Rezensiert von Mischa Meier
Im Juli 2009 fand am Internationalen Wissenschaftsforum Heidelberg ein Kolloquium zum Thema “Politische Kommunikation und öffentliche Meinung in der antiken Welt” statt; die bei dieser Gelegenheit vorgetragenen Referate liegen nunmehr in Form des hier anzuzeigenden Sammelbandes vor. Die Herausgeberin hat es sich zur Aufgabe gemacht, die in den Sozial- und Geisteswissenschaften geführten Debatten über politische Kommunikation einerseits sowie ‘öffentliche Meinung’ andererseits zusammenzuführen (12). Dies ist gerade aus Sicht der Altertumswissenschaften ausgesprochen begrüßenswert, beobachtet man dort doch eine zunehmende Unsicherheit im Umgang mit diesen Kategorien. Sie resultiert aus einem grundsätzlichen Unbehagen gegenüber Theoriemodellen, die vorwiegend mit Blick auf die Moderne entwickelt worden sind, in Kombination mit dem Bewusstsein, dass auch für die Analyse antiker Gesellschaften ein theoretisches Fundament letztlich unentbehrlich ist. Dass aber ‘politische Kommunikation’ und ‘öffentliche Meinung’ zwei Begriffe darstellen, die auch für die Altertumswissenschaften von höchster Relevanz sind, wird niemand bestreiten wollen – insbesondere nach der Lektüre des vorliegenden Bandes.Die grundsätzlichen methodischen Probleme, die sich dabei ergeben, skizziert die Herausgeberin konzise in ihrer Einleitung (11-30), wobei sie besonders die zwei aktuell am intensivsten diskutierten Theoriekonzepte zur ‘öffentlichen Meinung’ miteinander konfrontiert: Jürgen Habermas’ Ansatz, der darin einen rational geführten Diskurs innerhalb einer aufgeklärten Elite als Gegengewicht zur Regierung sieht, sowie das von Elisabeth Noelle-Neumann entwickelte sozialpsychologische Modell, das vor allem Aspekte der sozialen Kontrolle akzentuiert (14). Damit ist bereits ein Rahmen vorgegeben, in dem die nachfolgenden Beiträge zu verorten sind: die Frage danach, welcher der beiden Großtheorien die höhere Valenz mit Blick auf antike Gesellschaften zukommt.
Eine weitere Grundfrage ergibt sich aus Kuhns Hinweis auf die Verankerung von Habermas’ Theorie in einem neuzeitlich-westeuropäischen Kontext sowie die Charakterisierung der öffentlichen Meinung in Noelle-Neumanns Beschreibung als “pankulturelles” Phänomen (15): Hier wird in aller Schärfe die Differenz Vormoderne-Moderne betont und die zentrale Frage gestellt, ob moderne sozialwissenschaftliche Ansätze überhaupt dazu geeignet sein können, um auf vormoderne Gesellschaften zuzugreifen.
Die prononcierte Unterscheidung zwischen Vormoderne und Moderne liegt Kurt Imhofs Beitrag über “Öffentlichkeitssoziologie für die Altertumsforschung” (55-66) zugrunde, in dem “die Säkularisierung von öffentlicher Kommunikation, Politik und sozialer Ordnung” als das eigentliche Proprium der Moderne apostrophiert wird (55), wodurch erst eine Öffentlichkeit als Signum einer zivilisierten Gesellschaft ermöglicht werde (57). Zentrale Kategorie ist dabei die Vernunft, die während der Aufklärung an die Stelle der Vorsehung getreten sei. Religiöse Weltbilder der Vormoderne seien durch säkulare ersetzt worden, Zeitgenossen hätten die Welt nicht mehr als Produkt “außerweltlicher Fügungen” hingenommen, woraus “ein gewaltiger Sinnbedarf” entstanden sei, der die Basis für öffentliche Meinung als diskursive Formation geliefert habe (58).
