbeit, Ökonomie, Politik und Öffentlichkeit sowie Kultur und Subjekte und damit wiederum Anstöße für theoretische Pluralität geben können, bleibt unerklärt. Aber: Eine “integrative Theorie des digitalen Kapitalismus, die alle Dimensionen zugleich umfasst, scheint […] unmöglich” (10), konzedieren die Herausgebenden. Also sollen seine Entwicklung, sein Auftreten, seine Funktionen und Modalitäten anhand besagter Kategorien entwickelt und dimensioniert werden.
Den Startschuss für die Entwicklung der modernen Produktivkräfte sehen die Herausgebenden bereits in der Ölkrise (1973/74), die zu einem Rationalisierungsschub mittels computerunterstützter Produktionssteuerung und Automatisierung geführt habe. Darauf entwickeln sich über die so genannte “Lean Production” mithilfe des Internets die Plattformarbeit bis hin zur algorithmischer Arbeitssteuerung heute (13). Die derzeit Furore machende KI kommt noch nicht in das analytische Blickfeld, obwohl sie inzwischen bereits Produktionsabläufe mächtig umkrempelt und ganze Geschäftsmodelle durcheinanderwirbelt. Augenscheinlich ist die Entwicklung so dynamisch, dass vieles schnell veraltet und man mit Theorie und Analyse kaum mehr hinterherkommt.
Allerdings reichen die sechs Beiträge, die unter der Kategorie “Arbeit” versammelt sind, selten in den Kern digitalisierter, automatisierter und robotisierter Industriearbeit, in zentrale Produktionsabläufe und veränderte Arbeitsorganisationen hinein, und auch die via Internet ins Homeoffice verlagerte Dienstleistung wird nicht explizit thematisiert. Erst recht fehlen bis auf eine Ausnahme analytische Einblicke in Finanzierungsstrategen und kapitalistische Wertschöpfungsmodalitäten.
Stattdessen befassen sich die Beiträge zunächst mit Typen von Hausarbeit – trotz aller Werbung für das Smart Home nicht gerade der primär digitalisierte Sektor –, mit der resistenten Figur des männlichen Unternehmers auch in digitalen Unternehmen, der Bedeutung der Plattformökonomie, der Contentkontrolle in den dunklen Ecken des Internets, mit der Wertschöpfung digitaler Plattformen in der Industrie zumal als kombinierte Infrastruktur von Daten, Datenanalysen und Clouds, und endlich mit einer umfassenden, eher heuristisch zu verstehenden Theorie der digitalen Transformation der Arbeit. Für die Zukunft avisiert sie, dass die industrielle Arbeit “nicht ‘nachindustriell’ (Bell), sondern durch neue Industrialisierungsformen gekennzeichnet” sei, die nicht mehr “vorrangig am Maschinensystem selbst, sondern an der Informationsebene und dem ‘digitalen Fluss von Daten'” ansetzen. Dennoch dürften die “Arbeitswelten nicht selten durch digitale Fließbänder, rigide Formen algorithmischer Kontrolle und prekäre Arbeitsverhältnisse auf digitalen Plattformen gekennzeichnet” sein (159). Von neuen produktiven Optionen offenbar kaum eine Spur!
Der zweite Abschnitt fokussiert die “Ökonomie” des digitalen Kapitalismus. In ihrer Einleitung argumentieren die Herausgebenden sehr grundsätzlich, auf der Basis von Marx‘ Politökonomie: Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse, Wertschöpfung, Kapitalzirkulation werden knapp adressiert und sodann auf die Probleme in der digitalen Ökonomie adaptiert. Fragestellungen werden durchaus konkurrierend zur einschlägigen Literatur behandelt: Wird die Wertschöpfung noch primär in der Produktion privater Unternehmen verortet oder liegt sie doch eher bei den “Distributivkräfte[n]” (Pfeiffer)? Oder: Ob die ganze „Gesellschaft zur Fabrik“ wird, „weil informationelle Arbeit nicht nur in der Ökonomie, sondern tendenziell überall, etwa von produktiven Konsument*innen, geleistet wird“ (17). Eine weitere Frage richtet sich auf das Wie der digital-kapitalistischen Wertschöpfung und -aneignung. Dazu gibt es ebenfalls verschiedene theoretische Konzepte. Schließlich lässt sich nach den Organisationsformen der Ökonomie im digitalen Kapitalismus fragen: Netzwerk, Plattform oder Ökosystem (18)?
