Rezensiert von Judith Keilbach
Das Fernsehen durchläuft permanent Veränderungen. Seine gegenwärtige Herausforderung durch Streaming-Dienste stellt beispielsweise die Konzeption des Fernsehens als programmbasierte Sendertechnologie in Frage und setzt damit zugleich eine Umdefinition des Mediums in Gang. Doch auch in seiner Vergangenheit hat sich das Fernsehen wiederholt transformiert (siehe z. B. Uricchio 2013): So entfernte es sich von einem durch den Ton dominierten Medium (Altman 1986), das als Radio mit Bildern verstanden wurde, legte seine stilistische Unsichtbarkeit ab und wurde zunehmend “televisuell” (Caldwell 1995) oder verwandelte sich von einer Bildungsinstitution in ein kommerzielles Unternehmen. Diese Veränderungen stehen maßgeblich mit der Einführung neuer Technologien im Zusammenhang, sei es im Bereich der Fernsehproduktion, der Signalübertragung oder der Empfangsgeräte.In ihrer an der ETH Zürich vorgelegten Dissertation geht Daniela Zetti diesem Zusammenhang anhand der Entwicklung des bundesdeutschen Fernsehens zwischen 1950 und 1980 nach. Das Interesse der Arbeit gilt dabei dem Spannungsfeld von Technologie und Institution, in dem das Fernsehprogramm entsteht. So wird beispielsweise die Entwicklung der Videotechnologie nachgezeichnet, die eine kostengünstige Vorproduktion von Fernsehsendungen ermöglichte. Bestand das Fernsehprogramm vor der Einführung der Magnetbandaufzeichnung vornehmlich aus Livesendungen, so hatte das neue Trägermaterial weitreichende Folgen, die nicht nur die Produktion sondern auch die Arbeitsorganisation des Fernsehens betrafen.
Auch auf die rundfunktechnischen und programmlichen Erwartungen und Wünsche der Geräteindustrie geht die Autorin ein. Um die technische Kapazität ihrer Empfangsgeräte vor Augen führen zu können, forderte die Wirtschaft von den Rundfunkanstalten sowohl einen schnellen Ausbau des Funknetzes als auch bessere Programme. Und schließlich nimmt die Autorin die Zentralisierungsbemühungen der Institution Fernsehen in den Blick, indem sie sich mit der Einführung der datengestützten Programmproduktion beschäftigt.
Bereits diese Beispiele zeigen, dass das Fernsehen und sein Programm das spezifische Resultat eines komplexen Zusammenspiels vielfältiger Faktoren ist. Nationale und internationale Interessen und Entwicklungen in Technik, Politik und Wirtschaft tragen maßgeblich zu dem bei, was Fernsehen jeweils ist. All diese Aspekte werden in der vorliegenden Publikation zwar angesprochen, die Lektüre hinterlässt jedoch den Eindruck, dass sich die Autorin ein zu ambitioniertes Projekt vorgenommen hat. Denn leider gelingt es ihr nicht, die interessanten Versatzstücke, die sie aufgespürt hat, zu einer klaren Argumentation zusammenzuführen. Dies mag einerseits an den vielen Andeutungen liegen, die den Text durchziehen und deren Ausarbeitung der Argumentation zugute gekommen wäre. Auch eine explizite Klärung der theoretischen Fundierung und Begrifflichkeiten hätte zur Verdeutlichung des Interesses an “Schnittstellen” und “Störungen” beitragen können, deren theoretische Relevanz leider unklar bleibt. Andererseits fehlt in der Arbeit an manchen Stellen eine Diskussion zentraler fernsehhistorischer und -theoretischer Details, über die sich argumentative Zusammenhänge hätten herstellen lassen. So wird die Entwicklung der Videotechnologie in den Laboratorien amerikanischer Elektronikkonzerne ausführlich als Auslotung des Verhältnisses von Film und Fernsehen besprochen, es fehlen jedoch deutliche Hinweise auf die Organisation des US-amerikanischen Fernsehens in nationale kommerzielle Networks und auf die damit einhergehende Zeitzonen-Problematik, die eine Aufzeichnungstechnologie für die Fernsehindustrie so dringlich machte.
Materialgrundlage der Arbeit sind interne Positionspapiere, Redemanuskripte, in der Fachpresse publizierte Artikel sowie Fernsehsendungen. Die Autorin fasst diese unterschiedlichen Dokumente jeweils ausführlich zusammen und ermöglicht es ihren Leser_innen damit, auch andere Schlussfolgerungen zu ziehen als sie in ihren eigenen Interpretationen vorschlägt. Wer sich in der Fernsehgeschichte nicht auskennt, dürfte das vorliegende Buch vermutlich nicht leicht zugänglich finden. Für Leser_innen, die mit den unterschiedlichen Entwicklungen des bundesdeutschen Fernsehens vertraut sind, enthält es hingegen aufgrund des theoriegeleiteten Interesses der Autorin trotz seiner argumentativen Schwächen neue Perspektiven und viele interessante Anregungen.
Literatur:
- Altman, R.: Television Sound. In: Modleski, T. (Hrsg.): Studies in Entertainment. Critical Approaches to Mass Culture. Bloomington [Indiana Univ. Press] 1986, S. 39–54.
- Caldwell, J. T.: Televisuality. Style, Crisis and Authority in American Television. Brunswick, N.J. [Rutgers Univ. Press] 1995.
- Uricchio, W.: Constructing Television. Thirty Years that Froze an Otherwise Dynamic Medium. In: Valck M. de; Teurlings, J. (Hrsg.): After the Break. Television Theory Today. Amsterdam [Amsterdam Univ. Press] 2013, S. 65-78.
Links:
Über das BuchDaniela Zetti: Das Programm der elektronischen Vielfalt. Fernsehen als Gemeinplatz in der BRD, 1950-1980. Reihe: Interferenzen - Studien zur Kulturgeschichte der Technik, Bd. 20. Zürich [Chronos] 2014, 247 Seiten, 43,- Euro.Empfohlene ZitierweiseDaniela Zetti: Das Programm der elektronischen Vielfalt. von Keilbach, Judith in rezensionen:kommunikation:medien, 9. September 2015, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/18501