Rezensiert von Guido Keel
Liest man den Titel des vorliegenden Bandes Digitaler Strukturwandel der Öffentlichkeit, erwartet man eine kritische Auseinandersetzung mit den Folgen neuer Technologien auf die sozialen und politischen Verhältnisse in der Gesellschaft, vorgetragen von Soziologen, Politik- und Kommunikationswissenschaftlerinnen. Der Untertitel «Interdisziplinäre Perspektiven auf politische Partizipation im Wandel» legt nahe, dass es insbesondere um demokratietheoretische Anliegen gehen dürfte. Einleitend gehen die Herausgeber dieses Bandes dann auch erwartungsgemäß auf die ambivalente Rolle der digitalen Medien und der digitalisierten Gesellschaft in der Demokratie ein, zwischen Technik-Euphorie und Kulturpessimismus.
Umso überraschender ist dafür der Hinweis in der Einleitung, dass in diesem Band neben Beiträgen aus der Politikwissenschaft und der Medienethik auch solche aus der Theologie versammelt seien. Schaut man das Inhaltsverzeichnis genauer an, wird zudem ersichtlich, dass die Theologie am stärksten vertreten ist, mit fünf von elf wissenschaftlichen Beiträgen und drei von vier «Praxisreflektiven Perspektiven». Dem Rezensenten – Kommunikationswissenschaftler und Nicht-Theologe – stellt sich somit die Frage, was denn die Theologie zu dieser Problematik beizusteuern hat. Nun, es ist einiges, wie der Band zeigt, wobei sie – es sei vorweggenommen – immer dann am stärksten auftritt, wenn sie sich auf ihre eigenen Modelle und Erkenntnisse konzentriert.
In den ersten beiden Beiträgen geschieht dies noch eingeschränkt. Zunächst sieht Florian Höhne in seinem Beitrag die Aufgaben der Theologie dreifach: Im Konkretisieren, was Digitalisierung für die Öffentlichkeit bedeutet, in der Kritik von gängigen Narrativen zur Digitalisierung (wie Filterblasen oder dem Drang zur Selbstdarstellung), und der kritischen Würdigung von „Imaginationen“ – darunter sind Vorstellungen zu den Folgen der Digitalisierung zu verstehen – im Zusammenhang mit der Digitalisierung.
Worin dabei das spezifisch Theologische liegt, erschließt sich allerdings nicht. Auch Torsten Meiris befasst sich in seinem Beitrag u.a. mit Narrativen rund um die Digitalisierung, nur bleibt hier noch unklarer, wieso ausgerechnet die Theologie wichtige Erkenntnisse liefern könnte oder, wie der Autor vorschlägt, angemessene Deutungen für die Imaginationen – offenbar ein Schlüsselbegriff der Theologie – bereitzustellen. Der Autor schließt mit der Aussage, dass die Kirche u.a. aufgrund ihres kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapitals über erhebliche Möglichkeiten verfüge, problematische Fragmentierungen der Öffentlichkeit zu bearbeiten. Wie genau das allerdings geschehen soll, bleibt unerwähnt.
Dies ist umso bedauernswerter, da bereits im nächsten Beitrag davon die Rede ist, dass angesichts der Digitalisierung die Kirche nicht einmal mehr imstande ist, als relevanter Stakeholder religiöser Kommunikation zu wirken, geschweige denn für die Öffentlichkeit insgesamt. In diesem Beitrag richtet Ilona Nord den Blick erstmals auch in die entgegengesetzte Richtung, indem sie nicht nur fragt, was Theologie und Kirche an Ansätzen und Erkenntnissen zum Strukturwandel der Öffentlichkeit beisteuern können, sondern auch, inwiefern sowohl die Kirche als auch die praktische Theologie von der Digitalisierung der Öffentlichkeit betroffen sind bzw. diese im eigenen Sinn nutzen können. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass die Theologie als wissenschaftliche Disziplin und die Kirche ihre Wirksamkeit in der digitalisierten Gesellschaft unter Beweis stellen müssen, wenn sie weiter den Anspruch erheben wollen, gesellschaftliche Realitäten zu gestalten.
In einem weiteren Beitrag liefert die Autorin Frederike von Oorschot das, was man sich von einer interdisziplinären Auseinandersetzung mit einer Problematik wünscht: Sie geht vom Problem der Filter Bubble aus, ohne abschließend urteilen zu wollen, inwiefern das Bild wirklich zutreffend ist. Die Theologie verfügt über wertvolle Erfahrung, wenn man sich der Fragmentierung von Öffentlichkeit annehmen will: „Denn das Phänomen getrennter Diskursräume – trotz gemeinsamer Interessen und Gegenstände – begleitet die Theologie seit ihren Anfängen.“ (84f). Die Autorin beschreibt, wie die Theologie mit dieser Herausforderung umging und -geht, und erläutert drei Modelle, die Gedankenanstöße für den Umgang mit fragmentierten Öffentlichkeiten bieten. Ihr Fazit: Der Fragmentierung ist mit diesen Methoden kaum beizukommen. Sie schließt deshalb mit dem Vorschlag, sich auf analoge Gesprächsformen zu konzentrieren und dort Erfahrungen aus der Theologie anzuwenden.
