Rezensiert von Helmut Schanze
“Wer wird nicht einen Klopstock loben?Doch wird ihn jeder lesen? – Nein!
Wir wollen weniger erhoben
und fleißiger gelesen sein.”
Diese Zeilen Lessings aus dem Jahr 1753 könnten auch auf universellen Ostpreußen Johann Gottfried Herder gemünzt sein. Lessing, Goethe und Schiller, so der Autor der neuen kleinen Herder-Biographie, lese man bis heute, Herder sei “einer der größten Denker und bedeutendsten Menschen, die je in Deutschland gelebt haben”. “Im Vergleich mit seiner Leistung und Bedeutung ist sein Bekanntheitsgrad eher gering” (7). Dem ist zuzustimmen, auch wenn man Messbarkeit im Sinne von medienwissenschaftlichen “Einschaltquoten” in Frage stellen müsste. Ist der Vergleich das Auge des Philologen, so wird sich diese Disziplin als Basiswissenschaft einer Kulturwissenschaft in der Tat fragen müssen, wie sie mit einen Rezeptionsbruch umgehen muss, der ja nicht nur Herder betrifft. Klopstocks Ruhm überdauert kaum den Zeitraum der großen Edition seiner Werke, und auch Herder wurde weniger gelesen als in Anspruch genommen. Dass dies mit den Revolutionen um 1800 zu tun hat, dass beide mit den Zielen der politischen, der Französischen Revolution sympathisierten, dass sie auch die romantische “Literaturrevolution” vorbereitet haben, Herder als Vordenker und Stichwortgeber, darf angenommen werden.
Wenn der Verfasser das Genre “Leben und Werk” in einprägsamer Weise, ohne den geläufigen Umfang, fasslich, zum Zweck einer “Rettung” Herders einsetzt, unterstreicht dies nicht nur die methodische Bedeutung dieses Genres auch für die neuere Kultur- und Medienwissenschaft, sondern ist auch als Kritik an einer Wissenschaft zu begreifen, die gegenüber einer personalisierenden, zur Heldenverehrung tendierenden älteren Literatur- und Geistesgeschichte die Geschichte ohne Namen präferiert, in der es nur auf die thematisierenden Verfahren ankommt. Im Blick auf Herder gewinnt diese Methodenfrage der Kultur- und Medienwissenschaften ein besonderes Gewicht. War nicht Herder, genauer besehen, ein großer Thematisierer, dessen Werk ausgeschrieben werden konnte, ohne den generischen Zusammenhang seiner Gedanken zu beachten, ein großer Formulierer, dessen Formulierungen fast beliebig aus dem Zusammenhang gerissen werden konnten?
Maurer arbeitet klassisch-rhetorisch, topisch mit Lebensstationen, eingeleitet mit “Herkunft, Kindheit, Studium und erstes Amt”. Es folgt “Die große Seereise” – eine Epoche in der Literaturgeschichte, wie man in Fritz Martinis Beitrag zu Heinz Otto Burgers “Annalen der deutschen Literatur” von 1952 nachlesen kann: “1769 – 1775. Von Herders Abfahrt aus Riga bis zu Goethes Ankunft in Weimar” sind dort die Epochengrenzen des “Sturm und Drang”. Es folgen, schlicht, ohne jede Häme “Bückeburg”, “In Weimar angekommen im neuen Amt”, “Die Italienische Reise” – im Jahr der Revolution -, endlich die “Spätzeit” und ein abschließendes Kapitel “Herders Größe” – auch hier der klassische Terminus aus der rhetorischen Epideixis. In dieser Biographie werde die jeweiligen “Werke” als Lebensleistungen eingestellt.
Eine zentrale Fragestellung muss sein: wie steht Herder zum – jüngeren – Goethe, der der Zeit “um 1800” den Namen gegeben hat, zum “Klassiker”, und wie zu der Folgegeneration, den “Romantikern”, ihm so viel, als Vordenker, verdanken. Maurer beschränkt sich weitgehend auf die deutsche Perspektive der “Aufklärung”. Herders, wenn auch kurze Pariser Zeit, die persönliche Begegnung mit den “Enzyklopädisten” als Teil seiner intellektuellen Biographie, bleibt in der Darstellung nur eine Episode. Die Naherfahrung der Französischen Revolution, der Aufenthalt in dem für Frankreich gewonnenen Rheinland, in Aachen, ist – wiederum biographisch gesehen, ‚nur‘ ein “Badeaufenthalt”. Maurer nimmt ihn, zu Recht, zum Anlass, die Publikationssituation des Zeitschriftenprojekts “Briefe zur Beförderung der Humanität” neu zu sehen – mit der nicht nur rhetorischen Frage “Was Herder nicht zu veröffentlichen gewagt hat”. Dass Herders Größe die des Aufklärers war, neben Lessing und Kant, aber auch neben d’Alembert, Diderot und Rousseau wird am Schluss, in einer Art Bilanz seiner Leistungen, nicht mehr aufgenommen.
