Dagmar Hoffmann, Rainer Winter (Hrsg.): Mediensoziologie

Einzelrezension, Rezensionen
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Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Einzelrezension
Seit sich die Kommunikations- und Medienwissenschaft großenteils (empirisch-) sozialwissenschaftlich versteht, gibt es an einschlägiger sozialwissenschaftlicher Kommunikations- und Medienforschung eigentlich keinen Mangel – sieht man davon ab, dass einige Forschungsfelder chronisch unbeachtet bleiben, dass quantitative Methoden und Standardforschung überwiegen und dass die Vertreter*innen des einen oder anderen Ansatzes sich unterrepräsentiert fühlen.

Da mag es schon verwundern, dass die Herausgebenden des vorliegenden Handbuches gleich eingangs eine markante Absenz und sträfliche Ignoranz der Mediensoziologie sowohl international als auch hierzulande monieren. Weder gebe es genug einschlägige Universitätsstellen, noch berücksichtigen Einführungen und Handbücher der Soziologie dieses komplexe Sachgebiet ausreichend, das sich wie kaum ein anderes durch gesellschaftlichen Wandel, ja radikalen Umbruch und damit massive Veränderungen für Gesellschaft und Individuum auszeichnen. Dazu werde “in aktuellen soziologischen Gesellschaftsdiagnosen […] nur rudimentär Bezug genommen“, resümieren die Herausgebenden (9). Ohnehin lässt die Soziologie gesellschaftliche Makrotheorien zu jenem Wandel gegenwärtig vermissen.

Was die Herausgebenden allerdings generell oder auch konkret unter Mediensoziologie verstehen, führen sie leider in ihrer knappen Einleitung nicht aus. Und  vielleicht beginnt damit schon das spezielle Dilemma, nämlich dass sich solch formale, institutionalisierte Fachgrenzen in ständig komplexer werdenden und sich fortwährend verschränkenden Realitätssegmenten immer weniger ziehen lassen oder sich ihre Verfechter bei ihrer weiteren, auch hier postulierten Verfolgung in wirklichkeitsfremde und analytisch unergiebige Artefakte verrennen. Zwar verweisen die Herausgebenden auf einige Traditionsstränge, die bekanntermaßen mit Max Webers Forderung nach einer Presse-Enquete auf dem Ersten Deutschen Soziologentag (1910) beginnen, sich in der Chicago School, auch im (hier nicht erwähnten) Funktionalismus T. Parsons, später in N. Luhmanns Systemtheorie usw. fortsetzen; warum sie allerdings die jüngsten Überblickswerke (nämlich Jäckel 2005; Ziemann 2012; Wagner 2014; Averbeck-Lietz 2015) in deutscher Sprache kaum erwähnen, schon gar nicht einordnen, bleibt unerfindlich. Die vorgenommene Gliederung in “Zentrale Begriffe und Bezugssysteme“ (2), “theoretische Zugänge und Perspektiven“ (3), “Forschungszugänge“ (4), “Forschungsfelder“ (5) und endlich in “Methoden“ (6) wird ebenfalls nicht erläutert, geschweige denn in ihre offensichtlichen Überschneidungen erklärend eingeführt. Diese Zurückhaltung ist für ein Handbuch zu wenig.

Wenn dann die Herausgebenden als Ziele postulieren, die “Relevanz der Mediensoziologie“ erneut zu betonen und umgekehrt Medien und Kommunikation (wieder) zu “wichtigen Themen der Soziologie“ zu machen (11), dann muss man reklamieren, dass es ‘die‘ Soziologie bekanntlich längst nicht mehr gibt (oder nie gegeben hat) und sie wie alle anderen Sozialwissenschaften in unzählige Theorien und Ansätze zerfällt. Erst T. Sutter zeichnet im 6. Beitrag zu “(Meta)Theorien“  knapp die wichtigsten von ihnen auf, ohne allerdings ihren kommunikationswissenschaftlichen Ertrag hinreichend zu bewerten und ohne dass sie systematisch in die diversen anderen Beiträge einfließen.

