Rezensiert von Peter Schütze
Die Oper sei “keine musikalische, sondern eine theatralische Gattung” lässt uns der Autor – Professor für Musikwissenschaft an der Universität Graz – gleich im Vorwort wissen (VII). Gegen diesen Satz lassen sich zwar Einwände erheben, zumindest aber klärt er, worum es hier geht. Wer sich darauf spitzt, seine musikalischen Horizonte zu erweitern, oder seinen Opernführer beiseite legen möchte, ist falsch beraten, wenn er zu diesem Buch greift. Und doch hat es das Zeug, zu einem Standardwerk zu werden.Was Michael Walter vorlegt, ist eine Kulturgeschichte des Opernbetriebs. Wir erfahren immens viel über die Bedingungen, unter denen das musikalisch-theatralische Zwitterwesen ‘Oper’ sich zu dem ausgeformt hat, was es ist, behaftet mit allerlei Absonderlichkeiten, “Regeln und Handlungsabläufen, die heute nicht zufällig sind, wie sie sind, sondern Resultat einer vierhundertjährigen Geschichte.” Wie sich dieser eigenwillige “Staat im Staate” (177) herausbilden konnte, das verfolgt Walter detailliert bis in feinste Verästelungen seines Stammbaums hinein. Sein reiches Wissen ist imponierend, aber ein Meister, der sich in der Beschränkung zeigt, ist er nicht.
Walter bemüht sich, durch methodische Linienführung Ordnung in seine Materialfülle zu bringen: Er untersucht zunächst die “Rahmenbedingungen”, auf die ein jeder, der ‘Oper’ organisiert oder ausführt, sich einzulassen hat; danach widmet er sich den unterschiedlichen Organisationsformen der ‘Institution Oper’, den rechtlichen Verbindlichkeiten und den Arten der Finanzierung, um sich schließlich den drei bedingenden ‘Komponenten’, den Sängern, den Autoren/Komponisten und dem Publikum zuzuwenden.
Übertrieben breit ist die Schilderung der verschiedenen Währungssysteme und Wechselkurse im alten Europa und auch innerhalb der Reiche geraten. Um zu begreifen, wie sehr das Opernschaffen sich kalkulierend darin zurechtfinden musste, wäre eine geraffte Darstellung zweckdienlicher gewesen. Wichtig ist freilich zu verstehen, dass die Oper, die sich nach ihren Anfängen in Italien sehr schnell auch in Frankreich, Deutschland und England ausbreitete und mit ihrem Showtalent und dem Auftreten umjubelter virtuoser Sänger zum Prestigeobjekt und Luxusartikel erst der Höfe, später des gehobenen Bürgertums wurde, ihren Wert auch finanziell abzusichern versuchte und gegen die Tücken des Geldverkehrs anzukämpfen hatte. Diese Internationalität hatte das (eben doch) musikalische Genre bereits in seinen Anfängen dem Sprechtheater voraus. Damit verbunden war das grenzüberschreitende Wirken der Sänger und Impresari.
Mit welchen Strapazen die reisenden Truppen und die Bühnenstars es aufzunehmen hatten, stellt Walter sehr anschaulich dar; hier wie überall im Buch fehlt es nicht an einprägsamen Anekdoten. Ähnliches gilt auch bei den Rechtsfragen. Immer wieder stellte sich vor Gericht heraus, dass über vertragliche Streitfragen, die im Theaterleben oft von nachhaltiger Bedeutung sind – die Weigerung eines Sängers, aufzutreten, eine Partie zu übernehmen oder sein herausfordernd schlechtes Singen – vom Richter nicht entschieden werden konnten. Es bildete sich mit der Zeit ein spezielles Theaterrecht heraus, das in seinen Grundzügen bis heute Gültigkeit hat – sieht man einmal von Kuriosa ab wie der ‘illegale gravidanza’, der gesetzwidrigen Schwangerschaft einer Sängerin, die unter Strafe gestellt werden konnte.
