Julia Naunin: Klang, Bewegung und Theater

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Rezensiert von Kathrin Dreckmann

Einzelrezension
Innerhalb der vielgestaltigen medienwissenschaftlichen Diskussion bildet die Performativität der Stimme im Theater eine Leerstelle. Das liegt daran, dass die Technizität von Stimmen in der Medienwissenschaft bislang im Hintergrund blieb. Zumeist wurde dabei eine Art ästhetischer Grundlagendiskussion um die Medialität der Stimme geführt.

Einerseits ist natürlich festzustellen, dass durch grundlegende Arbeiten die theoretische Vermessung des Terrains bereits erfolgt ist, andererseits sind diese fruchtbaren und praxisbezogenen Ansätze noch nicht hinreichend in Bezug auf die theatralische Situation aufgearbeitet worden. Genau an dieser Leerstelle setzt nun die Dissertation von Julia Naunin an. Das zeigt bereits, dass die Arbeit bei grundlegenden Fragen ansetzt und  interdisziplinär angelegt ist. So besteht das erste Verdienst der Arbeit zunächst darin, eine grundlegende Frage im Schnittfeld zwischen Theaterwissenschaft, Performance Studies und Sound Studies aufgegriffen und konzeptualisiert zu haben. Hinzu kommt, dass sie damit schon implizit disziplinäre Grenzziehungen überwindet und unterschiedliche methodologische Ansätze kombiniert.

Vor dem Hintergrund ihrer Frage nach qualitativen Veränderungen audiovisueller Wahrnehmung in zeitgenössischen Theaterarbeiten nimmt die Autorin Produktionen in den Blick, die eben nicht auf der Grundlage von Partituren oder Dramen, also jenseits eines symbolischen Notationssystems, verfasst wurden. Sie betrachtet in ihrem Ansatz den Raum, in dem Zuschauer und Produzierende miteinander in Beziehung treten, indem sie den Blick unter den Voraussetzungen des Wechselverhältnisses von Performenden und Zuschauenden auf das Geschehen richtet. Dass sie dabei sowohl performative Stimmereignisse als auch medientechnisch verstärkte Formen der Stimmäußerungen gleichsam wahrnehmen kann, ohne sich in methodologische Fragen der disziplinären Grundvoraussetzungen unterschiedlicher Ansätze zu verstricken, ist möglich, weil sie durch die Frage nach dem Inszenierten sowohl das Ephemere als auch für das medientechnisch verstärkte Stimmvolumen im Theater zum Gegenstand macht (vgl. 82f.). Dabei fragt sie, wie in diesem Zusammenhang das Spannungsverhältnis zwischen Hören und Sehen beschaffen ist. Sie geht davon aus, dass eine Sinnesleistung den Zuschauern abverlangt wird, die deren Bewegung erkennen lässt, welche wiederum durch Wahrnehmung vermittelt ist. Dass die Bewegung stets auch eine Geste und Pose impliziert, die auf etwas Anderes verweist und zugleich den Körper in seiner Umgebung im Blick behält, ist ihrer Auseinandersetzung mit der Theorie von Bettina Brandl-Risi zu verdanken.

Die von Naunin vorgelegte Monographie ist in sechs Kapitel gegliedert. Dem geht die Darstellung der Aufführung Toneel voraus, an der die Autorin ihr Thema der Audiovisionen des Akustischen zunächst aus der Theaterpraxis heraus exemplarisch entfaltet. Anhand dieser Klanginszenierungen des Gastspiels der “Theatergroep Max”, das in deutscher Sprache von der Autorin beim Festival Theaterformen in Hannover am 28.06.2011 gesehen wurde, gelangt sie im ersten Kapitel zu der Frage, wie die “Wahrnehmung von Stimmen, Klängen, Tönen, Geräuschen in Aufführungen“ als “Klangkörper im Klangraum“ im theaterwissenschaftlichen Kontext als “Wahrnehmung im Akustischen“ verstanden werden kann (11). Dabei sieht sie vor allem die “Aktivität“ der Zuhörer bzw. Zuschauer als “Bewegungspotential“ (11). Dies ermöglicht es der Autorin, “Klang im Verhältnis zu Körper, Raum und Medientechniken“ zu untersuchen. “Analytische Annäherungen an Wirkungsspezifika inszenierter Klänge heben deshalb Akzentverschiebungen in den Relationen hervor“ (11).