Denn die Autor*innen der insgesamt 29 Beiträge lassen durchaus unterschiedliche soziologische oder sozialwissenschaftliche Zugänge und Prämissen erkennen, und nicht einmal alle sind genuin sozialwissenschaftlich. So könnten die beiden ersten Artikel von A. Schmidt zu “Interaktion und Kommunikation“ und “Medien und Medienkommunikation“ in jeder kommunikationswissenschaftlichen Einführung stehen. Denn er arbeitet recht elementar die verschiedenen Begriffsdefinitionen und analytischen Terrainbehauptungen für die genannten Kategorien ab, vorzugsweise unter Rückgriff des Grundsatzartikels des Sozialpsychologen (!) Carl-Friedrich Graumann von 1972, weshalb der jeweils erste Satz, der Beitrag nähere sich seinem Thema “aus soziologischer Perspektive“ eher wie ein Alibi anmutet.

Sein Plädoyer, beispielsweise den Medienbegriff an die “Techniken der Vermittlung“ und an die dadurch bewirkten “Veränderungen des sozialen Austauschs“ (52) einschränkend zu koppeln, konterkariert A. Ziemann im nächsten Beitrag sogleich wieder, indem er Medien als “artifizielle Antworten auf Probleme der Wahrnehmung, Verständigung, kommunikativen Erreichbarkeit und gesellschaftliche Ordnung“ (58) generalisiert und auch Sprache darunter subsumiert. Da lassen sich eher anthropologische oder – bestenfalls – kulturwissenschaftliche Prämissen vermuten. Mit seiner These der universellen “Medialisierung“ versteigt sich Ziemann endlich in a-soziologische und anti-subjektivistische Reifikationen.

Dagegen setzt A. Keppler die bewährten Theorien des Alltags, in dem Medien “lebensweltliche Orientierungen“ (75) liefern, die von den Individuen im kommunikativen Gebrauch rekonstruiert und angeeignet werden. Dabei erweisen sich selbst die modernsten Medien eher als Beförderer denn als Blockierer kommunikativer, alltäglicher Prozesse, die vorzugsweise mit ethnografischen Methoden untersucht werden sollen. Schließlich entfaltet F. Krotz wie schon so oft die von ihm favorisierte “Mediatisierung“ als einen “offenen“ Metaprozess zum “Zusammenhang zwischen Medienwandel und dem Wandel von Alltag und sozialen Beziehungen der Menschen, Institutionen, Organisationen, Unternehmen und Parteien sowie Ökonomie, Demokratie, Gesellschaft und Kultur insgesamt“ (87). Umfänglicher geht es wohl kaum, und Krotz hält diesen Begriff allen anderen kursierenden für überlegen. Gleichwohl fordert er “weitere empirische Forschung und theoretische Vernetzung“ (96). Soweit die “zentralen Begriffe und Bezugssysteme“.

Der zweite Teil – “theoretische Zugänge und Perspektiven“ – enthält fünf Beiträge, und zwar zu “(Meta)Theorien“, “forschungsorientierten Theorien und handlungstheoretischen Zugängen“, “Medien als Akteur-Netzwerke”, “Medientheorie und Öffentlichkeitsforschung“ sowie “Medienspektakel und Protest“; sie könnten wohl ausgewählte theoretische Binnensichten ‘der‘ postulierten Mediensoziologie verkörpern. Kritische, poststrukturalistische, handlungsorientierte Medientheorien, Cultural Studies und endlich systemtheoretische Medientheorien bespricht T. Sutter in seiner “Übersicht“, und zwar unter dem “grundlegenden Bezugsproblem sozialwissenschaftlicher Medientheorien“, nämlich dem “Verhältnis von medienzentrierten und rezeptions- und publikumszentrierter Perspektiven“ (105). Er überrascht wenig, wenn er in der Systemtheorie die vielversprechendste Perspektive sieht, weil sie beiden Momenten der Medienkommunikation “weitgehende Autonomie“ (116) zugesteht.