Die versammelten sieben Beiträge geben auf diese Fragen allenfalls partiell Antwort. Eingangs inspiziert – wie schon erwähnt – C. Fuchs anhand der klassischen Politökonomie-Kategorien, ob und wie neu (oder anders) der digitale Kapitalismus im Vergleich zum traditionellen ist und kommt eher zu besagtem zurückhaltenden Ergebnis. Sodann nähert sich der Plattform-Theoretiker, N. Srnicek den ökonomischen Potenzialen von KI an und betont dabei die Parameter Daten, Datenverarbeitung und Arbeit.
Der folgende Beitrag zeigt auf, dass digitale Angebote wie Apps, Online-Services, digitale Plattformen etc. für die sich verschärfende Krise im Care-Sektor nur scheinbare Lösungen bereithalten und die Sorgelücken nicht schließen können. Könnte “der mit Prozessen der Digitalisierung erwartete fundamentale sozioökonomische Transformationsprozess auch die notwendige sozial-ökologische Transformation vorantreiben?”, fragt der folgende Beitrag (227) richtungsweisend. Diese hochbrisante Frage, die die vielbeschworene Interdependenz wischen Ökonomie und Ökologie aus kritischer Sicht thematisiert, muss der Autor negativ bescheiden: Solange das Wirtschaftswachstum immer noch die “zentrale Legitimationsressource demokratisch-kapitalistischer Staaten” ist und auch ihre sozialpolitische Leistungsfähigkeit strukturell davon abhängt, muss er einräumen, obsiegt der “Kreislauf der sozial-ökologischen Nichtnachhaltigkeit” (242). Nur eine “große Emanzipation” (ebd.) – so das Schlusswort – könne ihn überwinden.
Als proprietäre Märkte hat P. Staab (2019) die inklusiven Marktstrategien der großen Internet-Konzerne beschrieben und darauf seine Theorie des digitalen Kapitalismus begründet. Andere erachten sie eher als komplexe Ökosysteme, in denen sich Macht, Kontrolle und Rentengewinne realisieren. Wie sie diese Rentengewinne konkret erwirtschaften, zeigt der folgende Beitrag anhand vier verschiedener Typen. Danach fragt der vorletzte Beitrag, wie sich Privateigentum im digitalen Kapitalismus infolge wachsender informationeller Produktion entwickeln wird. Denn Wissen, Information und Daten werden vermehrt zu funktionalen Äquivalenten, die Mehrwert und Profit generieren. Natürlich gibt es neben ökonomischen auch juristische Probleme. Dass digitaler Kapitalismus auch in einer globalisierten Welt nicht überall gleich ist und somit nicht in der Einzahl firmiert, arbeitet einer der wenigen international vergleichenden, daher zu begrüßenden Beiträge an der Gegenüberstellung zwischen den digitalen Ökosystemen der USA und der VR China heraus. Ungehinderte Expansion und Ausbeutung, freies Unternehmertum und möglichst weltweiter Absatz auf der einen Seite, Merkantilismus, staatliche Regulierung und Planvorgaben, Überwachung, primär nationale Wettbewerbsfähigkeit auf der anderen, stehen sich zunächst diametral gegenüber. Und doch zwingt die fortschreitende Globalisierung die Rivalen in Konkurrenz und Konvergenz.