Den theologischen Teil abschließend fasst Mitherausgeber Julian Zeyher-Quattlender zusammen, worin der Wert einer theologischen Herangehensweise liegen könnte. Diesen sieht er zum einen in der Infragestellung von Heils- und Unheilsversprechen im Zusammenhang mit der Digitalisierung; zum anderen in der Erstellung einer Nutzungsethik für digitale Werkzeuge und für die Klärung der fundamentalen Frage nach Verantwortlichkeit. Zudem sollen andere zivilgesellschaftliche Bereiche von den Erfahrungen lernen können, die die Kirche mit virtueller Vergemeinschaftung sammelt.
In den politikwissenschaftlichen Beiträgen geht Sigrid Baringhorst zunächst der Frage nach, inwiefern die neuen Möglichkeiten zur Organisation von politischer Öffentlichkeit und Partizipation zu einer Stärkung der Demokratie führen. Sie kommt dabei zu dem beachtlichen Schluss, dass ein Mehr an Partizipation und organisiertem Widerstand gegen die staatliche Herrschaft eine Demokratie nicht zwangsläufig stärkt, sondern diese auch schwächen kann.
Der Beitrag von Gary S. Schaal befasst sich mit der Frage, inwiefern eine Stärkung von Social Media auf Kosten der journalistischen Massenmedien die Vulnerabilität einer Demokratie erhöht bzw. deren Resilienz schwächt. Ebenfalls aus politikwissenschaftlicher Perspektive befasst sich Christina Schlachtner schließlich mit der Rolle der digitalen Öffentlichkeit im arabischen Frühling. Anhand dieser Studie bestätigt sich, was in vorhergehenden Beiträgen bereits festgehalten wurde: Den Fokus nur auf digitale Plattformen zu legen, schränkt den Blick auf Öffentlichkeit zu sehr ein. Öffentlichkeit muss immer als Zusammenspiel von analog und digital gedacht werden, wenn man den Strukturwandel der Öffentlichkeit und den Einfluss des Digitalen verstehen will. Die vier Fallstudien konkretisieren nochmals die bereits eingeführten Themen Narrative der Digitalisierung, Vermittlung zwischen Diskursräumen und neue Rollenverteilungen in der öffentlichen Kommunikation.
Abschließend kommen, nachdem im ganzen Band immer wieder von Medien und öffentlicher Kommunikation die Rede war, schließlich zwei Medienwissenschaftler zu Wort: Jonas Bedford-Strohm mit einer Kritik am Modell der Filterblase und Alexander Filipović mit einem Ausblick, der zur Diskussion stellt, inwiefern die paradigmatischen Vorgaben zu deliberativer Demokratietheorie und die Grundlagen von Habermas zum Strukurwandel der Öffentlichkeit im Zeitalter der Digitalisierung neu zu denken seien.
Wie dieser abrissartige Überblick zeigt, vereint der vorliegende Band auf gut 200 Seiten eine Vielzahl von Denkanstößen, Modellen und Anschauungsbeispielen zum digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit und seinen Auswirkungen auf die politische Partizipation. Die Relevanz der besonderen Berücksichtigung theologischer Zugänge bleibt zwar teilweise etwas unklar, gleichzeitig verlässt die Diskussion damit ausgetretene Pfade und erweitert die Perspektive um dieses fundamentale Thema.
Die Textsammlung richtet sich an ein Publikum, dass sich aus wissenschaftlicher Perspektive für Fragen der Öffentlichkeit interessiert. Dabei wird ihm ein Menu an Ideen präsentiert, die nebeneinanderstehen, gewisse Redundanzen in der Problemwahrnehmung aufweisen und gelegentlich von widersprüchlichen Annahmen ausgehen, insbesondere zum Phänomen der Filter Bubble. Das ist allerdings ein Preis, den man angesichts der Perspektivenvielfalt, die eine solch interdisziplinäre Herangehensweise bietet, gerne in Kauf nimmt.
Links:
Über das BuchJonas Bedford-Strohm, Florian Höhne, Julian Zeyher-Quattlender (Hrsg.): Digitaler Strukturwandel der Öffentlichkeit. Interdisziplinäre Perspektiven auf politische Partizipation im Wandel. Reihe: Kommunikations- und Medienethik, Bd. 10. Baden-Baden [Nomos] 2019, 234 Seiten, 34,- Euro.Empfohlene ZitierweiseJonas Bedford-Strohm et. al. (Hrsg.): Digitaler Strukturwandel der Öffentlichkeit. von Keel, Guido in rezensionen:kommunikation:medien, 28. September 2020, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/22322