Vornehmlich handlungstheoretisch legt U. Göttlich seine Übersicht an und behandelt sowohl die theoretische Entwicklung als auch ihre diversen Ausdifferenzierungen in der Mediensozialisationsforschung, den Cultural Studies, den Active Audience Studies sowie in der Kreativitätsforschung. Er diagnostiziert den Bedarf an in erster Linie medienkulturwissenschaftlicher Forschung, gerade hinsichtlich konkreter Bedürfnisse, Motive, Habitualisierungen und Gebrauchsweisen in der Mediennutzung. Die erst in jüngster Zeit in der Soziologie rezipierte Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Bruno Latour und anderen präsentiert M. Wieser. Für die Medienanalyse hält er sie interessant, weil sie “die Performativität und Materialität sozialen Handelns sowie die Medialität von Technik“ (142) miteinander verbindet.

Das Werk J. Habermas‘ seit seiner Habilitationsschrift über den “Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) stellt S. Müller-Dohm vor. In der Kategorie der “kommunikativen Rationalität“ sieht er den Fokus für die Kommunikativität und Vergesellschaftung des Menschen. Schließlich handelt D. Kellner seine (etwas eigenwillige) “Theorie zum Medienspektakel“ ab, die er anhand der globalen Occupy-Bewegung illustriert (und die wohl angemessener zu den “Forschungsfeldern“ gepasst hätte).

Der dritte Teil (“Forschungszugänge“) widmet sich unerwartet einzelnen Medien, also Bild, Film, Fernsehen, Computern und Netzwerken, Hybridmedien, mobilen Medien sowie populärer Musik. Print für lesersoziologische Fragen fehlt ebenso wie das Radio; an ihm sind bekanntlich erstmals Nutzungsmotive und -routinen sowie massenhafte Panikreaktionen erforscht worden. Auch die derzeit am heftigsten diskutierten sozialen Medien sind nicht eigens aufgeführt. All die anderen Medien werden längst von interdisziplinär angelegten Spezialdisziplinen bearbeitet, was sich in unzähligen Bestandsaufnahmen und Überblicksartikeln niederschlägt. Immerhin bemüht sich die Mehrheit der Autor*innen um die Herausarbeitung soziologischer Zugänge oder referiert einschlägige soziologische Studien zum jeweiligen Medium. Andere wie die zu “Computern und Netzwerken“ sowie zu “Hybridmedien“ verharren hingegen in generellen Argumentationen der Medienanalyse.

Die im 4. Teil aufgeführten “Forschungsfelder“ versprechen am ehesten genuine sozialwissenschaftliche und soziologische Untersuchungsbereiche der mittleren Reichweite. Genannt sind “Wissen“, “Partizipation und (Gegen-)Öffentlichkeit“, “Politik“, “Gender“, “Körper“, “Sport“, “Celebrities“, “Gewalt“ und “soziale Ungleichheiten“. Warum hier ausgerechnet das in der Soziologie zentrale und schon viel traktierte Feld der Sozialisation fehlt, hätte schon eine Begründung verdient, zumal es in vielen Artikel angesprochen wird (wie auch das Sachregister dokumentiert) und sich die Herausgeberin, D. Hoffmann, darin in einschlägigen, beachteten Publikationen ausgewiesen hat. In den einzelnen Artikeln müssen die Autor*innen bei dem geringen zur Verfügung stehenden Platz darauf achten, das jeweilige komplexe Forschungsfeld in seinen eigenen, meist umfänglichen Forschungstraditionen und -befunden darzustellen sowie in seinen Bezügen zur Soziologie und zu den Medien auszubalancieren, was mal zugunsten des einen oder des anderen Pols ausfällt. Immerhin können sie alle zeigen, welche Erkenntnischancen in solch inter- und transdisziplinären Themenfeldern und Zugangsweisen stecken, die sich nicht mehr eindimensional der einen oder anderen Disziplin zuordnen lassen.

