Rezensiert von Michael Wedel
Wohl kein zweites nationales Kino ist in seiner geschichtlichen Entwicklung derart markant von gesellschaftspoli- tischen Diskontinuitäten gekennzeichnet wie der deutsche Film. Dies scheint die Periodisierung für die Filmgeschichts- schreibung zu erleichtern und eine Orientierung an den Kerndaten der politischen Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert zwangsläufig zu machen. Entsprechend wird der historische Verlauf des deutschen Films in einschlägigen Überblicksdarstellungen wie in Arbeiten zu einzelnen Epochen zumeist in enger Analogie zur staats- und gesellschafts- geschichtlichen Entwicklung gefasst und in die Zeit des Wilhelminischen Films (1895-1918), Weimarer Kinos (1919-1933), NS-Films (1933-1945), des Nachkriegsfilms in Ost und West bis Mitte der 1960er Jahre (Ende der Adenauer-Ära bzw. 11. Plenum des ZK der SED), des Neuen Deutschen Films bis 1982 (dem Todesjahr Rainer Werner Fassbinders und zugleich Beginn der Kanzlerschaft Helmut Kohls) sowie des Gegenwartsfilm im wiedervereinigten Deutschland seit 1990 unterteilt.Es ist das erklärte Ziel des vorliegenden Sammelbandes, dieses in der Geschichtsschreibung des deutschen Films gängige Modell am Beispiel des vermeintlichen ‘Nullpunkts 1945’ zumindest zu problematisieren, wenn nicht gar vollständig aufzubrechen. Zwar kann das Ende des Zweiten Weltkriegs, das die vollständige Zerschlagung der unter nationalsozialistischer Herrschaft zentralisierten deutschen Filmwirtschaft durch die alliierten Besatzungsmächte zur Folge hatte, auf institutioneller Ebene als unhintergehbare historische Zäsur gelten. Immer wieder jedoch hat die Forschung zum Nachkriegsfilm in beiden deutschen Staaten auf personelle und stilistische Kontinuitäten hingewiesen, die sich über diese Epochenschwelle hinweg vor allem auf dem Gebiet der Spielfilmproduktion ergeben haben.
An diese Praxis eines differenzierenden, auf verschiedenen Ebenen der historischen Beschreibung operierenden Zugriffs können die Beiträge zu diesem Sammelband anschließen, die auf Vorträge zurückgehen, die auf dem 21. filmhistorischen Kongress im Rahmen des fünften Cinefests im November 2008 in Hamburg gehalten wurden. Sie vollziehen den Brückenschlag über das Jahr 1945 hinweg im Bereich des Spielfilms am Beispiel einzelner Schauspielerkarrieren (Rainer Dick stellt hier Ernst Wilhelm Borchert und Carl Raddatz in den Mittelpunkt), der sogenannten “Überläuferfilme” (Thomas Brandlmeier) sowie einer kritischen Würdigung des generellen Umgangs mit Spielfilmen des ‘Dritten Reichs’ durch die alliierten Besatzungsmächte nach 1945 (Isa van Eeghen).
Weniger deutlich kommt der revisionistische historiografische Ansatz des Bandes dort zum Tragen, wo die Themen der Beiträge sich auf Zeitabschnitte beziehen, die lediglich um den Epochenumbruch herum angesiedelt sind, diesen aber nicht überschreiten. Dies betrifft die – für sich genommen durchaus verdienstvollen – Aufsätze zu HJ-Fliegerfilmen der Kriegsjahre (Christoph Brecht und Ines Steiner), DEFA-Jugendfilmen (Christiane Mückenberger) oder der Rolle von Remigranten wie Gustav von Wangenheim und Fritz Kortner in der Produktion und Rezeption von … und wieder 48! (1948) bzw. Der Ruf (1948/49) (Tim Gallwitz).
In mehrfacher Hinsicht werden aber auch thematisch neue Akzente gesetzt. Im Fokus der Betrachtung steht nicht nur die Spielfilmproduktion, das besondere Interesse einer Reihe von Beiträgen gilt vielmehr den nichtfiktionalen Gattungen der Wochenschau und des Kulturfilms. So in Irina Scheidgens gattungsübergreifender Untersuchung von Weiblichkeitsbildern in Wochenschau, Kultur- und Spielfilmen der Kriegszeit, die zudem eine aufschlussreiche historische Folie liefert für den ähnlich gelagerten Beitrag von Anja Berens zu Frauenbildern und Geschlechterkonstruktionen in Spielfilmen der Nachkriegszeit.
