Ari Turunen, Markus Partanen: Bitte nach Ihnen, Madame

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Rezensiert von Martin Gehr

Einzelrezension
Alles ist relativ. Was Manieren sind oder waren, hängt von den gesellschaftlichen Gepflogenheiten der jeweiligen Zeit und des Kulturkreises ab. Das sind zwei der Erkenntnisse, die der Leser im Buch Bitte nach Ihnen, Madame. Eine kurze Geschichte des guten Benehmens (2016) erhält. Die populärwissenschaftliche Publikation von Ari Turunen, finnischer Wissenschaftsjournalist und Kulturhistoriker, sowie Kulturjournalist Markus Partanen ist kein Knigge-Ableger, sondern befasst sich mit der “Entstehungsgeschichte der europäischen Manieren“ (13): “Benimmbücher erklären, wie man sich benimmt; dieses Buch versucht zu erklären, warum man sich so benimmt“ (198). Dabei berücksichtigen sie immer wieder die Relativität der Verhaltensregeln sowie die “Scheinheiligkeit“, die oft mit gutem Benehmen einhergeht (19f.).

In der Einleitung, die die Rahmenbedingungen ihres Themas darstellen, führen die Autoren etwas langweilig aus, was geographisch und soziologisch als Europa bezeichnet wird und was “europäische Identität“ bedeutet (14-19). Danach widmen sich Turunen und Partanen in acht Kapiteln verschiedenen Bereichen der Manieren, darunter Grußritualen, Tischsitten, Aggressivität, Sexualität sowie dem ‘neuen digitalen Mittelalter‘, in dem die Netiquette gescheitert ist: “Das Internet und die sozialen Medien sollten Menschen verbinden, bei der Verbreitung von Informationen helfen und neue Freundschaftsbande knüpfen. Heute wird in dieser Welt posiert, kokettiert und randaliert; all das zeigt, dass das hemmungslose Benehmen des Mittelalters in der virtuellen Welt eine neue Blüte erlebt“ (10).

Ihr Stil ist humorvoll und funktioniert nach journalistischen Verständniskriterien. Trotz der Kürze von 200 Seiten sind die Inhalte fundiert recherchiert: Die Literaturliste weist über 100 Werke auf, die vom “Zuchtbüchlein“ des niederländischen Humanisten Erasmus von Rotterdam (1532) bis zur Abhandlung über Narzissmus auf Facebook von Christopher Carpenter (2012) reichen.

Bekannte Geschichte anekdotenreich aufzuarbeiten, führt allerdings auch dazu, dass einige Fakten schon zigfach erzählt wurden – etwa, woher die Grußrituale stammen, sich die Hände zu schütteln oder den Hut zu ziehen (41), dass öffentliche Schmähungen von Personen durch Prangerstrafen beliebt waren (111) oder der Nachttopf bis ins 18. Jahrhundert durch das Fenster direkt auf die Straße geleert wurde (80), zumal es noch keine Kanalisation, aber wenigstens schon eine Müllabfuhr gab. Zur Auflockerung zitieren die Autoren aus historischen Benimmratgebern und Briefen. Auch wenn die Beschreibungen anschaulich sind, hätten Illustrationen sie gewinnbringend unterstützt.

Im Vergleich zu anderen Epochen ziehen sie das Mittelalter zu häufig als Beispiel heran und erwecken bisweilen den Anschein, gegen die damaligen Manieren sei das heutige niveaulose Verhalten harmlos: ‘Komasaufen‘ gehörte seinerzeit zur Trinkkultur (54), der Humor war grob und ordinär (109) und Gewalt stellte vor allem für Adlige „einen Teil des Lebensgenusses dar“ (125). “In den Städten konnte jeder Angehörige des Ritterstandes sowohl Geistesgestörte als auch Bauern und Sklaven auspeitschen und schlagen, ohne gegen die Stadtordnung zu verstoßen“ (ebd.). Dies wirkte sich gleichfalls auf das Eheleben aus: “Nach mittelalterlicher Auffassung kamen Mut und Maskulinität eines Mannes auch darin zum Ausdruck, dass er seine Frau kommandierte und unterdrückte“ (147). Eine Vorstellung, die in manchen patriachalisch geprägten Kulturen immer noch gängig scheint.