Im letzten Teil finden sich drei Aufsätze zu den Methoden. Noch einmal gründlich und grundsätzlich steigt M. Jäckel in die “historische Entwicklung mediensoziologischer Methoden“, aber damit auch in die “Entwicklungslinien“ essentieller Medienforschung ein: Meinungsführerschaft, Alltagstrukturen und medienspezifische Präferenzen wählt er als ertragreiche Paradigmen. In seinem Fazit plädiert er dafür, dass “mediensoziologische Forschung […] den Auftrag [habe], für […] Methodensensibilität zu sorgen und für eine Ethik der Wissenschaft einzustehen“ (321).

Das könnte fast schon ein Schlusswort sein, wenn danach nicht noch kompakte Aufrisse zu “qualitativen“ und “quantitativen Methoden“ folgten.Aufhorchen lässt R. Ayaß im letzten Abschnitt ihres Artikels, in dem sie von der “Medialisierung der Methoden“ spricht. Anhand zweier empirischer Fallstudien zu sozialen Medien (sic!) zeigt sie auf, wie durch die Veralltäglichung und Entgrenzung die Medien selbst instrumentelle Bestandteile der Methoden werden, jedenfalls ganz neue Funktionen und Aufgaben übernehmen können. Darin sieht sie künftige Herausforderungen für die Mediensoziologie, zumal qualitative Methoden schon immer eher “explorativen Charakter“ gehabt und sich oft genug dem “vermeintlich – Unscheinbaren“ gewidmet haben (331f).

Summa summarum: Handbücher tragen vorzugsweise zusammen, was jeweils “state of the art“ ist. Sie sollten es möglichst auf solide, umfängliche und verlässliche Weise tun, auf subjektive Eigenwilligkeiten und Paradigmenbehauptungen möglichst verzichten – zumal bei Disziplinen, die wie die Medienforschung so komplex und stark ausdifferenziert sind. Ohne Frage tun dies viele Artikel dieses Handbuches. Ob sich für Forschungsfelder wie das der Medien(-kommunikation) noch disziplinäre Terrainansprüche behaupten lassen, scheint fraglich; sie setzen im Vorfeld grundsätzliche Absprachen und transparente Koordinierungen unter den Autor*innen und der Herausgebenden voraus. Auch bei diesem Handbuch erweist es sich, dass Forschungsfelder mittlerer Reichweite eher disziplinäre Zugänge ermöglichen, vor allem jedoch interdisziplinäre Perspektiven eröffnen als mehr oder weniger kompilatorische Theorien und eigenwillige Ansätze. Eine umfassende, systematische Mediensoziologie lässt sich wohl nicht mehr erreichen. Solch spektakuläre Ambitionen senken nur die Halbwertszeit von Handbüchern; darauf sollten Herausgebende und Verlage achten.

Literatur:

  • Averbeck-Lietz, S.: Soziologie der Kommunikation. Die Mediatisierung der Gesellschaft und die Theoriebildung der Klassiker. Berlin und Boston [de Gruyter] 2015.
  • Graumann, C.-F.: Interaktion und Kommunikation. In. Ders. (Hrsg.): Handbuch der Psychologie. Bd. 7: Sozialpsychologie. Göttingen [Hogrefe] 1972, S. 1109 – 1262
  • Jäckel, M.: Mediensoziologie. Grundfragen und Forschungsfelder. Wiesbaden [VS] 2005.
  • Wagner, E.: Mediensoziologie. Konstanz [UTB] 2014.
  • Ziemann, A.: Soziologie der Medien. 2. Aufl. Bielefeld [transcript] 2012.

Links:

Über das BuchDagmar Hoffmann, Rainer Winter (Hrsg.): Mediensoziologie. Handbuch für Wissenschaft und Studium. Baden-Baden [Nomos] 2018, 356 Seiten, 58,- Euro.Empfohlene ZitierweiseDagmar Hoffmann, Rainer Winter (Hrsg.): Mediensoziologie. von Kübler, Hans-Dieter in rezensionen:kommunikation:medien, 16. Mai 2018, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/21189
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