Günter Agde verfolgt die Entwicklung deutscher Wochenschau-Kameraleute im Zeitraum von 1940 bis 1950 und entdeckt am Beispiel vor allem Albert Ammers signifikante Kontinuitäten im Produktionsmodus und Bildstil ihrer Arbeiten für die Deutsche Wochenschau bzw. Kriegswochenschau vor 1945 auf der einen und dem Augenzeugen der DEFA in der sowjetischen Besatzungszone bzw. der französisch lizensierten und kontrollierten Wochenschau Blick in die Welt, der britisch-amerikanischen Welt im Film und (ab 1949) der bundesdeutschen Neuen Deutschen Wochenschau auf der anderen Seite. Agdes Fazit lautet: “Die Inhalte änderten sich radikal, die Art ihrer Fotografie aber nicht.” (16) Er weist auch darauf hin, dass die Kameraleute in der Regel auch weiterhin “keinen Einfluss [hatten] auf Schnitt und Montage sowie auf die Platzierung ihrer Sujets im Gesamtensemble der Wochenschau”: “Nun mussten sie sich allerdings den Bildern ausländischer Sujets stellen, denn deutlich mehr als vor 1945 wurde Fremdmaterial in die neuen Wochenschauen aufgenommen. Strukturell und technisch änderte sich für die Wochenschau-Kameraleute im Grund nichts, wenn man von den nachkriegsbedingten materiellen Einschränkungen absieht.” (17)
Ein ähnlicher Befund spricht sich auch bereits im Titel des Überblicksaufsatzes von Hans-Peter Fuhrmann zur Entwicklung der Wochenschauen in Deutschland zwischen 1939 und 1950 aus: “Ähnlichkeiten in der Form, aber Brüche bei den Konzeptionen” (23). Hinter diesem Befund steht das insgesamt kaum überraschende Analyseergebnis, dass sich “partielle ästhetische Kontinuitäten” innerhalb der Gattungsentwicklung feststellen lassen, allgemein aber “deutliche Unterschiede und Gegensätze in der audiovisuellen Gestaltung, im Politisierungsgrad und der Art der Publikumsansprache” bestehen (33).
Kay Hoffmanns Überlegungen zum westdeutschen Kulturfilm der 1940er und 1950er Jahre, die vor allem an den Beispielen Hans Cürlis und Fritz Boehner angestellt werden, sind weitaus bescheidener im Deutungsanspruch, aber auch präziser angelegt. Der Zugriff auf Grundlage exemplarischer Personalstile versetzt Hoffmann in die Lage, die Kontinuitäten in Stil und Sujetwahl deutlicher hervorzuheben und als These zur Kennzeichnung der Gesamtentwicklung des Kulturfilms in den Raum zu stellen. Diese allerdings deckt sich weitgehend mit den Ergebnissen Agdes und Fuhrmanns: “Die erwähnten Beispiele zeigen sehr deutlich, dass in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg dokumentarische Filme häufig für die Propagierung neuer Ideen und gesellschaftlicher Konzepte eingesetzt wurden. Allerdings sollte es noch einige Jahre dauern, bis dafür überzeugende ästhetische Konzepte entwickelt und neue Bilder und Stile gefunden wurden. So blieb der dokumentarische Film lange den Kulturfilm-Konventionen verbunden, wie sie im ‘Dritten Reich’ entwickelt und zu einer gewissen Qualitätsstufe geführt worden waren.” (45)
Eine andere von Autoren des Bandes unternommene Akzentverschiebung gegenüber bisherigen Forschungsansätzen ist darin zu erkennen, dass die Propagandafunktion von NS-Produktionen und -Produktionsweisen nicht nur im nationalen Maßstab gesehen, sondern konsequent um eine Perspektive ergänzt wird, die ihre internationalen Dimensionen hervorhebt und insbesondere den Verschiebungen von filmpolitischen Einflusssphären in Osteuropa nachgeht. Ralf Forster untersucht in diesem Zusammenhang Struktur, Personal und Betriebsabläufe als Voraussetzungen der “Deutschen Propaganda im ‘Ostraum'” (46) am Beispiel der Zentral-Filmgesellschaft Ost (ZFO), die von 1941 bis 1945 in dieser Hinsicht für die Herstellung von Wochenschausujets und Agitationsfilmen zuständig war, die sich speziell an die russische, ukrainische und baltische Bevölkerung richteten. Ein separater Anhang weist die Filmproduktionen der ZFO nach derzeitigem Forschungsstand aus (182-191). Flankiert wird diese Arbeit von dem Beitrag Hans-Joachim Schlegels, der die Entwicklung und betriebliche Ausrichtung der Ukraine-Filmgesellschaft mbH für den gleichen Zeitraum betrachtet. Obwohl Forster seinen Aufsatz mit einem kurzen Ausblick auf den weiteren Karriereverlauf leitender ZFO-Funktionäre und -Filmschaffender nach 1945 enden lässt, orientiert er sich doch ebenso wie Schlegel und die Mehrzahl der Autoren in seiner Themenwahl und Argumentationslogik weiterhin an der politisch-gesellschaftlichen Wendemarke von 1945. Das eigentliche Verdienst des Sammelbandes besteht somit darin, dass er weniger in den einzelnen Beiträgen selbst als vielmehr in der Zusammenschau der gewählten Ansätze und Themenfelder neue Einsichten vermittelt und Perspektiven eröffnet, die einem kritischen Umgang mit Fragen der Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Filmgeschichte vorarbeiten, ohne diesen selbst in methodisch und thematisch stringenter Weise auch bereits durchgängig umzusetzen. Schon dadurch aber könnte er eine wichtige Funktion für die zukünftige Forschung erfüllen.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Michael Wedel an der Hochschule für Film und Fernsehen “Konrad Wolf” in Potsdam-Babelsberg