Sascha Friesike, Johanna Sprondel: Träge Transformation

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Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Einzelrezension

Woran liegt es, dass Deutschland laut dem “Digital Riser Report” 2021 in Bezug auf seine digitale Wettbewerbsfähigkeit in Europa fast Schlusslicht ist, nur noch unterboten von Albanien? Das fragen sich die beiden Autor*innen, der eine Professor für Design digitaler Innovationen an der Universität der Künste Berlin und Direktor des Weizenbaums-Instituts für die vernetzte Gesellschaft, die andere Professorin für Medien, Kommunikation und Marketing in Stuttgart. Es scheint daran zu liegen, explizieren die Autor*innen, dass hierzulande digitale Transformation nicht in ihren basalen Dimensionen erfasst wird (ob dies andere Nationen besser können, bleibt ungeklärt).

Digitalisierung als “Übersetzung von Analogem in Digitales”, bei der sich nur die “Form, in der etwas dargereicht wird” (11) ändert, nicht aber das Produkt oder das System als ganzes, funktioniere hierzulande “letztlich recht gut“ (10). “Transformation” hingegen sei ein Prozess, bei dem “etwas grundlegend” verändert wird, ein neues Produkt geschaffen oder ein “vorhandenes Produkt auf ein neues Level seiner Existenz” (12) gehoben wird. Anders formuliert: Während die “Digitalisierung ein eindeutiges digitales Abbild präsentiert, bei dem jede und jeder sich von seiner Qualität dadurch überzeugen kann, dass man das Ergebnis direkt mit dem Original vergleicht, charakterisiert die digitale Transformation eine grundsätzliche Ergebnisoffenheit”, denn das Ergebnis ist jeweils “das Resultat eines anspruchsvollen, kontinuierlichen Aushandlungsprozesses” (13) zwischen allen Beteiligten (17). Ob diese theoretisch getroffene Unterscheidung in der Praxis uneingeschränkt bestätigt wird, bleibt fraglich.

Jedenfalls entdecken die Autor*innen bei ihrem Blick auf sie “bestimmte Merkwürdigkeiten”, und zwar sowohl “in Bezug auf das Verständnis als auch die Durchführung der Transformationsprozesse” (17). Dafür haben sie acht “Missverständnisse” identifiziert, die sie in “kurzen Essays” erläutern und zurechtrücken wollen. In Kürze sind es folgende: Zuerst der (verständliche und verbreitete) Wunsch, “den digitalen Wandel durch eine möglichst weitreichende Vision anzustoßen, die gerne so entkoppelt von der Gegenwart entworfen wird, dass sie die tatsächliche Arbeit am Transformationsprozess demotiviert” (17). Dieser Realitätsblindheit und Praxisferne lasse sich nur begegnen, indem verfügbare Ressourcen von Menschen, Technik und Material präzise und transparent geprüft und erforderliche Produktionsabläufe realistisch eingeschätzt werden.

Das zweite Missverständnis sei eine “ausgeprägte Technologiehörigkeit, die davon ausgeht, dass moderne Technologien so potent sind, dass ihre bloße Anwesenheit bereits zu Lösungen führt” (17). Allein gründliche Analysen des zu lösenden Problems, wobei Technologien nie Selbstzweck sein können, können solchen “Technochauvinismus” (31) überwinden. Wenn geklärt ist, was genau erreicht, geteilt und vermittelt werden soll, kommt man dem Ziel nahe. Das “schafft im Zweifel mehr Vertrauen als eine einzelne Technologie” (33).

Das nächste Missverständnis sei die Wahrnehmung wachsender Beschleunigung in allen Lebensbereichen, die, übertragen auf Transformationsprozesse, zu ‘Schnellschüssen’ führt. Ihr könne entgangen werden durch gründliches Nachdenken über die Vielschichtigkeit und Tiefe des vorfindlichen Problems, womit oftmals seine kontinuierliche Entfaltung und verzweigte Verwurzelung entdeckt werden. Die gängigen Tools, um Komplexität zu reduzieren, verkürzen und amputieren meist diese Dimensionen. Aber schnell sei nicht zwangsläufig besser als gut.

An dieses zwanghafte Tempo schließt sich die Annahme an, “dass die eigene Innovationsfähigkeit allein dadurch ausgereizt werden kann, dass man sich immer intensiver vernetzt und dass nur das, was neu ist, auch gut ist” (18). Aber “Open Office” und hippes Mobiliar, permanente Erreichbarkeit und unentwegte Online-Kommunikation machen Arbeit nicht per se intensiver und produktiver. Ebenso wenig sorgt mehr Transparenz “automatisch dafür”, “dass Informationen sichtbarer werden und man um jeden Preis von Start-ups lernen muss” (18).  Vielmehr berge die Forderung nach Transparenz ein Paradox derart, dass sie nur dort sinnvoll ist, wo keine Information vorliegen; wo aber Informationen verfügbar sind, sei es oft sinnvoll, sie zusammenzuführen, zu illustrieren, einfacher durchsuchbar und vergleichbar zu machen. Ebenso seien Start-ups und ihre Methoden nicht per se Allheilmittel, vielmehr gilt es von allen Organisationsformen und Erkenntnisquellen zu profitieren, denn im Kern müsse man aus Erfahrungen anderer lernen und sie in den eigenen Kontext übersetzen.

Auch “Disruption“ – oder wie Joseph Schumpeter sagte: “schöpferische Zerstörung” – gehöre zu den allfälligen “Mode- bzw. Buzzwörtern der Digitalisierung”, entsprechend inflationär oder gar falsch werde es genutzt. Aber nur selten gehe ein Unternehmen oder ein Produktionsprozess gänzlich unter und werde durch etwas Neues ersetzt; vielmehr ereignet sich Innovation in den meisten Branchen und Unternehmen kontinuierlich, in der ständigen Optimierung von Prozessen und Produkten. Schließlich seien Forderungen nach einer “neuen Fehlerkultur” notorisch geworden, da digitale Transformationsprozesse von einer gewissen “Zielunschärfe” geprägt sind (73). Aber völlige Kalkulierbarkeit oder gar Kalkuliertheit des Risikos könne es bei offenen und zielunscharfen Transformationsprozessen nicht geben; auch wenn unvermeidlich Fehler gemacht werden, können sie sich später als “Learning Opportunity” entpuppen (80).  

Ob diese Hinweise und Einordnungen von angeblich üblichen “Denkfehlern” in Wirtschaft, Organisationen und Verwaltungen so erheblich neu und erkenntnisfördernd sind und zu gesteigerter Produktivität und Effizienz digitaler Transformationsprozesse führen, muss jede/r für sich entscheiden. In jedem Fall zeugen diese Erläuterungen von der selektiven Perspektive der Management- und Organisationsforschung (die die Autor*innen nicht problematisieren) und sind für medien- und datenwissenschaftliche Erkenntnisse nur begrenzt erhellend.

Wieder einmal zeigt sich, dass der “digitale Wandel” ungleich breiter, vielschichtiger und multifaktorieller zu konzeptualisieren ist und von keiner Disziplin gänzlich abgedeckt werden kann.  

Links:

Über das BuchSascha Friesike, Johanna Sprondel: Träge Transformation. Welche Denkfehler den digitalen Wandel blockieren. Stuttgart [Reclam] 2022, 92 Seiten, 6,- Euro.Empfohlene ZitierweiseSascha Friesike, Johanna Sprondel: Träge Transformation. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 6. Dezember 2023, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/23949
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