Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft

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Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Einzelrezension
Spätkapitalismus, Risiko-, Informations- und/oder Wissensgesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Resonanz, Singularität, digitaler Kapitalismus oder auch schlicht Spätmoderne – an paradigmatischen, aber auch pauschalen Etiketten für gegenwärtige und künftige Gesellschaftsformationen mangelt es Soziologen gemeinhin nicht, wenn sie zur ganzheitlichen Diagnose ausholen. So hält es der Münchner Soziologe, der zugleich Herausgeber der ehrwürdigen, ehemals kritischen Kulturzeitschrift Kursbuch ist und auch schon als Vordenker der Grünen ventiliert wurde, gleich eingangs seines jüngsten Buches seiner Zunft vor. Ganz anders – versteht sich – sei es mit seiner Kategorie, zumal im Gegensatz zu all den anderen aktuellen kritischen oder euphorischen Einlassungen zur anhaltenden Digitalisierung, nämlich dem “Muster”. Mit ihm wolle er nämlich “eine soziologische Theorie der digitalen Gesellschaft” (11) begründen, die prinzipiell davon ausgehe, “dass die gesellschaftliche Moderne immer schon digital war, dass die Digitaltechnik also letztlich nur die logische Konsequenz einer in ihrer Grundstruktur digital gebauten Gesellschaft ist” (ebd.).

Damit widerspricht Nassehi all den kuranten seriösen oder auch oberflächlichen Annahmen, dass die Digitalisierung einen zumindest weitreichenden, wenn nicht gar bislang nie dagewesenen Strukturwandel entweder auslöse oder voraussetze, der just gänzlich neue Analyseansätze erfordere. Im Tenor wiederholt er mehrfach das konservative Argument, so neu sei alles nicht, wobei er sich unzählige Male selbst zitiert.

Doch konsequent und widerspruchfrei bleibt er dabei nicht: Denn zum einen eröffnet er mit seiner These eine historisch-empirische Sichtweise, die er aber keineswegs einlöst, vielmehr mit beliebigen Verweisen mal auf die Erfindung der Dampfmaschine, mal – das besonders häufig – auf die des Buchdrucks oder mal auf die Einführung der Schrift sehr vage, zeit- und ortlos allenfalls illustriert. Zum anderen zieht er – ebenfalls sehr kasuistisch – die von ihm geschätzte systemtheoretische Perspektive heran und diagnostiziert dann doch die in der Moderne anwachsende Komplexität der Gesellschaft, die überkommene hierarchische Strukturen in horizontale Differenzierungen auflöst und soziale Ordnungen zunehmend unsichtbar und fluid mache; da verweist Nassehi auch immer wieder auf die ehemalige kybernetische Technologie und ihre soziologische Beurteilung, die allerdings ganz anders gelagert waren. Und endlich sieht er in der Digitalisierung “eine große Chance für die Soziologie”, um “die Gesellschaft” zum “dritten Mal” zu entdecken (327).

Was die beiden Entdeckungen davor waren, wird nicht so richtig klar und wenig expliziert, ebenso wenig wie “Muster” eine stringente Definition und Lozierung erfährt, sondern in dem vielfach redundanten Text auch mit Regeln, Regelmäßigkeiten, Regularitäten, systemischen Stabilitäten etc. gleichgesetzt wird. Seit dem späten 17., vollends seit dem 19. Jahrhundert – so wenigstens ein empirischer Bezug – habe die amtliche Statistik das moderne Datenmanagement entwickelt, um die zunehmenden latenten Strukturen in Staat, Verwaltung und Gesellschaft zu fixieren, Regelmäßigkeiten und/oder Muster herauszuarbeiten und damit – für wen auch immer – Steuerungspotenziale bereitzustellen. Daraus entstünden Sinnüberschüsse, die Verdopplungen, Wahrscheinlichkeitsschlüsse und Rekombinierbarkeiten ermöglichen, wie sie die digitale Techniken generell produzieren – also doch gänzlich neue Optionen.

