Ute Holfelder, Klaus Schönberger (Hrsg.): Bewegtbilder und Alltagskultur(en)

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Rezensiert von Hans-Dieter Kübler

Einzelrezension
Seit dem Super-8-Film – eigentlich schon seit der Popularisierung der Fotokamera durch die Kodak-Box seit 1916 –, sodann mittels Video und heute mit Handyfoto und -video erforschen und vergegenwärtigen sich Amateure, aber auch Profis ihre Wirklichkeit auch technisch-visuell, so dass eine fortschreitende Visualisierung und Ästhetisierung von Lebenswelt und Gesellschaft zu diagnostizieren ist, wie die Herausgebenden, beide Kulturwissenschaftler/innen mit Tübinger Wurzeln, in ihrer Einleitung zu diesem Sammelband diagnostizieren. Zugleich erkennen sie darin eine ökonomische Perspektive: nämlich die Ausbreitung immaterieller, kreativer Arbeit, “mittels derer Individuen das postfordische Arbeitsparadigma bedienen“ und “unmittelbar in Prozesse der Wertschöpfung inkorporiert werden können“ (11). Über diese hier nur postulierten Zusammenhänge hätte man gern mehr erfahren, zumal auch die insgesamt 20 Beiträge dazu kaum etwas beisteuern.

Den vielfältigen Facetten dieses Themas widmete sich zunächst eine interdisziplinäre Tagung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt/Celovec im Herbst 2015, deren Beiträge nun in diesem Reader dokumentiert werden. Jenseits dieser abstrakten Klammer der visuellen, ästhetischen Praxis fallen die einzelnen Aufsätze erwartungsgemäß thematisch disparat und unverbunden aus, so dass es schwerfällt, sie zu bündeln. Eingangs beschäftigt sich Thomas Hengarten mit der technischen Entwicklung des Mobiltelefons, dem Wandel seines Gebrauchs und seiner Bedeutung, vor allem hinsichtlich seiner heute vorherrschenden Funktion als Selbstausdrucks- und -speicherungsmedium.

Die drei folgenden Beiträge sind eher theoretisch ausgerichtet; sie befassen sich aus filmsoziologischer Perspektive mit dem Verhältnis von Film und Bewegtbild, aus kulturanthropologischer Sicht damit, wie sich Bewegung im Bild repräsentiert, und schließlich von medientheoretischer Warte aus mit der “Theorie der Praxis des Video-Sharings“. Die nächsten drei Beiträge widmen sich eher der filmarchivalischen Praxis: der Österreichischen Mediathek und deren Projekt der Digitalisierung und Sammlung “Der Wiener Rekorder“, dem Konzept, Amateurfilme mit signifikanten Kontexten zu archivieren, und dem beispielhaften Vorhaben wiederum der Österreichischen Mediathek, Videos auf Kassetten als Übergangsmedium zu identifizieren und aufzubewahren.

Um die gesellschaftlichen Kontexte von Amateurfilmen kümmern sich die beiden nächsten Beiträge: nämlich um private Schmalfilme der 1950er bis 1980er Jahre, die in häuslichen, familiären Umgebungen produziert wurden, sowie um Hunde-Handyfilme und ihre ethnografischen Aussagen. In jugendkulturellen Milieus sind die folgenden fünf Beiträge angesiedelt: Online-Videos als “mediale Selbstthematisierungspraktiken“, Adaption und kreative Aneignung viraler Musikvideos in Jugendszenen, provozierende Adaptionen am Beispiel ebenfalls eines viralen Musikvideos, von Berliner Hauptschülern produziert, islamkritische Inhalte in Amateurvideos und endlich digitale Home Movies von Kindern, die bislang in der Filmwissenschaft vernachlässigt worden seien.

Neue Medienpraktiken und damit verbundene (soziale) Implikationen thematisieren weitere Aufsätze: nämlich mittels ziviler Dronen hergestellte Videos, auch “Dronies“ genannt, und deren technologische, ästhetische und kulturelle Produktionszusammenhänge sowie mögliche Veränderungen des Familien- und Amateurfilms durch den Einsatz von GoPro-Kameras. Auf Bewegtbildungspraktiken in der Bildungsarbeit konzentrieren sich die beiden folgenden Artikel: nämlich auf ein Filmprojekt für und mit sozial benachteiligten Jugendlichen, um ihnen neue Chancen zu eröffnen, sowie auf ein medienpädagogisches Projekt im schulischen Kontext.

Schließlich wenden sich die beiden letzten Aufsätze wieder historischen Themen zu: In einem Projekt mit Super 8-Filmen wird digitalisiertes Material aus den 1960er Jahren, gedreht in einer rheinländischen Gemeinde, ZeitzeugInnen vorgeführt, um sie zum biografischen Erzählen anzuregen, und ebenfalls mit solchem Filmmaterial werden jüngere Generationen motiviert, Erinnerungsarbeit anhand von Familienfilmen von 1925 bis 1940 zu leisten.

So mannigfaltig sind Anlässe und Ziele solch ethnografischer, kreativer Arbeit mit Bewegtbildern und Visualität, die Laien befähigt und bestärkt, sich ihrer Lebenswelt und Biografie anzunehmen und zu gegenwärtigen – und gewiss ließen sich noch mehr Beispiele und Konstellationen finden bzw. generieren, wie etwa die mehrfach eingebrachten Hinweise auf die Selfie-Manie andeuten. Sind sie in historischer Perspektive verortet, ist der time lag hinzunehmen, der unweigerlich angesichts der rasanten technischen Entwicklung aufbricht und solche Projekte rasch veralten lässt. Aber schwerer wiegt: Mit ihrer meist unausweichlichen Singularität gereichen sie wenig zu theoretischen Verallgemeinerung, so dass die wiederholt insinuierten theoretischen Zusammenhänge über sie nicht einzulösen sind und sie wohl oder übel solipsistische Momentaufnahmen bleiben.

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Über das BuchUte Holfelder, Klaus Schönberger (Hrsg.): Bewegtbilder und Alltagskultur(en). Von Super 8 über Video zum Handyfilm. Praktiken von Amateuren im Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung. Reihe: Klagenfurter Beiträge zur Visuellen Kultur, Bd. 6. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2017, 324 Seiten, 32,- Euro.Empfohlene ZitierweiseUte Holfelder, Klaus Schönberger (Hrsg.): Bewegtbilder und Alltagskultur(en). in rezensionen:kommunikation:medien, 22. Dezember 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20873
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