Rezensiert von Hans-Dieter Kübler
Wenn die größte deutsche Bildungsgewerkschaft, die GEW, einen Sammelband zur “digitalen Transformation von Bildung” (114) verantwortet und damit eine “Pädagogik des 21. Jahrhunderts im Kontext der Digitalisierung” annonciert, dann dürften die Leser*innen – vorwiegend wohl pädagogisch arbeitende Mitglieder – erwarten, dass ihnen der neueste Stand dieser einschneidenden Entwicklungen, die voraussichtlich alle Lebensbereiche umkrempeln, neue Ziele und Zugänge einfordern und womöglich Bildung und Erziehung ganz neu zu konzipieren verlangen, möglichst fundiert, umfassend und mit wissenschaftlicher Evidenz präsentiert wird. Erforderliche pädagogische Konzepte sollten mit ebensolcher Qualität, aber auch mit Pluralität und mit dem Aufweis ihrer praktischen Relevanz und Verwendbarkeit dargestellt und begründet werden.
Diese Erwartung löst dieser Sammelband allenfalls in Ansätzen ein. Freilich muss dabei bedacht werden, dass besagte Umwälzungen rasant, brachial, unsystematisch und oft auch zunächst unentdeckt erfolgen, so dass wissenschaftliche Beobachtung und pädagogische Reflexion stets nachhängen. Solche Verspätungen und Unübersichtlichkeiten sollten jedoch eingestanden und mitreflektiert werden, so dass die Leser*innen selbst mitdenken sowie zu Fragen und Reflexionen motiviert werden können.
Solche Offenheit und konstruktive Suchbewegung sollte für alle künftige pädagogischen Konzepte gelten und müsste schon an den vermeintlich bewährten Basiskategorien beginnen: Weder ‘Medien’ noch die in den 1970er Jahren für ein ganz anderes Medienumfeld geschöpfte ‘Medienkompetenzen’ sind eindeutige, klar umrissene Begriffe. Zudem werden sie mit den Digitalisierungsprozessen noch weiter geöffnet, unklarer und für analytische Vorhaben zunehmend unbrauchbarer – weshalb auch in diesem Sammelband neben ihnen viele andere Begriffe kursieren. Alle vorgeblich präzisen Definitionen und akribische Unterteilungen führen da nicht weiter, eher – zumal für die pädagogische Praxis – in die Irre.
Allein ein theoretischer Beitrag stellt sich dieser grundlegenden Revision und konstruktiven Neubesinnung: Statt “immer mehr Wissensdomänen aufzuschichten und diese als Voraussetzung für Medienkompetenz zu titulieren”, plädieren dessen Autor*innen A. Hartung-Griemberg und W. Reissmann dafür, “die je spezifische Positioniertheit und Lebenshorizonte der Adressat*innen ernster zu nehmen”. Als leitende Kategorie postulieren sie “Orientierung”, für die sie drei “Querschnittsfähigkeiten” beschreiben, die zusammen eine “Haltung” begründen (76): nämlich die Fähigkeit zur “biographischen Zusammenhangsbildung”, die die Subjekte infolge der wachsenden Kontingenz und Komplexität der Lebenslagen immer stärker selbst leisten müssen (83), die “Fähigkeit der schöpferischen Auseinandersetzung”, um Wirklichkeit und Selbst-Welt-Bezüge kreativ zu erfahren und gestalten zu können (86), und schließlich die “Fähigkeit zur solidarischen Mitgestaltung”, um in medientechnologischen und -ökonomischen (Sach)Zwängen gemeinsame Spielräume zu erobern und demokratische Alternativen möglich werden zu lassen (86). Das soll nur eine Leitidee sein, die längst noch nicht komplett und pädagogisch ausbuchstabiert ist. Aber gewiss lässt sie sich als konstruktive Anregung begreifen, um zum einen der Größe und Wucht der Umwälzungen intellektuell auf Augenhöhe zu begegnen und daraus pädagogische Konzepte zu entwerfen, und um zum anderen aus dem überholten Kleinklein überbordender Kompetenzbeschreibungen und -forderungen herauszukommen. Doch die anderen Beiträge knüpfen an diesen Vorschlag nicht an.
