Cordula Nitsch: Journalistische Realität und Fiktion

Einzelrezension
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Rezensiert von Michael Harnischmacher

Realität-und-FiktionEinzelrezension
Die Darstellung des Journalismus in fiktionalen Formaten – in Romanen, Spielfilmen, im Theater – hat die Journalismusforschung schon lange interessiert, auch wenn es keine wirkliche Forschungstradition zu diesem Thema gibt. Arbeiten dazu sind bislang eher sporadisch entstanden und, das macht das Buch von Cordula Nitsch mit einer umfassenden Synopse der bisherigen Forschungsarbeiten deutlich, sehr unterschiedlich in wissenschaftlicher Methode und Ertrag. Vor allem an systematischen, empirischen Untersuchungen mangelt es noch.

Hier setzt das vorliegende Buch an – und schafft in vielen Bereichen Abhilfe. Entstanden als Dissertation an der Universität Augsburg setzt sich die Arbeit von Nitsch vor allem dadurch von bisherigen Forschungen ab, dass die Autorin systematisch und umfassend den Forschungsstand aufarbeitet und darlegt, einen klar definierten Gegenstandsbereich untersucht (die Darstellung des Fernsehjournalismus), sowie eine nachvollziehbar operationalisierte Methode anwendet (standardisierte, quantitative Inhaltsanalyse). Dieser planvolle, klar strukturierte Zugang stellt in der Beschäftigung mit der fiktionalen Journalismusdarstellung zur Zeit sicherlich den Maßstab dar, an dem sich zukünftige Arbeiten messen müssen.

Auch in einem weiteren Punkt unterscheidet sich die Studie von bisherigen Arbeiten zum Thema. Ihre Untersuchung einer Stichprobe von jeweils 30 deutschen und US-amerikanischen Romanen fokussiert nicht allein die Darstellung der Protagonisten und ihrer Rolle als Journalisten, sondern legt vor allem einen Schwerpunkt auf die Darstellung und Reflexion der jeweiligen Mediensysteme. Sie untersucht, inwieweit institutionelle, normative und politische Rahmenbedingungen des deutschen und US-amerikanischen Fernsehsystems in die Romanhandlung einbezogen werden. Auf diese Weise kann sie nicht nur aufzeigen, dass Spezifika der nationalen Mediensysteme und deren Entwicklung thematischen Einzug in die Darstellung des fiktionalen Journalismus halten (etwa die Einführung des dualen Systems in Deutschland). Es zeigt sich auch, dass es einen Unterschied zwischen der überwiegend positiven Darstellung der journalistischen Protagonisten und einer kritischen, eher negativen Darstellung des journalistischen Systems gibt. So sind “viele der fiktiven Fernsehjournalisten gefangen […] in einem unmoralischen System, in dem Quoten- und Markterfolg die Leitlinien bestimmen” (280).

Trotz aller Systematik und umfassenden Darstellung bleiben einige Wermutstropfen. Gerade der am Thema interessierte Leser vermisst eine Übersicht über die Grundgesamtheit aller für die Analyse in Frage gekommenen Romane. Dokumentiert im Anhang sind ausschließlich die jeweils 30 deutschen und US-amerikanischen Romane des Zufallssamples. Hier kommt ein weiterer Punkt zum Tragen: Die Ziehung des Samples wird zwar ausreichend beschrieben (vgl. 145f.), allerdings wird zum Beispiel die Zahl von 30 Analyseeinheiten pro Land nicht begründet – dies wäre schon vor dem Hintergrund interessant gewesen, dass wesentlich mehr amerikanische Titel (362) als deutsche (87) die Grundlage der Stichprobe bildeten. Die reine Zufallsstichprobe hat darüber hinaus den Nachteil, dass ein Bestseller wie etwa Alexander Osangs Die Nachrichten keinen Einzug in die Analyse genommen hat. Vor dem Hintergrund des angenommenen Wirkpotenzials fiktionaler Journalismusdarstellung ist jedoch der (kommerzielle) Erfolg eines Titels bedeutsam – ein Aspekt, der etwa bei der 2005 im selben Verlag erschienenen qualitativ ausgerichteten Arbeit von Evelyn Engesser (2005) forschungsleitend war, auf den hier jedoch leider nicht eingegangen wird: Auflagenzahlen oder ähnliche Indizes zu den ausgewählten Romanen sucht man vergeblich.

Die Frage nach dem Einfluss der fiktionalen Journalismusdarstellung auf die Wirklichkeit bleibt damit weiterhin ein Desiderat der kommunikationswissenschaftlichen Forschung. Ein Wirkpotenzial wird von Cordula Nitsch vor allem darin vermutet, dass die meisten Rezipienten den Journalismus nicht aus Primärerfahrung kennen, sich ihr Bild des Berufes also in der Hauptsache aus dessen medialer Darstellung herleiten müssen. Eine Argumentation, die man durchaus als klassische Begründung für die Relevanz einer Auseinandersetzung mit der fiktionalen Journalistendarstellung ansehen kann (sie findet sich schon bei Karl d’Ester 1941), die aber, obwohl einleuchtend, empirisch nur schwer nachzuweisen ist. Mit dem Vorschlag, sich dieser Lücke zu widmen, beschließt Cordula Nitsch auch ihr Buch. Diesen Vorschlag aufzunehmen und dem Thema eine ernsthafte wissenschaftliche Beachtung zu schenken, ist ein wichtiger Appell. Wenn auch eine solche Forschung mit derselben Qualität durchgeführt würde wie die Studie in diesem Buch, wäre die Medien- und Kommunikationswissenschaft um weitere wichtige Erkenntnisse reicher.

Literatur:

  • d’Ester, K.: Die Presse und ihre Leute im Spiegel der Dichtung. Eine Ernte aus drei Jahrhunderten. Würzburg [Konrad Triltsch Verlag] 1941.
  • Engesser, E.: Journalismus in Fiktion und Wirklichkeit. Ein Vergleich des Journalistenbildes in literarischen Bestsellern mit Befunden der empirischen Kommunikatorforschung. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2005.

Links:

Über das BuchCordula Nitsch: Journalistische Realität und Fiktion. Eine empirische Analyse des Fernsehjournalismus in deutschen und US-amerikanischen Romanen (1975-2005). Köln [Herbert von Halem Verlag] 2011, 336 Seiten, 32,- Euro.Empfohlene ZitierweiseCordula Nitsch: Journalistische Realität und Fiktion. von Harnischmacher, Michael in rezensionen:kommunikation:medien, 6. Dezember 2013, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/14923
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