Rezensiert von Hans-Dieter Kübler
Als in den 1960er Jahren die “Gründungsväter” des 1964 ins Leben gerufenen Centre for Contemporary Culture Studies (CCCS) in Birmingham, Richard Hoggart, Raymond Williams und Edward Palmer Thompson, ihre ersten Texte über Arbeiterbewusstsein und -bildung, Jugendkultur und -arbeit, Populär- und Trivialkultur veröffentlichten und in kritischer Fortführung marxistischer Ansätze eine alternative Sozial- und Literaturwissenschaft als Zusammenhang von Theorie und Praxis, Analyse und Intervention auch außerhalb der etablierten Universitäten postulierten, stießen sie bald auch hierzulande – zumal die auszugsweisen Übersetzungen in einschlägigen linken Zeitschriften – auf eine interessierte Resonanz in vielen Disziplinen wie etwa in der Kultursoziologie, Ethnologie, Volkskunde, Literatur- und Sprachwissenschaft und Sozialpädagogik. Denn nach den abstrakten, schon etwas ermüdenden Exegesen der diversen Varianten marxistischer und Kritischer Theorie waren gerade in den sich auch praktisch engagieren wollenden Wissenschaften und Ausbildungsgängen ‘links‘ unverdächtige Wegweisungen angesagt: Untersuchungsfelder wie Alltag besonders sozial Benachteiligter, populäre, nicht anerkannte Kulturformen, Arbeiter- oder – weiter – nichtbürgerliche Bewusstseinsformen, diverse Mentalitäten und kulturelle Kapitalien und natürlich auch die nunmehr expandierenden Massenmedien wie Comics, Illustrierte, Fernsehen, Werbung, Video, später auch Computer und Games avancierten zu den bevorzugten Forschungs- und Aktionsfelder und sind vielfach thematisiert worden.Theoretische Orientierungen besorgte man sich außer bei den Vertretern der Frankfurter Schule bei unorthodoxen Marxisten wie Gramsci, Althusser, Bourdieu, Heller und auch Haug. Dies alles lässt sich kompetent und detailliert in Andreas Hepps erster fundierten Aufarbeitung namens Cultural Studies und Medienanalyse von 1999 – also mit identischem Titel wie das vorliegende Handbuch, nunmehr in dritter überarbeiteter und erweiterter Auflage von 2010 – nachlesen, die im zweiten Teil sich auf die “Medienanalyse” kapriziert. ‘Die‘ deutsche Kommunikationswissenschaft beteiligte sich damals kaum an der Rezeption und Weiterführung der Cultural Studies; sie war vielmehr noch mit der Überwindung ihrer ehemals vorherrschenden ideografisch-normativen Ausrichtung, der Abwehr materialistischer, linker Medientheorien und mit ihrer nunmehr forcierten marktgängigen Empirisierung beschäftigt, so dass die seither und auch hier vorgebrachte Kritik von Hepp und Krotz, sie habe diese internationale Orientierung verschlafen, zwar richtig ist, aber auch etwas schief wirkt; denn die Entwicklungen der anderen genannten Disziplinen sind längst nicht so gründlich und nuanciert aufgearbeitet wie die der “Medienanalyse“. Allein der damals am Hamburger Hans-Bredow-Institut arbeitende Referent, Friedrich Krotz, befasste sich seit den 1990er Jahren mit den kommunikationswissenschaftlichen Aspekten der Cultural Studies.