Zwar kündigt das Vorwort von GEW-Verantwortlichen an, dass “renommierte Medienpädagog*innen” die “tiefgreifenden Auswirkungen auf die Pädagogik” (11) thematisieren, einen im “Zuge der Digitalisierung veränderten Medienbegriff” aufzeigen und so theoretische Perspektiven für Lehren und Lernen “im Kontext” oder “vor dem Hintergrund” der Digitalisierung (11) – da sind die einleitenden Herausgeber*innen unentschieden – unter dem “Primat des Pädagogischen” entwickeln und begründen. Aber das so Angekündigte bleibt fragmentarisch. Entsprechend bauen im zweiten Teil des Bandes die Berichte der pädagogischen Praxis aus sämtlichen Bildungsfeldern nicht darauf auf, sondern formulieren ihre eigenen Konzepte, Ziele und Erfahrungen nach Gutdünken. Sie artikulieren diverse Forderungen der GEW und gehen auch darüber hinaus. Genereller Bezugs-, für viele Reibepunkt ist das KMK-Papier “Bildung in der digitalen Welt” (2016), das im Dezember 2021 immerhin eine “Umsetzung” und aktuelle Konkretisierung erfahren hat, die offenbar nicht alle kennen. Für einige der ‘theoretischen’ Autor*innen ist dieses KMK-Konzept (beispielhaft) “nichts anderes als die Adaption der Bildung an die digitale Technik” (39). Die Praktiker*innen erkennen hingegen durchaus konkrete Forderungen etwa für die Infrastruktur, die technischen Ausstattung und Unterstützung (an), aber auch für die eine oder andere curricular-didaktische Konzipierung und mahnen eher deren bislang ausgebliebene Umsetzung und Verwirklichung an.
Die vier ‘theoretischen’ Artikel sind in zwei Abschnitte unterteilt. Der erste ist mit dem leicht merkwürdigen Titel “Primat des Pädagogischen und Digitalisierung der Lernprozesse” überschrieben, zumal beide Beiträge eher auf Entwicklungen in Gesellschaft und Medien fokussiert sind. Zunächst skizziert H. Niesyto den digitalen Kapitalismus als neue oder nächste Formation des Kapitalismus und zeigt grundlegenden Affinitäten zwischen kapitalistischen und digitalen Strukturprinzipien auf. Vor allem moniert er den “Vormarsch der IT-Wirtschaft im Bildungsbereich” und setzt eine “kritische Medienpädagogik” dagegen, mit einem “umfassenden Verständnis von Medienbildung und Medienkompetenz” (32), was angeblich die “digitale Bildung” nicht zu leisten vermag.
Danach liefern B. Schorb und F. Schell einen knappen, etwas einseitigen Abriss der Medienentwicklung und der medialen Situation heute und postulieren als Ziel einer “handlungsorientierten Medienpädagogik” “souveräne gesellschaftliche Subjekte”, die die Digitalisierung einerseits kritisch begleiten (“bis hin zum Widerstand”), andererseits sie auch als “Chance” für kreative, emanzipatorische Vorhaben nutzen (53).
Der zweite Abschnitt “Lehren und Lernen im Kontext der Digitalisierung” enthält als ersten den Beitrag von T. Hickfang, der ein “gesteigertes Interesse an der ‘didaktisch sinnvollen’ Integration von digitaler Technik” (57) konstatiert. Weiters definiert er digitale Medien als “Computerartefakte” (59), von deren kompetenter Handhabung er “expansivere” Formen des Lernens bzw. “Transformationen” im Bildungsbereich erwartet (70f). Bereits angesprochen wurden die von A. Hartung-Griemberg und W. Reißmann postulierte “Orientierung” als grundlegende Leitidee in der “medialen Unübersichtlichkeit” (75f).