Es geht ihr dabei um die Wahrnehmung der Zuschauenden, die durch Bewegung im Raum zwischen Hören und Sehen von der Inszenierung des Akustischen ausgeht. Den Begriff der Bewegung leitet die Autorin aus der Theorie von Bernhard Waldenfels ab: “Mit der reflexiven Verbform ‘sich bewegen’ bündelt Waldenfels eine doppelte Bestimmung zwischen ‘Bewegen‘ und ‘Bewegtwerden‘ und zielt darauf ab, eine Zuschreibung widersprüchlicher Attribute in dem Spannungsfeld von Selbstbewegung, Fremdbewegung und Zwischenbewegung zu umgehen. […] Bewegung ist in dieser doppelten Bestimmung ein Dreh- und Angelpunkt der Wahrnehmung.“ (22) Sie versteht “Bewegung als heuristischen Suchbegriff“, um das akustische Geschehen als Inszenierung “gegenüber inszenierten Körpern, Medien und Räumen“ in Beziehung zu setzen mit den Zuschauern, die genau damit aktiv umgehen, so die Autorin (22).

Am Beispiel der Arbeiten von Sebastian Nübling werden wissenschaftliche Diskurse im größeren Zusammenhang der Soundforschung nicht nur an die Hörforschung im Theater angeschlossen, sondern gemäß des Titels der Arbeit “Begründungstheorien einer audiovisuellen Wahrnehmung mit einer Bewegung im Zentrum“ (30) kurzgeschlossen. So sieht die Autorin vor, “die unterschiedlichen Ansätze aus der phänomenologischen Atmosphäre-Forschung und Imagination, Filmanalyse und Kognitionsphilosophie“ zu verwenden, “um heterogene Verständnisse einer Bewegung in der Wahrnehmung zu profilieren und Entwicklungen audio-visueller Wahrnehmungspraktiken zu unterstützen“ (31).

Die Autorin setzt sich im weiteren Verlauf der Arbeit mit klassischen Wahrnehmungskonventionen auseinander, die “in Raumformen, die von der klassischen Guckkastenbühne abweichen und eine Trennung von Bühne und Zuschauerraum aufheben und reflektieren“ von den 1960er Jahren bis zu einem postmodernen Theaterverständnis reichen, das medientechnische Prozesse miteinbezieht (61). Bezogen wird dieses auf die Aufführung der 9 Evenings in New York 1966 von Robert Rauschenberg und Billy Klüver. Zentrale Bezüge für die Argumentation werden hergestellt zu Sebastian Nübling, wobei dessen Aufführungen Väter. Mütter. Kinder und Toneel als zentrale Referenzen hervorgehoben werden.

Die Beziehung zwischen Körper, Schauspielern, Requisiten und sogenannten Audiozuschauern bildet eine zentrale Referenz der Argumentation: “Pfeifen die Spieler*innen in der Arbeit Mütter.Väter.Kinder ein Geburtstagslied oder summen einen Bach-Choral wie in der Arbeit Toneel, ist die Aufmerksamkeit auf ihre Körper gelenkt. Genauer geht es um die Inszenierung der Stimme, ausdifferenziert im Sprechen, Schweigen, Singen, Schreien oder Summen, Pfeifen, Krächzen und Prusten. Darin sind mehrere ineinandergreifende Spannungsfelder wirksam, die übergeordnet als referenzielle Spannung zwischen Stimme und Körper gebündelt sind.“ (81) Nach dem ersten Kapitel kommt die Verfasserin zu dem Schluss, dass phänomenologisch gesehen im Akustischen die Zuschauer durch die leiblich-räumlich zwischen Hören und Sehen konstitutiv verschaltete Bewegung wahrnehmen: “Zuschauen und Zuhören gehen dabei variable Beziehungen ein und Bewegung steht in keinem kausalen Verhältnis zu Wahrnehmung, sondern in einem konstitutiven“ (94).