Längst waren sie nämlich international verbreitet worden, vor allem in Australien, Kanada und den USA, zumal ihre Protagonisten sie nie als stringentes Paradigma oder gar als kompakte Theorie verstanden und verstehen, sondern eher als offene Erkenntnis- und Forschungshaltung, als komplexe Projektorientierung, die besagte Theoretisierung und Praxisverbindung betreibt, kritisch, engagiert und reflexiv bislang unbeachtete Alltagsphänomene analysiert, damit auch interdisziplinär, kontextbezogen und methodisch flexibel bzw. inter- oder transdisziplinär vorgeht (wie auch in der Einleitung dieses Handbuch betont wird): dadurch zeichnen sich vorliegende Studien durch eine gewisse Unbestimmtheit oder auch Beliebigkeit aus, weshalb jede fixe Definition oder Festschreibung eines Ansatzes mindestens umstritten bleibt, jede Etikettierung oder Rubrizierung möglich oder eben auch willkürlich ist. Womöglich sind gerade diese Attribute für die internationale Attraktivität der Cultural Studies verantwortlich, und auch ihrer inzwischen erfolgten Akademisierung in der wissenschaftlichen Association for Cultural Studies sowie an universitären Instituten und in Studiengängen, durch Konferenzen, anerkannte Forschungsprojekte und wissenschaftliche Zeitschriften, ja ihrer Systematisierung, wenn nicht Kanonisierung in Handbüchern und Lexika tun sie keinen Abbruch. In Deutschland haben es Andreas Hepp und Friedrich Krotz eindrucksvoll geschafft, mit einem emsigen Ausstoß von Publikationen in Monografien, Übersichtswerken, Handbüchern, Forschungsreports und Beiträgen sowie der Einrichtung des mehrjährigen DFG-Schwerpunktprogramms “Mediatisierte Welten“ die Universität Bremen zum Zentrum der deutschen Cultural Studies zu machen, um sie ein ebenso aktives Netzwerk engagierter Wissenschaftler anzusiedeln und mit dem weiterhin verfolgten Fokus der “Medienanalyse“ die hiesige Rezeption und Theorieentwicklung der Cultural Studies zu dominieren. Dieser Erfolg nötigt Respekt und Anerkennung ab, aber er könnte auch ein wenig die international gegebene Pluralität schmälern.
Nun also das vorliegende Handbuch, das abermals die Medienanalyse fokussiert, da – wie einleitend postuliert, aber nicht belegt wird – “die Cultural Studies [sich] besonders dynamisch über ihre Medienstudien entwickelt haben und bis heute die meisten Analysen in der Tradition der Cultural Studies Medienanalysen sind“ (11) Durchdacht und für ein Handbuch nützlich ist die Gliederung: nämlich in neun thematische Abschnitte, die “auf Kernbegriffe der Cultural Studies beruhen“ (12). Ihnen sind jeweils drei bis fünf einschlägige, weniger abstrakte Kategorien untergeordnet. Sie werden jeweils von einem Überblicksartikel eingeleitet, der ihre epistemologische Entwicklung, Relevanz, analytische Ergiebigkeit und empirische Validität erläutert. Allerdings werden ihre Auswahl und ihr Zuschnitt kaum hinreichend begründet, so dass einige Fragen offenbleiben: Reflexiv, rekursiv, stets kontextualisierend, inter-, wenn transdisziplinär und interventionistisch sei das forschende Vorgehen der Cultural Studies, heißt es gleich eingangs bekanntlich und an vielen anderen Stellen, aber eine systematische oder auch strukturierte Einführung in diese Methodologie(n) womöglich anhand beispielhafter Studien lässt das Handbuch gänzlich vermissen.
Außerdem verwundert bei dem ursprünglich materialistischem Denken, dass ökonomische Fragestellungen nur in zwei Artikeln an unterschiedlichen Stellen, zum einen unter “theoretischen Basisorientierungen“ als “Materialität, Ökonomie und Markt“ und am Ende unter “Wandlungsprozesse“ als Metaprozess der “Kommerzialisierung“, thematisiert werden; den stuft der Autor Carsten Winter obendrein als “nicht maßgeblich“ für den kulturellen Wandel ein, “was wir [aber] erst [noch] verstehen lernen müssten“ (435).
Ein anderes Beispiel: In vielen Artikeln wird Macht als zentraler gesellschaftlicher Faktor in den Cultural Studies betont; er dürfte gerade auch in der medialen Kommunikation, zumal wenn man die internationale Konzentration bei den digitalen Giganten wie Apple, Google, Facebook, Microsoft und Amazon bedenkt, immense Einfluss- und Wirkpotentiale haben. Dennoch wird er in diesem Handbuch nur indirekt unter der Überschrift “Diskurs und Repräsentation“ als Thema von “Ideologie, Hegemonie und Diskurs“ angesprochen, wobei dort “Hegemonie“ als ein “Verfahren“ gekennzeichnet wird, “durch die regierende Macht von den Regierten Zustimmung zu ihrer Herrschaft herstellt“ (71). Diese doch eher funktionalistische, wenn nicht affirmative Definition dürfte wohl kaum das kritische Machtproblem analytisch zureichend erfassen.