Daran kann der dritte Abschnitt mit dem Schwerpunkt der (staatlichen) Regulation unmittelbar anschließen. Da das “Zusammenspiel von Produktion, Zirkulation bzw. Distribution, Konsumtion und nun auch Reproduktion” im Kapitalismus “eigentlich höchst unwahrscheinlich” (20) und krisenhaft sei, argumentieren die Herausgebenden, bedürfe es der institutionellen Koordinierung, genauer: der Regulation, in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Form. Andererseits seien neue Medientechnologien seit Brechts Radiotheorie wiederholt mit “Hoffnungen auf Demokratisierung, Partizipation und kritische Gegenöffentlichkeit” (22) verbunden worden – zuletzt die Sozialen Medien, die zunächst dezentral strukturiert und damit offen für soziale Bewegungen waren. Doch inzwischen seien sie den strukturellen Kautelen der “Privatisierung, Kommodifizierung und Monopolisierung” (24) unterworfen, die nur noch nach politischer “Re-Regulierung” verlangen (ebd.).
Diese (Fehl-)Entwicklungen haben dazu geführt – so P. Staab im ersten Beitrag des Abschnitts –, dass sich inzwischen “ambitionierte und komplexe Kritiken des digitalen Kapitalismus formiert und sich teils sehr konkrete politische Konflikte”, etwa um die Regulierung großer Plattformen, entfaltet haben (308). Dafür skizziert er Entwicklungsrichtungen des sozialen Konflikts, der sich im Grunde um die Transformation von ‘Marktrationalität’ dreht (308). Nach der analytischen Sichtung diverser Stoßrichtungen und Argumentationsstränge lassen sich im wesentlichen zwei “grundsätzlich unterschiedliche normative Orientierungen innerhalb der Kritik des digitalen Kapitalismus” (324) identifizieren: Die eine rekurriert auf “Fairness in der Linie liberaler Marktrationalität”, die andere befürwortet “digitale Planrationalität im Dienste adaptiver Herrschaft” (ebd.). Aber diese Positionen finden sich derzeit vor allem in der politischen Elite, keine (oder auch keine andere) werde von breiteren sozialen Bewegungen getragen, so dass eine “Ordnung jenseits von Markt und Technokratie” (325) nicht in Sicht ist.
Konkreter untersucht der nächste Beitrag Aushandlungsprozesse der betrieblichen Digitalisierung und sortiert die Machtverhältnisse zwischen Beschäftigten, Management und Betriebsleitung. Eher wieder strukturtheoretisch entwirft der folgende Beitrag (von U. Dolata und J.-F. Schrape) “eine kurze Ökonomie der Regulation kommerzieller Internetplattformen” (24). Untersucht werden Veränderungen ökonomischer Prozesse und Verwertungsmuster, soziale Zusammenhänge und gesellschaftliche Verhältnisse sowie die Chancen zivilgesellschaftlicher Einflussnahme und politischer Regulierung. Dass sich Öffentlichkeit durch Social Media und Plattformen strukturell verändert (und damit Habermas‘ Historiographie fortgeschrieben werden muss), liegt auf der Hand. Der sich damit befassende Beitrag legt ein besonderes Augenmerk auf die “Affektmaschine” Social Media und markiert – nicht ganz nachvollziehbar – mögliche Fluchtlinien im “Umwelt-Werden” von Plattformen und ihrer Diskursräume, wie es Metaverse derzeit bereits avisiert (380ff).