Was aber unterscheidet Herder, den große Aufklärer und Vordenker, von Goethe und Schiller, von den “Romantikern”, und verbindet sie zugleich? Dazu gibt eine Darstellung im Genre Leben und Werk plausible, theoriegeschichtliche Antworten. Goethe und Schiller bedienen sich der großen klassischen Formen der Dramas, der Lyrik und des Epos. Goethe stellt darüber hinaus mit “Werther”, “Meister” und “Wahlverwandtschaften” die kanonischen Formen des Romans auf. Die “Romantiker” heben auf das moderne “Leben, als Buch” (Novalis) ab. Das “Fragment” des Lebens wird zum Programm. Herder, so kann Maurer zeigen, ist (noch) ein Redner, der seine Kunst und sich selber letztlich auch zum Verschwinden bringen musste. Sein Werk ist ein Werk der kleinen Gattungen. Er ist – lebensgeschichtlich – den akademischen Genres der “Preisschrift”, den Formen der Polemik und den Formen der Sammlung verpflichtet. Er schreibt “Fragmente”, “Kritische Wälder”, “Fliegende Blätter”, veröffentlicht Predigten. Auch ist er (noch) der große Theolog. Nicht zu vergessen ist das Zeitschriftenprojekt der Humanitätsbriefe (mit immerhin fünf Jahrgängen 1793 – 1797).
Dies ist bei Herder keineswegs nur “rückwärtsgewandte Prophetie” (F. Schlegel), Suche nach Ursprung und Volk, sondern tägliches Geschäft des Intellektuellen neben aufreibender Berufstätigkeit. Seiner “großen Seereise” aber ist der Erfolg einer Selbsterkundung letztlich versagt, er landet in Bückeburg, und – nota bene – bei Goethe, “Werther” und “Meister”, in Weimar. Das “Journal” seiner Reise ist alles andere als “Journalismus”. Sein spätes Italien, von Goethe entdeckt, ist für ihn nicht mehr der Ort der Kunst schlechthin, sondern eine gesellschaftliche Bruchzone. Seine “Stimmen der Völker” werden u. A. von seinem großen Schüler Johannes von Müller, dem “deutschen Tacitus” und General-Erziehungsdirektor beim verhassten Napoleonbruder Jér´o`me in Kassel, herausgegeben, der noch vergessener ist als er. Den bis heute andauernden literarischen Erfolg mit Lied und Märchen heimsen Arnim, Brentano, die Grimms ein, auch wenn sie sich des Herderschen Theorems vom “Ursprung” und der Sprachbildung bedienen. Mediengeschichtlich gelesen, bringt Michael Maurers traditionelle Form des Lebens und der Werke, die Biographie, Herders Modernität, aber auch das breite Spektrum jener Probleme zur Darstellung, die bei einem nur thematischen Darstellungsverfahren kaum Beachtung finden, so die Fragen der Schriftstellerei im Nebenberuf, die eigentlich zum Hauptberuf des “Freien Schriftstellers” werden sollte, die Fragen der Institutionen und ihrer Zwänge – wie die Akademie, welche “Aufgaben” stellt – die Bedienung von Verlagsinteressen und vor allem den historisch-politischen Kontext einer sogenannten Sattelzeit, in der die literarischen “Imperatoren” von Tag zu Tag verschwinden können. Der Herdersche Begriff der “Sphäre”, die das Tier beherrscht, und aus der sich aber “der Mensch” befreien kann, auch als Mängelwesen, ist nur in einer Lebensgeschichte der Werke fassbar. Hierzu trägt das Herder-Buch von Maurer wesentlich bei.
Über das BuchMichael Maurer (2014): Johann Gottfried Herder: Leben und Werk. Köln [u.a.] : Böhlau, 195 Seiten, 15,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseMichael Maurer: Johann Gottfried Herder. von Schanze, Helmut in rezensionen:kommunikation:medien, 26. Januar 2015, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/17306