Allerdings bergen sie auch das Risiko der Konzentration auf wenige Akteure. Und die gern angeführten Beispiele lassen das horrende Gefahrenpotential erahnen: Ein selbstfahrendes Auto kann beispielsweise unzählige Daten speichern und abgeben an alle möglichen Interessenten, nicht nur an die Straßenaufsicht und Polizei, sondern auch an Tankstellen, Autowerkstätten, Restaurants, Supermärkte und Shoppingmals, Krankenhäuser, Kfz-Versicherungen etc. Letztlich wissen die datengenerierenden, -speichernden und -diffundierenden Maschinen ungleich mehr über uns als wir selbst und auch mehr über die Gesellschaft, als wir jemals ohne sie erheben können. Und am Ende weiß niemand, in wessen Obhut die Daten geraten und wie sie (aus-)genutzt werden.

Konkreter wird die Argumentation in zwei der hinteren Kapitel, nämlich in dem zur “lernenden Technik” (Kapitel 6) und zur “gefährdeten Privatheit” (Kapitel 8) – selbst wenn sie auch nicht frei sind von fragwürdigen Behauptungen und plakativen Plattitüden: Dass “Technik funktioniere” ist solch eine Allerweltsweisheit, die sogleich – zumal aus soziologischer Sicht – wieder problematisch wird, wenn daraus die Folgerung entspringt, dass sich Technik durch ihr Funktionieren Zweifeln und der Reflexion entziehe (vgl. 5). Immerhin lässt sie im nächsten Kapitel über Intelligenz nachdenken und natürliche und künstliche Intelligenz in Substanz, Leistung und Wirkweise unterscheiden (wie es schon unzählige Male geschehen ist).

Künstliche Intelligenz bleibt – zumindest vorerst – trotz aller Zaubertechnologien wie “deep learning systems”, “smart technologies” oder “neural networks” (244) in den schematischen Grenzen ihrer Algorithmen befangen und schaffe nur im Rahmen ihrer Programmierungen lernende Eigenleistungen: “Die Intelligenz der KI ist keine räsonierende Intelligenz, sie ist nicht in der Lage zu sinnhaften Verweisungen…” (255). Vor allem motiviere sie dazu, die Leistungen und die grandiosen Kontingenzen der natürlichen Intelligenz neuerlich zu schätzen und sie “reflexiv” aufzuwerten (262).

Ambivalent sind auch Nassehis Ausführungen zur “gefährdeten Privatheit”. Zwar sei sie immer schon als so genannte “Privatheit 1.0” gefährdet gewesen, oder sie habe nur für die bildungsbürgerlichen Eliten mit ihrem normativen Anspruch von Bildung und individueller Subjektivität gegolten, als “Privatheit 2.0” unter Big Data und Social Media ergebe sich “womöglich” die “Gelegenheit für eine große Selbstaufklärung” darüber, “dass private Lebensformen stets ‘gesellschaftlicher’ waren, als es den gewohnten Anschein hat” (316).

Wie gesagt: Trotz vieler, auch gedrechselter und kaum verständlicher Formulierungen und kaum zu verfolgender Verweise, immer wieder kontrastiert von überraschenden, kaum belegten Behauptungen, wirkt Nassehis Argumentation weder schlüssig, fundiert auf gesicherten sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen und Befunden, noch vollständig nachvollziehbar. Eher ist sie eine spielerische, weitgehend beliebige, dissoziative und prätentiöse Skizze einer Gegenwartsdiagnose, die den Anspruch, eine konsistente “Theorie der digitalen Gesellschaft” zu entwickeln und das “gesellschaftliche Bezugsproblem des Digitalen auf den Begriff [zu] bringen” (16), nicht einzulösen vermag.

Links:

Über das BuchArmin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München [C.H. Beck] 2019, 352 Seiten, 26,- Euro.Empfohlene ZitierweiseArmin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 12. November 2019, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/22018
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