Gibt es Alternativen zum digitalen Kapitalismus? fragt der folgende Beitrag. Eine mögliche wäre der so genannte “Plattform-Kooperativismus”, also ein genossenschaftliches Betriebsmodell. Das muss allerdings erst noch unter Beweis stellen, ob es Verbesserungen oder gar Veränderungen erzielen kann, zumal es den diversen Widersprüchen zwischen Politik und Ökonomie, Demokratie und Markt, Gemeingut und Kommerz, Aktivismus und Unternehmertum nicht ohne weiteres entkommt. Am Beispiel diverser Twitter-Kampagnen wie #blacklivesmatter untersucht die Herausgeberin T. Carstensen die Konflikte und Kämpfe um Online-Öffentlichkeiten. Dabei geht es primär um Verhandlungen von Ungleichheitskategorien wie gender, race und class. Schließlich prognostiziert der letzte Beitrag in diesem Abschnitt mit einem Rückblick auf den Cyberfeminismus die feministischen Herausforderungen für das 21. Jahrhundert, indem er “Ansatzpunkte für einen technomaterialistischen ‘Xenofeminismus'” entwickelt, “der sich von der Politik der Identitätslosigkeit abwendet” (25).
Mit kulturellen Formierungen, Subordinationen, aber auch Deliberationen und Deutungsmustern befasst sich der letzte Abschnitt, ebenfalls mit (kultureller) Regulation überschrieben. In einem knappen Abriss zur Entwicklung der Computertechnologien rekonstruieren die Herausgebenden die an diese herangetragenen Erwartungen und Befürchtungen, von zunächst kulturpessimistischen bis hin zu euphorischen Einschätzungen in den 1990er Jahren. Inzwischen scheint man großenteils vor der Macht der Bots, Roboter, Algorithmen und KI resigniert zu haben, da man ohnehin gegen die omnipotenten Technokonzerne nicht angehen kann. Oder man pflegt sogar einen relativ sorglosen Umgang mit den (auch personenbezogenen) Daten und goutiert die Bequemlichkeit der digitalen Dienste, Plattformen und Apps.
Die fünf versammelten Beiträge zeichnen einige der kulturellen und subjektbezogenen Aspekte nach. Mit der Kategorie des “Neofeudalismus” vergleicht der erste Beitrag Umgangsweisen mit digitalen Kommunikationstechnologien in den 1990er Jahren und heute und entdeckt schleichende Habitualisierungstendenzen. Ebenso etwas unkonkret, wenn nicht gar kryptisch spürt der nächste Beitrag dem “Geist des digitalen Kapitalismus” nach und entdeckt ihn in der “Rechtfertigungsordnung der Solution […], in der sich Wertigkeit über das Lösen von Menschheitsproblemen mit technologisch-unternehmerischen (und nicht etwa politischen) Mitteln definiert” (468). Ob sich dafür der digitale Kapitalismus eignet?
Die Formierungen durch die numerische Zeit waren schon immer ein Thema von Sozial- und Kulturgeschichte. Der folgende Beitrag appliziert sie auf die digitalen Technologien und Infrastrukturen und postuliert am Ende viele Forschungsfragen: etwa nach Beschleunigung und Zeitdruck, Zeitsouveränität und Kontrolle in der Familie und im Beruf, nach der Bewertung der Zeit in soziologischer Hinsicht, zwischen den verschiedenen Klassen, unter den Geschlechtern, Älteren und Jüngeren und ihrer jeweilige Involviertheit in Arbeit, Familie und Care-Arbeit.
Danach analysiert F. Stalder digitales Commoning im Spannungsverhältnis von Gemeingut und deren privatkapitalistischer Aneignung. In der Praxis sei es weitgehend erreicht, Commons zu verzwecken und als warenähnliche Dienstleistungen zu vermarkten. Dennoch glaubt Stalder am Ende, dass “das Potential der Commons [ …] noch nicht ausgeschöpft [ist]” (513).
Welche Formen der Selbsterkenntnis die Algorithmen auf digitalen Plattformen kreieren, untersucht schließlich der letzte Beitrag. Die Antwort ist komplex und unbefriedigend: Da Algorithmen ermöglichen, die Welt zu erkennen, eröffnen sie dem Subjekt auch die Option der Selbstreflexion. Aber diese bleibt äußerlich und schematisch, weil sie der natürlichen Sprache entbehrt. Erst die Sprache ermöglicht Selbstreflexion und “erlaubt es der Vernunft, das Selbst zu reflektieren und zu untersuchen und damit die Bedingungen für die Möglichkeit des beobachteten Verhaltens zu verändern” (S. 531). Die riesigen Datenmengen, die die digitalen Ressourcen anbieten, können zwar ein technisches Selbst modellieren, aber zu einer “emanzipierteren Subjektivität” (532) können sie kaum beitragen.