Schließlich die von Krotz unermüdlich apostrophierte “Mediatisierung“, hier als letzter Artikel: Sicherlich lässt sich für sie eine lange Tradition und Geschichte, abhängig vom jeweils verwendeten Medienbegriff, rekonstruieren; aber analytisch thematisiert wird sie doch erst seit der anhaltenden Computerisierung und Digitalisierung, die mit den 1980er Jahren spürbar beginnen. Die Cultural Studies, die ja vielfach aus dem letzten Jahrhundert stammen, haben sich analytisch überwiegend fallweise und objektspezifisch mit Medien und Medienprodukten befasst, ein konziser theoretischer Ansatz zur “Mediatisierung“ existiert ebenso wenig wie für andere Kategorien. Und auch Krotz hat in seinen Publikationen vielfach die Akzente modifiziert und die Begrifflichkeiten gewechselt; eine empirische Rekonstruktion über die bare Selbstverständlichkeit der Medienexistenz hinaus fehlt noch weitgehend, wie er selbst hier beklagt (448). Entsprechend finden sich in den einschlägigen anderen Artikeln unterschiedliche Einschätzungen und Prognosen: Während die einen – wiederum zugespitzt – weiterhin traditionell von Massenkommunikation und dem Publikum sprechen, prononcieren andere besonders infolge von sozialen Netzwerken deren Erosion und Transformation in multimediale Hybridität, digitale communities und Prouser-Souveränität. Da wird künftig für die von den Herausgebenden vornehmlich im letzten Komplex der “Wandlungsprozesse“ apostrophierte Perspektivik noch viel, vor allem konkrete Forschungsarbeit zu leisten sein, zumal er recht pauschal mit den bekannten “Metaprozessen“ der Individualisierung (im Sinne U. Becks), Globalisierung, Kommerzialisierung und Mediatisierung besetzt ist.
Diese wenigen exemplarischen Einwände sollen nicht die imposante Leistung von Herausgebenden und Autor/innen, die mehrheitlich besagtem Wissenschaftler-Netz entstammen, das inhaltliche Gewicht sowie die überragende Ergiebigkeit des Handbuchs in Frage stellen. Natürlich ließe sich über die Auswahl, den Zuschnitt und die Zuordnung der insgesamt 35 Artikeln zu einzelnen Kategorien vortrefflich diskutieren; natürlich sind sie unterschiedlich verfasst: mal eng an der mutmaßlichen Vorgabe, die verfügbaren Cultural Studies auf die gewählte Thematik hin gründlich zu erforschen und die Diskurse wie Befunde konzise darzustellen, mal eher weit und allgemein über das jeweilige Themenfeld zu berichten, ohne den Anteil der Cultural Studies klar herauszuarbeiten – um einmal die Extreme zu markieren.
Aber es bedarf schon einer beachtlichen Disziplin und natürlich profunder Kompetenz, in den Kategorien-Artikel auf jeweils wenigen Seiten die allgemeine Grundlegung und Definition, die Sichtweisen und Befunde der Cultural Studies darzustellen, sie mit einem Fazit und einem Literaturverzeichnis zu versehen. Querverweise in den Texten ermöglichen Verknüpfungen zwischen den Themen und Texten, ersetzen allerdings nicht vollständig das leider fehlende Sachregister. Denn Überschneidungen gibt es viele, die oft genug auch eher widersprüchlich und in dieser Beschaffenheit nicht expliziert sind. So findet der/die thematisch Interessierte meist an vielen Stellen Einschlägiges, aber auch Unterschiedliches, so dass er/sie den anerkannten Stand selbst erarbeiten muss. Der/die noch wenig Bewanderte dürfte am meisten von den neun Überblicksartikeln über die großen Themenkomplexe profitieren; sie erlauben eine kompakte Einsicht. Eine stringente Lektüre der gut 450 Seiten vom Anfang bis Ende dürften sich die wenigsten zumuten: erst durch sie erfährt und erkennt man die ungeheure Fülle und Prosperität der Cultural Studies für die Medienanalyse, besser: die Medienwissenschaft. Das ist das beeindruckende Verdienst von Herausgebern und Autoren.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Prof. Dr. Andreas Hepp an der Universität Bremen
- Webpräsenz von Prof. Dr. Friedrich Krotz an der Universität Bremen
- Webpräsenz von Dr. Swantje Lingenberg an der Universität Bremen
- Webpräsenz von Jun.-Prof. Dr. Jeffrey Wimmer an der TU Ilmenau
- Webpräsenz von Prof. Dr. Hans-Dieter Kübler am Institut für Medien- und Kommunikationsforschung (IMKO)