In Kapitel zwei behandelt die Verfasserin, ausgehend von den begrifflichen Differenzierungen und Diskussionen der Zusammenhänge zwischen Hören, Sehen und Bewegung im Theater, Wahrnehmungskonzepte in der Performance- und Theatertheorie (Melchior Palágyis, Benjamin Wihstutz) und bezieht dabei auch Ansätze der Filmanalyse (Michel Chion) und Philosophie (Walter Benjamin, Gernot Böhme, Hermann Schmitz) mit ein. In diesem Abschnitt legt die Autorin dar, inwiefern die Atmosphären-Theorie das Akustische im “Spüren“ eigentlich mitbezeichnet. Die leibliche Kommunikation ist dabei zentral im Verständnis der Argumentation Schmitz’ als auch in der Aneignung dieser Position durch die Autorin. Es geht darum, ein “phänomenologisches Hier und Jetzt der leiblichen Wahrnehmung“ anzuerkennen (105). Im weiteren Verlauf des zweiten Kapitels wird Chions Theorie der Audio-Vision vorgestellt und sein Bewegungsbegriff im Zusammenhang mit audiovisuellen Wahrnehmungen diskutiert. Sein Bewegungsbegriff belegt unter dem “Paradigma der Bewegung“ (132) eine “Konvergenz und Divergenz zwischen Hören und Sehen und bündelt heterogene Beziehungen zwischen auditiven und visuellen Inszenierungselementen in Aufführungen“ (133).

Am Beispiel von Velmas Rondo (UA 02.09.2002, Théâtre d l’Usine/Festival de la Bâtie, Genf) spielt die Autorin die aus der Theorie gewonnenen Erkenntnisse in Kapitel drei durch. Im vierten Kapitel wird am Beispiel der Produktion Velma Superstar die postmoderne Aufsplitterung zwischen Körper und Stimme erläutert, die jedoch nicht kongruent, sondern ambivalent aufeinander bezogen sind (vgl. 191).

Im fünften Kapitel nimmt die Verfasserin die Techniken der akustischen Theaterproduktionen am Beispiel des Requiems in den Blick, um dann im sechsten Kapitel allgemeine Überlegungen zu dem im Theater inszenierten Akustischen zwischen Digression und Disziplinierung anzustellen. Sie kommt dabei auf die “Bewegungszusammenhänge einer affektiven, analytischen und reflexiven Bewegung zwischen Hören und Sehen“ zurück und erkennt im letzten Teil des sechsten Kapitels schließlich die Audiovisuelle Komponente des theatralen Dispositivs im Akustischen.

Die Verdienste dieser sorgsam das Material analysierende und methodisch reflektierenden Arbeit liegen auf unterschiedlichen Ebenen. Zunächst einmal besteht eine wichtige Leistung darin, die Frage nach einer Rezeptionsästhetik zeitgenössischer Theaterproduktionen aus der Perspektive des Akustischen aufgearbeitet zu haben. Von dieser Grundlagenfrage ausgehend werden die wahrnehmungsphysiologischen Prozesse im Zwischenraum von Sehen und Hören differenziert analysiert. Diese Erörterung der aktuellen körpertheoretischen Fragen im Zusammenhang mit der Rolle der Theaterzuschauer macht die Arbeit zu einem wichtigen Beitrag für die Diskussion zwischen Theaterwissenschaft, Sound und Acoustic Studies. Das hier noch weitergehende Analysen vorzunehmen sind, liegt in der Natur der Sache und mindert nicht den innovativen Charakter der Arbeit.

Generell liegt aber einer der intellektuell wichtigen Nebeneffekte der Arbeit darin, dass die theoretischen Modelle, die die Arbeit anhand der Analyse zeitgenössischer Theateraufführungen entwickelt, wichtige Impulse für die aktuellen Pop und Sound Studies liefern. Denn gerade hier bildet ja die Frage nach der spezifischen ästhetischen Struktur theatraler Elemente und deren medialer Vermittlung ein wichtiges Forschungsfeld. Umgekehrt wiederum ist zu erwarten, dass der Import der Sound Studies in den theaterwissenschaftlichen Diskurs durch Julia Naunin auch dort neue fruchtbare Diskussionen und Forschungsfragen stimulieren wird. Und das lässt sich nun nicht gerade von jeder aktuellen Dissertation sagen.

Links:

Über das BuchJulia Naunin: Klang, Bewegung und Theater. Die Wahrnehmung des Akustischen am Beispiel von zeitgenössischen Theateraufführungen. Berlin [neofelis Verlag] 2017, 296 Seiten, 26,- Euro.Empfohlene ZitierweiseJulia Naunin: Klang, Bewegung und Theater. von Dreckmann, Kathrin in rezensionen:kommunikation:medien, 8. August 2018, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/21340
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