Aus der Perspektive der Altertumswissenschaften gibt es gegen diesen wohl doch allzu reduktionistischen Ansatz einiges einzuwenden: Keineswegs lässt sich für die Antike von einer durchgängigen “Verankerung des Wahren, des Guten und des Schönen im Göttlichen” (58) sprechen. Wer einmal die intensiven politischen Debatten verfolgt, die in antiken Volksversammlungen geführt worden sind und die bis in die Spätantike möglich waren, wird sich rasch davon überzeugen können. Ohnehin kennt die Antike nicht die ‘eine, unabänderliche Ordnung’ (die indes immer wieder in sozialwissenschaftlichen Handbüchern begegnet), und keineswegs ist das Transzendentale allgegenwärtig. Und selbst dort, wo Kommunikation und Handeln tatsächlich durch einen ‘göttlichen Willen’ o. Ä. determiniert wird, bleibt zu fragen, ob es sich dabei um “außerweltliche” Anleitungen handelt oder ob nicht vielmehr das Göttliche selbst Teil der Ordnungen darstellt. Aus all dem ergibt sich die Frage, ob die kraftvolle Unterscheidung zwischen Vormoderne und Moderne nicht letztlich auch den Versuch reflektiert, ein handliches Gegenüber zur Konstruktion einer Moderne als komplexer neuer Formation zu gewinnen, die man sonst ganz aus sich selbst heraus und somit ohne klare Distinktionskriterien definieren müsste.
Gleichwohl bleiben natürlich fundamentale Unterschiede bestehen; sie mögen sich insbesondere daran zeigen, dass Habermas‘ Konzept einer öffentlichen Meinung nun einmal ganz aus Erfahrungen der Moderne gewonnen worden ist (wenngleich auch Habermas Ansatzpunkte für seine Theorie in der Antike finden konnte). Spricht damit also trotz der Abfederung der vermeintlich scharfen Vormoderne-Moderne-Differenz alles dafür, dass für die Antike nur Noelle-Neumanns Ansatz zu greifen vermag? Jedenfalls kann ganz in diesem Sinne Nikolaus Jackob (“Cicero und die Meinung des Volkes: Ein Beitrag zu einer neuen Geschichtsschreibung der öffentlichen Meinung”, 167-190) überzeugend Ciceros Leiden an der öffentlichen Meinung und seine Abhängigkeit von ihr nachzeichnen, die sich in seinen Schriften deutlich als soziale Kontrolle manifestiert (vgl. 179); Jan Stenger (“Libanios und die öffentliche Meinung in Antiochia”, 231-254) vermag die Schwierigkeiten, mit denen sich Libanios als Parteigänger des letzten paganen Kaisers Julian nach dessen Tod in einem christlichen Umfeld auseinanderzusetzen hatte, treffend zu beschreiben und arbeitet die rhetorischen Strategien heraus, mit denen Libanios der öffentlichen Meinung und dem aus ihr resultierenden sozialen Druck entgegentrat. Erich Lamp schließlich zeigt auf, welche umfassende Steuerungsgewalt die öffentliche Meinung schon im Alten Testament besitzt – sowohl mit Blick auf einzelne Individuen als auch hinsichtlich der Konstruktion des Königtums zwischen Saul und Rehabeam (“Öffentliche Meinung in der alttestamentarischen Lebensordnung”, 255-275).
Legt man diese Beiträge zugrunde, so offenbart sich in der Tat der von Imhof zugrunde gelegte tiefe Abgrund zwischen Vormoderne und Moderne: Man hat den Eindruck, dass öffentliche Meinung sich im Altertum ausschließlich in Form sozialer Kontrolle zu manifestieren vermag. Und dennoch lassen sich Gegenbewegungen ausmachen, die auf ein hohes diskursives Potenzial verweisen und andeuten, dass sich möglicherweise doch auch mit anderen Ansätzen als dem sozialpsychologischen noch Erkenntnisse gewinnen lassen.
So analysiert etwa Gunther Martin (“Kritik am Volk, vor dem Volk: Öffentliche Kommunikation und Konfrontation im klassischen Athen”, 67-85) den Konformitätsdruck, dem sich athenische Politiker im Umgang mit dem Volk ausgesetzt sahen, am Beispiel unterschied-licher Textgattungen (Gerichtsrede, Komödie, Tragödie) und arbeitet heraus, dass dem Medium der Gattung offenbar eine zentrale Rolle zukam: Dort, wo der sachliche Informationsgehalt am höchsten ist – in der Rede – erscheint Kritik am übermächtigen Demos am behutsamsten. “Fundamentale Kritik dagegen findet sich in der Gattung, die dem politischen Raum eigentlich am fernsten steht: der Tragödie” (83). Politische Kommunikation und der Umgang mit der öffentlichen Meinung lassen sich also schon in klassischer Zeit nicht auf einen (gattungs)übergreifenden Nenner bringen. Noch komplexer wird die Situation im Hellenismus: Ruth Bielfeldt (“Polis Made Manifest: The Physiognomy of the Public in the Hellenistic City with a Case Study on the Agora of Priene”, 87-122) gewinnt aus baulichen Befunden und der Ausgestaltung öffentlicher Räume interessante Hinweise auf die Interaktion zwischen ‘Demos’ und herausragenden Einzelpersonen.