Obwohl es sich um eine geschichtliche Aufarbeitung handelt, ist die aktuelle Relevanz erstaunlich. So stellen die Autoren fest, Reality-TV sei nichts anderes als das fahrende Kuriositätenkabinett (116), das noch bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche “Freaks“ (ebd.), also “von der Norm abweichende Menschen“ (115) vorführte, darunter Kleinwüchsige, Fettleibige und andere Außenseiter. Auch das ist eine Erkenntnis des Buches: Viele Sitten haben sich geändert, manches jedoch findet heute nur in einem anderen Rahmen statt. So schaffen die beiden Journalisten gut durchdachte Verknüpfungen, zum Beispiel, dass sich die heuchlerischen, geschönten Selbstdarstellungen der Facebook-Profile (191) kaum vom Hofstaat des Sonnenkönigs Ludwig XIV. unterscheiden, “wo die tatsächliche Person unter Puder, Perücke und förmlichen Manieren verborgen wurde“ (192f.). Ob diese Parallelen das heutige Verhalten rechtfertigen, ist eine andere Frage.

Am deutlichsten wird dieser Umstand im achten Kapitel, in der sie kritisch auf die Entwicklungen digitaler Kommunikation eingehen: Sie beschreiben die Handlung des ‘Trollens‘, das “bewusste Schüren von Aggressionen“ im Netz gegenüber Sachverhalten oder Personen (189), und zeigen auf, dass es Schmähschriften bereits in der Antike gab und man sich schon in früheren Jahrhunderten darauf verstand, Hass zu predigen – “nur hatte man noch nicht die gleichen Instrumente. Die Hexenverfolgung wäre noch vernichtender gewesen, wenn den Trollen in den Dominikanerklöstern das Internet zur Verfügung gestanden hätte“ (190).

Zudem liefern die Autoren Gründe für die digitale Aggressivität wie vermeintliche Anonymität, räumliche Distanz und fehlende physische Präsenz (187) sowie gruppendynamische Prozesse (188). Klug ist, dass sie in ihrer Analyse nicht nur die Nutzer kritisieren, sondern auch das Verhalten der Unternehmen: Es sei absurd, dass soziale Netzwerke “Fotos von stillenden Müttern oder leicht bekleideten Menschen aus ihren Plattformen entfernen, offene Hasspredigten dagegen weniger streng kontrollieren, weil sie fürchten, die Redefreiheit einzuschränken“ (187).

“Die Aggressivität der Massen“ (136-141) sei ein chronisches Phänomen: Es reiche von frühen Steinigungen bis zu Demonstrationen, “die die herrschenden Machtstrukturen ablehnen“, aus dem Ruder laufen und “in gewalttätige Krawalle ausarten“ (137) – siehe kürzlich beim G20-Gipfel in Hamburg. In diesem Zusammenhang machen auch Ari Turunen und Markus Partanen die Medien mitverantwortlich: Die Autoren beobachten, dass die “fiktionale Gewalt in unserer Kultur“ ständig zunimmt (139f.), insbesondere in Computerspielen, im Fernsehen und im Film. So konstatieren sie, Gewalt sei wieder “stilvoll“ geworden (140); so wird etwa Regisseur Quentin Tarantino für die Inszenierung seiner Gewaltorgien geschätzt.

Fazit: Bitte nach Ihnen, Madame ist eine allgemein verständliche und qualifizierte Kulturgeschichte der Manieren mit aktueller Bedeutsamkeit. Zwar lose aufbereitet und subjektiv akzentuiert, aber mit einigen Überraschungen.

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Über das BuchAri Turunen, Markus Partanen: Bitte nach Ihnen, Madame. Eine kurze Geschichte des guten Benehmens. München [Nagel & Kimche] 2016, 208 Seiten, 20,- Euro.Empfohlene ZitierweiseAri Turunen, Markus Partanen: Bitte nach Ihnen, Madame. von Gehr, Martin in rezensionen:kommunikation:medien, 30. Juli 2017, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/20434
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