Dagegen setzt M. Schiefner-Rohs besagte rabulistische Ausformulierung “medienpädagogischer Kompetenzen von Lehrenden” in allen Bildungsbereichen als “Teil einer Grundbildung Medien”, und zwar für traditionelle wie digitale Medien. Eine zeitgemäße, dringend notwendige theoretische Aufarbeitung der Problemfelder leisten diese Beiträge nur in Ansätzen, denn sie lassen eher die Fortschreibung der Medienpädagogik und -didaktik seit den 1970er Jahren vermuten. Die angekündigte Neufassung des Medienbegriffs, zu dem heute etwa soziale Netzwerke mit ihren unzähligen Diensten, Plattformen und Figurationen, automatisierte Vernetzung, Datenstrukturen und -reservoirs, Big Data, das Internet der Dinge, Robotik, KI, Virtual Reality, Metaverse – um nur einige Schlagwörter zu nennen – zählen und die fraglos über den herkömmlichen Medienbegriff hinausreichen, wird in keinem Beitrag explizit geleistet. Bis auf die genannten Ausnahme finden sich auch keine didaktischen Neukonzeptionen, die der Universalität und Omnipräsenz besagter Datenformationen angemessen wären.
Die acht ‘praktischen’ Beiträge werden von den beiden Herausgeberinnen, A. Bensinger-Stolze und B. Dusse, eingeleitet: Auch sie betonen, dass der “öffentliche Diskurs um ‘Digitale Bildung’ häufig zu kurz greift” (111), weil es um mehr geht, als nur die neuen digitalen Technologien anzuwenden. Beispielhaft formulieren sie drei “(Heraus-)Forderungen” für die Bildungsbereiche: die “digitale Spaltung”, die infolge der sozialen Unterschiede oft und stärker “soziale Spaltungen” indiziert, welche auch öffentliche Förderungen wie der Digitalpakt nicht kompensieren können; ferner die fehlende Ressourcen, vor allem hinsichtlich kompetentem Personal, aber auch Zeit und angemessener Ausstattung, um den Primat der Pädagogik voll zur Geltung kommen zu lassen, und endlich den unbedingten Vorrang eines partizipativen, demokratischen Umgangs mit den digitalen Technologien sowohl bei der Entwicklung als auch bei der Anwendung, wovon die pädagogische Wirklichkeit ein ganzes Stück entfernt sein dürfte.
Von der Kita bis zur Bildung Älterer thematisieren die Beiträge verschiedene Ziele, Erfahrungen und Forderungen hinsichtlich Digitalisierung und Pädagogik. Recht unterschiedlich fallen die Perspektiven und Akzente aus: Die einen unterfüttern sie mit eigenen theoretischen Exkursen, die anderen konzentrieren sich auf Praxiserfahrungen und -konsequenzen. So fordert der Beitrag über die Kita “Medienbildung von Anfang an”, also bereits in der Krippe, und weist Vorstellungen von der Kita als “medienfreier Raum” (123) als weltfremd zurück, während der nächste Beitrag zur Primarstufe “Vorlesegespräche”, ob analog und digital, als wichtige Methode der Entwicklung von Lesekompetenzen schätzt.
Mit Bezug auf Stalders Unterscheidung zwischen Digitalisierung und Digitalität sollten “Maßnahmen der Digitalisierung im Unterricht zu einer zeitgemäßen Bildung beitragen” (127), womit sicherlich abermals eine grundsätzliche Debatte impliziert ist. Der Beitrag zur Sekundarstufe I und II der allgemeinbildenden Schule stürzt sich vorrangig auf die These und Postulate des besagten KMK-Papiers und attestiert deren einseitiger Vorgabe “zur Strategie schulischer Bildung in der digitalen Welt […] eine ausgesprochen undemokratische Vorgehensweise” (135). Dabei ist kein/e pädagogische Handelnde/r an diese nur konzeptionelle Handreichung im föderalen Bildungssystem gebunden.