Dadurch, dass Walter das geschichtliche Material unter seinen verschiedenen Gesichtspunkten ausbreitet und keine Chronik der jeweiligen Opernentwicklung nach Ländern geordnet anlegt oder eine Parallelchronik der beteiligten Länder verfertigt (zu denen die USA hinzukamen), nimmt er zwar Rücksicht auf die in jeder Hinsicht auftretenden Wechselwirkungen, Überschneidungen und Unterschiede, springt aber immer wieder kreuz und quer durch die Jahrhunderte und Regionen. Bisweilen wünscht man sich, er hätte seine Mühe auf ein nach Stichworten geordnetes Lexikon verwendet – das sich nun in der Tat in dem fortlaufenden Text wie auch im umfangreichen Fußnotenapparat verbirgt. Gleichwohl verdient seine Leistung höchsten Respekt.
Es ist nicht möglich, ihr in der gebotenen Kürze gerecht zu werden. Zwei Aspekte freilich möchte ich noch hervorheben: Der Autor arbeitet sorgsam heraus, dass die Oper in erster Linie Prestigeobjekt war und in den seltensten Fällen profitabel ist – sieht man einmal von den Spitzengagen ab, die jedoch dazu beitragen, dass ‘Oper’ sich für den Veranstalter kaum rentiert und auf Zuschüsse, Finanzierung und Subventionen angewiesen ist. Walter zieht eine wunderbar passende englische Wendung zur Erklärung heran: Für den Zahlenden ist Oper “conspicuous consumption”, ein zur Schau gestellter Aufwand also, der für gesellschaftliche Reputation sorgt, aber auf Kosten der Kosten, und der dem Profitmachen zuwiderläuft, sogar in den finanziellen Ruin führen kann. Sie ist ein aufwändiges und kostspieliges Vergnügen der Nobilität, zunächst des Adels, später des gehobenen Bürgertums, aus dem allmählich erst eine Art Gemeinbesitz wurde. Nun beweist sich darin nicht nur der Show-Wert der Gattung, sondern auch ihre künstlerische Stärke, wenn sie trotz roter Zahlen nicht zum Erliegen kam. Ginge es nur um den Effekt, wäre der Anlass austauschbar.
Darauf aber nimmt Walter zu wenig Rücksicht. Für ihn ist ‘Oper’ der Akt der Darbietung. Entsprechend dem Zusammenspiel der beteiligten Kräfte verschiebt sich bei ihm der ‘Werk’-Begriff von der Partitur hin zur Aufführung. Aber ist eine Oper weniger sie selbst, wenn sie konzertant oder auf Tonträger geboten wird? Walter begreift ‘Oper’ als Veranstaltung, in der auch das Publikum seine Rolle spielt. Er behandelt das Ereignis, die Show – abzüglich Kunst. Was bei ihm als ‘Oper’ vorkommt, ist die Beschreibung ihrer Produktionsbedingungen, mit denen er sie identifiziert.
Gewiss hat er damit recht, dass die Autoren – Komponisten und Librettisten – sich erst allmählich aus ihrer Rolle als fügsame Lieferanten für ein Spektakel befreit haben, sie figurieren gleichwohl seit eh und je für den Widerspruch, der grundsätzlich zwischen Drama und Theater, zwischen Opus und Interpretation herrscht und sich auf der Bühne verflüssigt. Aber Bedingungen erfüllen heißt nicht schon aus ihnen bestehen. Auf theoretischer Ebene ließe sich mit Michael Walter trefflich streiten; es schmälert nicht sein Verdienst, mit seinem Buch ein neuartiges Kompendium zur Operngeschichte vorgelegt zu haben. Das ist überraschend gerade deshalb, weil die Quellen, aus denen er schöpft und die er uns zugänglich macht, so überaus reichlich fließen.
Links:
Über das BuchMichael Walter: Oper. Geschichte einer Institution. Stuttgart [J.B. Metzler] 2016, 470 Seiten, 49,95 Euro.Empfohlene ZitierweiseMichael Walter: Oper. Geschichte einer Institution. von Schütze, Peter in rezensionen:kommunikation:medien, 2. Oktober 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20661