Volker Lilienthal, Irene Neverla (Hrsg.): Lügenpresse

Einzelrezension, Rezensionen
3176 Aufrufe

Rezensiert von Marlis Prinzing

Einzelrezension
Die “Lügenpresse“-Parole wurde zur Sirene. Sie schreckte auf, weckte auf und ließ aufhorchen: Was war dran an den Vorwürfen? Öffentlich und im Privaten wurde heftig darüber diskutiert. Und bald auch: Welche Aufgaben haben eigentlich Journalisten? Beziehungsweise welche haben ihnen Tech-Intermediäre wie Facebook und digitale Techniken, die das Publikum selbst zu Publizisten machten, übriggelassen? So löste eine irritierende Parole eine überfällig gewordene Debatte darüber aus, in welcher Gesellschaft wir leben möchten.

Die islamophobe Pegida-Bewegung sowie die AfD machten vor rund vier Jahren einen uralten Begriff zu ihrem Schlachtruf: “Lügenpresse“. Denn Medien gäben deren Positionen nur verzerrt wieder, sie manipulierten, seien von der Politik und von eigenen Interessen gesteuert. “Lügenpresse“-Sprechchöre, “Lügenpresse”-Plakate, Gewalt sowie Gewaltandrohung gegenüber Journalisten sorgten für Unruhe, Erstaunen und für viel Reflexion in den Medienhäusern. Sie irritierten und kümmerten auch das breite Publikum: Verschweigen Medien bewusst negative Fakten über Flüchtlinge oder Muslime, unterstellen sie dem russischen Präsidenten Putin im Ukraine-Konflikt grundlos Böses? Sind sie Sprachrohre irgendwelcher Eliten und führen sie so das breite Publikum an der Nase herum?

Um Antworten zu finden, ließen die Kommunikationswissenschaftler Irene Neverla und Volker Lilienthal in einer gezielt auch an Bürgerinnen und Bürger gerichteten Ringvorlesung an der Universität Hamburg 16 Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis vortragen und bündelten sie in einem gut lesbar geschriebenen Sammelband Lügenpresse. Anatomie eines politischen Kampfbegriffs. Das Vorhaben ist gelungen, weil der Großteil der Beiträge nicht nur problematisiert, sondern Grundwissen vermittelt, wie die Mediengesellschaft heute funktioniert, welche Risiken sie birgt und was sich ändern sollte, und weil der Band illustriert, wie ertragreich es sein kann, Befunde Medienforschender und Erfahrungen Medienschaffender zu verknüpfen. Gerade auch, weil dies gelungen ist, folgen daraus zwei Aufträge: gerichtet an Forschende, kontinuierlich ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen, und an Medienschaffende, sich dem Publikum zu stellen, Debatten anzustoßen oder sich in sie einzumischen, Gegenwind auszuhalten und dann Kante zu zeigen, wenn es nicht mehr um Meinung geht, sondern um Hass und (vermutete) Straftatbestände.

Irene Neverla erklärt einleitend in ihrer Begriffsgeschichte, weshalb das Publikum von jeher Journalismus zwiespältig wahrgenommen hat. Die Bezeichnung “Lügenpresse“ in der heutigen Verwendung unterstelle Verlogenheit, zudem, dass betrügerische Eliten sich miteinander gegen “das Volk“ verschwören, und sie markiere, dass heute offenbar gefühlte Fakten mehr zählen als belegbare. Dies ist auch eine Folge der Funktionsweise sozialer Medien, erläutert Katharina Kleinen-von Königslöw. Weil in sozialen Medien Selbstbestätigung und Empfehlung das höchste der Gefühle sind, verstärken sich dort Ansichten und werden energisch verfochten, gleichgültig ob sie belegbar sind. Trotzdem trauen die meisten Menschen etablierten Medien mehr als vor den “Lügenpresse“-Debatten. Nayla Fawzi, Magdalena Obermaier und Carsten Reinemann verweisen dazu auf diverse Studien. Sie zeigen jedoch auch, dass jene, die den etablierten Medien schon lange misstrauen, immer aggressiver auftreten, gerade auch weil sie sich von ihnen nicht gebührend wahrgenommen fühlen. Mehrere Autoren schildern, welche Ausmaße bis hin zu körperlichen Angriffen auf Journalisten in Deutschland diese Wut angenommen hat (Martin Hoffmann, ferner Tobias Gostomzyk und Kai Gniffke).

Was tun? Mehr differenzieren, rät Michael Brüggemann, und beschreibt dies schlüssig an der Klimadebatte und der Zuschreibung “Leugner“. Man dürfe nicht alle in einen Sack stecken, also schlecht informierte Menschen und Menschen, die sich kritisch äußern, sowie jene, für die der Begriff “Leugner“ wirklich angemessen sei, weil sie eben ganz bewusst Unwahres verbreiten.

Einige Autoren erklärten die Entfremdung von Publikum und Journalismus mit Fehlentwicklungen wie der Elitennähe im Journalismus (Uwe Krüger) und dem Anschein von Regierungsnähe (Michael Haller am Beispiel der Flüchtlings-Berichterstattung) und knüpfen daran ihre Handlungsvorschläge: Journalisten sollten transparenter machen, wie sie arbeiten (Haller) oder Ombudsleute installieren, die diese Aufgabe übernehmen (Horst Pöttker).

Freitag-Herausgeber Jakob Augstein verlangt, wirklich hinzuhören, was die “kleinen Leute“ umtreibt und bewegt, um ihnen systematisch eine Stimme zu geben. Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer stellt Prinzipien auf für einen Journalismus, der die wahre Welt in ihrer Vielfalt erklärt, und fokussiert eine Haltung kritischer Distanz auch zu sich selbst. Das helfe, besser zu den eigenen Fehlern zu stehen sowie Positionen anderer ernst zu nehmen und auszuhalten.

Giovanni di Lorenzo (Die Zeit) rät, auf Recherche zu setzen, also auf der Kraft der Fakten und der belegbaren Hintergründe zu beharren. Die Gesellschaft könne sich in politischen Fragen nie nur aufs Gefühl beschränken. Schon die Aufklärung postulierte, dass Wissen Macht bedeute. Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung) will, dass sich die  Journalisten auf ihre Aufgabe zurückbesinnen, die an die im Artikel 5 des Grundgesetzes verankerte Pressefreiheit anknüpft. Sich dessen (wieder) bewusst zu werden, sei der Beginn von “gutem“ Journalismus.

Jeder der Vortragsabende im Wintersemester 2016/17 sprach mehrere Hundert Menschen an und zeigt: Es besteht Bedarf an Wissen und Debatte. Das sollte weitere Medienhäuser und Bildungseinrichtungen anstacheln, bei passender Gelegenheit ebenfalls klar zu machen, was verantwortungsbewussten Journalismus ausmacht, was wir von ihm einfordern können und inwiefern er Rückgrat und Bestandsgarantie demokratischer Gesellschaft ist. Anders gesagt: Unwissenheit frisst Demokratie.

Links:

Über das BuchVolker Lilienthal, Irene Neverla (Hrsg.): Lügenpresse. Anatomie eines politischen Kampfbegriffs. Köln [KiWi-Taschenbuch] 2017, 320 Seiten, 9,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseVolker Lilienthal, Irene Neverla (Hrsg.): Lügenpresse. von Prinzing, Marlis in rezensionen:kommunikation:medien, 28. Mai 2018, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/21205
Veröffentlicht unter Einzelrezension, Rezensionen