Was sind nun die „zukünftigen Herausforderungen“ (S.30ff) der digitalen Technologien, die sich für Forschung und Theoretisierung stellen? Drei formulieren formulieren die Herausgebenden am Ende ihrer Einleitung, nämlich “1. eine stärkere produktivkrafttheoretische Unterfütterung, die herausarbeitet, was das diesbezüglich Neue am digitalen Kapitalismus ist
2. ein konsequentes Zusammendenken von Produktion und Reproduktion – auch mit Blick auf ökologische Fragen, 3. die Weiterentwicklung intersektionaler und international vergleichender Perspektiven” (31).
Die Ausführungen dazu können und sollen nicht im Detail rekapituliert werden. Hinsichtlich der Produktivkräfte registrieren die Herausgebenden, dass “das entscheidend Neue am Digitalen […] erstaunlicherweise nur selten direkt adressiert” [wird]. Was heißt denn “algorithmische Steuerung” aller Lebensbereiche, von Arbeit bis Intimleben, konkret, “ein Leben in virtuellen Welten”? (32). Da ist noch vieles unklar (und dürfte es auch bleiben).
Die “Konkretisierung digitaler Produktivkraftpotenziale” verkörpert jedenfalls eine enorm wichtige Forschungsaufgabe, nicht zuletzt “im Hinblick auf die krisenhafte Abspaltung der sozialen und ökologischen Reproduktion der Produktion” (33). Die Forderung, Produktion und Reproduktion zusammenzudenken, bezieht sich auf viele bislang kaum einbezogene Bereiche, die im Vergleich zur klassischen Produktion immer noch als randständig erachtet werden. Nach wie vor steht die Rationalisierung menschlicher (Industrie-)Arbeit im Fokus, die als algorithmische Arbeitssteuerung, als Leitung und Kontrolle menschlicher Arbeit mittels Computerprogramme verstanden wird. Aber Digitalisierung und Algorithmisierung erfassen auch bislang periphere Sektoren wie Medizin, Gesundheitswesen, Pflege, Dienstleistungen, Care- und Haushaltsarbeit etc. und unterwerfen sie der Kommodifizierung.
Umgekehrt wird meist ignoriert, welche immensen ökologischen Kosten die Digitalisierung verlangt: Sie ist beileibe keine “immaterielle Arbeit”, wie immer wieder behauptet wird. Denn sie verlangt den Abbau von Rohstoffen, benötigt enorme Mengen von Wasser und Energie sowie prekäre Arbeit in den Rohstoffe liefernden Ländern, wodurch sie die dortigen Umwelt und Lebensverhältnisse belastet. All diese Zusammenhänge müssen recherchiert und erforscht werden, wofür auch antikolonialistische und indigene Perspektiven ratsam sind. Längst hat die Debatte um den digitalen Kapitalismus noch nicht die theoretische Interdependenz und Sensibilität zumal für die Länder des globalen Südens und deren sozialen Bewegungen erreicht, wie der unterstellte Anspruch eigentlich impliziert. Deshalb sind Reader wie der vorliegende wichtig und bedürfen unbedingt der Fortführung.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von PD Dr. Tanja Carstensen an der Universität Hamburg
- Webpräsenz von Dr. Simon Schaupp an der Universität Basel
- Webpräsenz von Dr. Sebastian Sevignani an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
- Webpräsenz von Prof. Dr Hans-Dieter Kübler beim Verein Gesellschaft – Altern – Medien e. V