Michael Müller: Politisches Storytelling

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Rezensiert von Ralf Spiller

Die Begriffe Storytelling und Narrative sind Modebegriffe (Buzzwords) geworden, konstatiert Michael Müller gleich auf der ersten Seite seines Buches. Sie würden sehr unterschiedlich, zum Teil auch negativ bewertet werden. Als “Storytelling Animals” würden wir Menschen in weiten Bereichen aber nun mal in narrativen Strukturen denken. Unsere gesellschaftlichen Diskurse seien stark von Geschichten, Erzählungen und Narrativen geprägt – egal, ob uns das passe oder überhaupt bewusst sei. Der Autor schreibt Narrativen, also Mustern, mit denen wir unsere tatsächlichen oder vermeintlichen Erfahrungen erklären, eine große Bedeutung zu. “Geschichten bauen die Welt aus Sprache”, schreibt Müller in Anlehnung an den russischen Literaturwissenschaftler Jurj Lotman und argumentiert, dass uns diese Modelle der Welt maßgeblich beeinflussen (83). Die gesamte Welt sei eine “Narratosphäre”, ein Raum aus Geschichten, Erzählungen und Narrativen, der einen wichtigen Teil unseres Weltverständnisses und Weltverstehens ausmache (89).

Im Kern seiner Argumentation stehen (Meta)-Narrative, also Geschichten, die in verschiedenen Formen ständig wiederholt werden und so das kollektive Bewusstsein maßgeblich prägen. Dazu zählt Müller in Deutschland z. B. das Leistungsnarrativ, das besagt, dass jeder und jede durch Leistung einen gesellschaftlichen Aufstieg schaffen kann. Dies sei tief verwurzelt in unserer bundesrepublikanischen Kultur, obwohl es viele Hinweise gebe, dass Leistung in Wirklichkeit nur einen kleinen Teil zum Erfolg beitrage. Als weiteres Beispiel nennt Müller das kapitalistische Marktnarrativ “Der Markt wird’s schon richten”. Dabei sei es wissenschaftlich längst erwiesen, dass Märkte unvollkommen sind und dementsprechend auch dysfunktional wirken können.

Was das Ganze nun mit politischem Storytelling zu tun hat? Wer in der Politik Erfolg haben möchte, müsse, so Müller, mit Narrativen arbeiten, denn die seien weit überzeugender als Zahlen und Fakten. Diese Erzählungen müssten aber wiederum anschlussfähig sein an die Meta-Narrative, um eine positive Resonanz beim Rezipienten zu bewirken. Ein Beispiel, bei dem genau das nicht funktioniere, sei das bedingungslose Grundeinkommen. Weil ein bedingungsloses Grundeinkommen mit dem tief verankerten Leistungs-Narrativ kaum vereinbar ist, sei es dementsprechend schwierig, politische Mehrheiten dafür zu finden.

Müller liefert kein Patentrezept dafür, mit welchen Narrativen Politiker aufwarten sollten. Stattdessen schlägt er vor, erst einmal zuzuhören und Geschichten auszutauschen, statt selber nur zu erzählen. Als Mittel gegen rechtspopulistische Narrative wie die “Islamisierung des Abendlandes” oder eine “Umvolkung” der Bundesrepublik empfliehlt er, diesen eigene starke Narrative entgegenzusetzen (127). Die Arbeit mit Geschichten in der Politik sei immer auch Arbeit bzw. Umgang mit Identitäts-Narrativen unterschiedlicher Gruppen, Regionen, Nationalitäten, Lebensstilen, Orientierungen etc. Seine These ist, dass die Gesellschaft vor allen Dingen starke alternative Zukunftsnarrative braucht. Davon gebe es zu wenige. Und es sei sehr wichtig, dass in einer pluralen Gesellschaft viele unterschiedliche Narrative miteinander konkurrieren. Denn wenn eine Gesellschaft nur noch von einzelnen Narrativen beherrscht wird und Alternativen nicht mehr zugelassen werden, sei die Diktatur nicht mehr weit.

Müllers Buch ist eine kenntnisreiche Streitschrift für die Arbeit mit Narrativen im politischen Diskurs. Es will aufklären und stellt keine How-to-Anleitung dar. Es bleibt jedoch die Frage, wie wirkmächtig Narrative tatsächlich sind. Nach Ansicht des Autors haben sie eine enorme Bedeutung, Belege dafür liefert er jedoch nicht. Ohne Zweifel spielen sie eine wichtige Rolle. Aber unabhängig von Narrativen gibt es auch noch reale Erfahrungen von Mangel, Hunger, Schmerz und Glück, die wirkmächtiger sind als jegliches Narrativ und jegliche Ideologie.

Müller begründet seine Aussagen, liefert jedoch keine Belege im Sinne einer empirischen Wissenschaft. Der Autor hat eher einen medienwissenschaftlichen Zugang zum Thema gewählt, keinen empirisch sozialwissenschaftlichen. Dabei gibt es zahlreiche empirische Studien, insbesondere experimenteller Art, die die Wirkungsmacht von Narrationen belegen. Insofern ist das Buch selbst eine Narration, der man glauben schenken mag – oder eben auch nicht. Das macht das Buch als Impulsgeber jedoch nicht weniger wertvoll. Es ist ein gewinnbringender Beitrag zur Stimulierung eines öffentlichen Diskurses.


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