Nach Berichten über einige Unterrichtsbeispiele aus Englisch und Mathematik werden erneut die basalen GEW-Forderungen nach besseren Räumen, mehr Zeit und verträglicher Arbeitszeitgestaltung aufgeführt und sie mit den Forderungen des KMK-Papiers konfrontiert. Fazit: Die “derzeitige KMK-Strategie führt […] in die falsche Richtung, verschärft soziale Spaltung und Bildungsungerechtigkeit” (141). Der nachfolgende Beitrag zur Schulsozialarbeit unterstreicht grundsätzlich die Position des vorigen (“In nahezu allen Bildungsbereichen laufen wir dem Thema Digitalisierung hinterher” [150]), kümmert sich aber vorrangig um die allgemeinen Aufgaben und die konkreten Probleme der Schulsozialarbeit, die ungeachtet der Digitalisierung groß und wichtig genug sind.
Für die Hochschule repliziert H. Niesyto seine Forderungen und Rügen und fordert für alle pädagogischen Fachkräfte eine Grundbildung Medien sowie möglichst eine medienpädagogische Professionalisierung, die er am Beispiel seiner ehemaligen Hochschule, der PH Ludwigsburg, exemplifiziert. Völlig konträr zur allgemeinen medienpädagogischen Verve sieht A. Strack den aktuellen Bildungsauftrag der berufsbildenden Schulen, nämlich “Qualifizierung für konkrete Qualifikationsanforderungen […] als auch Anwendung digitaler Werkezeuge im eigenen Lernprozess” (167). Erstmals wird Bildung auch als Qualifizierung für konkrete Fähigkeiten verstanden, und angesichts besagter tiefgreifender Umwälzung müsste es ureigenster Auftrag einer zeitgemäßen Bildungskonzeption sein, diesen eingefahrenen Hiatus zwischen möglichst autonomer (Allgemein-)Bildung (die sie nie war) und zweckorientierter Qualifizierung wenn schon nicht zu überwinden, so zumindest wechselseitig reflektieren.
Der Beitrag zur Berufsbildung liefert dafür viele Anknüpfungspunkte: von den aufgeführten allgemeinen Kompetenzen des KMK-Papiers (167) und den “KMK-Mindestanforderungen in einem kompetenzorientierten Qualifikationsprofil” (169) bis hin zu den am Ende angeführten Forderungen der GEW. Die beiden letzten Beiträge zur Erwachsenbildung (F. Schell) und zur Teilhabe an der und Bildung älterer Menschen für die digitale Transformation (B. Schorb), wobei Ältere ja die größte Klientel an den Volkshochschulen verkörpern, rekapitulieren die generell genannten Mängel an Konzeption und Ausstattung und artikulieren erneut die einschlägige Forderungen zur Professionalisierung und angemessener Infrastruktur.
Das abschließende Resümee zweier einschlägig Tätiger wirbt engagiert dafür, “alle Möglichkeiten des digitalen Unterrichts”, besonders mit “quelloffenen und freien Bildungsmaterialen (Open Educational Resources)” zu nutzen (194), Lehrende für “lernwirksamen Unterricht” (197) zu qualifizieren, um die digitalen Potenziale für ein zeitgemäßes Lernen mit und über Medien auszuschöpfen und dafür die Bildungseinrichtungen, vor allem die Schulen, gründlich umzustrukturieren. Skepsis oder Reserve gegenüber den digitalen Herausforderungen oder gar Gefühle der Ohnmacht gegenüber medialen Unübersichtlichkeiten sind in diesem Text nicht zu spüren, zumal der so genannten Primat der Pädagogik längst digital ausbuchstabiert wird.
Insgesamt reflektiert dieser in der Vorbereitung offenbar kaum ausdiskutierte Sammelband der GEW quasi sämtliche gegensätzliche, wenn nicht widersprüchliche Positionen, aber auch Vorbehalte und gegenteilige Unbekümmertheiten, die in der Gesellschaft vorhanden sind. Für Orientierung sorgt er hingegen wenig, und für selbst pädagogisch Tätige ist er keine geeignete Handreichung.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Prof. Dr. Bernd Schorb an der Universität Leipzig
- Webpräsenz von Anja Bensinger-Stolze bei der GEW Hamburg
- Webpräsenz von Dr. Fred Schell am JFF – Institut für Medienpädagogik
- Webpräsenz von Prof. Dr Hans-Dieter Kübler beim Verein Gesellschaft – Altern – Medien e. V.