Schließlich die Frage, wer überhaupt ‚die‘ öffentliche Meinung zu formen bzw. vorzugeben vermag – ein Problem, das insbesondere für die Altertumswissenschaften von hoher Relevanz ist, insofern der größte Teil unseres Materials auf die Eliten konzentriert ist. Sind diese aber konsequent mit den Meinungsführern gleichzusetzen? Clifford Ando (“Empire, State, and Communicative Action”, 219-229) geht vor dem Hintergrund dieser Problematik der Frage nach, wie sich öffentliche Meinung unter den Kommunikationsbedingungen eines vormodernen Imperiums überhaupt realisieren konnte. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Habermas‘ Konzept für das Römische Reich nicht greifen könne, da dort ein öffentlicher Raum in dessen Sinne fehle; überdies seien die Kommunikationswege zu lang gewesen, um übergreifende politische Diskurse zu generieren – dies sei lediglich auf lokaler Ebene möglich gewesen.
Optimistischer ist demgegenüber Robert Morstein-Marx (“Political Graffiti in the Late Roman Republic: ‘Hidden Transcripts‘ and ‘Common Knowledge'”, 191-217), der anhand einer Analyse politischer Graffiti die Macht des namenlosen Volkes zu greifen versucht; seine originellen Ausführungen leiden allerdings unter der Tatsache, dass sein Belegmaterial ausgesprochen dünn ist. Insofern dürfte auch seine These, wonach Caesars Ermordung gleichsam ‘von unten’ erzwungen worden sei (durch Graffiti, die Druck auf Brutus ausübten) und keineswegs vornehmlich den Bedürfnissen seiner aristokratischen Standesgenossen Rechnung trug, kritisch zu betrachten sein – zumal sie mit der übrigen Evidenz (insbesondere zu den Reaktionen des Volkes auf den Tod des Diktators) nicht in Einklang zu bringen ist. Die von Gert Ueding postulierte überragende Rolle des “Redner-Staatsmann” als Meinungsführer und Handlungsanweiser, die sich bei Cicero greifen lasse (“Das Konzept des Redners als Meinungsführer in der römischen Rhetorik”, 151-166), überzeugt in ihrer Eindimensionalität hingegen allenfalls als individuelle Utopie; Ueding hätte gut daran getan, sich auch mit der neueren Literatur zur Interaktion von Redner und Publikum in der römischen Republik auseinanderzusetzen.
Die instruktiven Beiträge des Sammelbandes vermögen die in der Einleitung aufgeworfenen Fragen nicht abschließend zu lösen; sie können es auch gar nicht – und sie wollen es nicht. Mit gutem Grund weist Thomas Roessing (“Öffentliche Meinung in der Philosophie des Alten China aus sozialwissenschaftlicher Sicht”, 297-311) darauf hin, dass es ohnehin nicht angemessen sei, das Konzept Jürgen Habermas’ gegen dasjenige Elisabeth Noelle-Neumanns ausspielen zu wollen, da beide sich auf unterschiedlichen Ebenen bewegten (302): einer normativen (Habermas) und einer empirisch-analytischen (Noelle-Neumann). Und schließlich verweist Joachim Friedrich Quacks Beitrag zu “Pharao und Hofstaat, Palast und Tempel” (277-295) darauf, dass es im Altertum Gesellschaften gab, in denen die Kategorie der ‘öffentlichen Meinung’ möglicherweise eine deutlich geringere Rolle spielte, als man es sich auch aus der Perspektive der griechisch-römischen Antike heraus vorzustellen vermag: Im Alten Ägypten war sie offenbar auf eine kleine Gruppe innerhalb des Hofstaates begrenzt, die Quack als “kleine interne Öffentlichkeit” bezeichnet (284).
Die Diskussionen um politische Kommunikation und öffentliche Meinung im Altertum werden anhalten. Der vorliegende Sammelband bietet nunmehr eine fundierte Grundlage für weitere Orientierungen.
Links:
Über das BuchChristina Kuhn (Hrsg.): Politische Kommunikation und öffentliche Meinung in der antiken Welt. Stuttgart [Franz Steiner Verlag] 2012, 314 Seiten, 54,- Euro.Empfohlene ZitierweiseChristina Kuhn (Hrsg.): Politische Kommunikation und öffentliche Meinung in der antiken Welt. von Meier, Mischa in rezensionen:kommunikation:medien, 6. Dezember 2012, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/10819