Rezensiert von Ricarda Drüeke
Der Öffentlichkeitsbegriff hat mit dem Internet eine Revitalisierung erfahren. Das zeigen die kontinuierlich und in großer Zahl erscheinenden Veröffentlichungen zum Thema. Immer selbstverständlicher wird dabei auf “Öffentlichkeiten” im Plural verwiesen, da angesichts der digitalen Veränderungen kaum noch von dem Ideal einer einzigen Öffentlichkeit – der liberalen bürgerlichen Öffentlichkeit im Sinne von Habermas – ausgegangen werden kann. Eine Diskussion – und dies wird häufig angesichts der Euphorie um Internetöffentlichkeiten vergessen –, die in der sozialen Bewegungsforschung und der feministischen Theorie schon seit Jahrzehnten geführt wird. Die beiden im Folgenden besprochenen Sammelbände, die bei UVK bzw. im Franz Steiner Verlag erschienen sind, gehen auf Tagungen zum Thema Öffentlichkeit und Internet zurück. Beide Sammelbände widmen sich den Veränderungen von Öffentlichkeiten durch Digitalisierung und Privatisierung und diskutieren die neuen Formen von Kommunikation und Interaktion vor dem Hintergrund politischer und sozialer Rahmenbedingungen. Beide Sammelbände wurden von Medien- bzw. Kommunikationswissenschaftler_innen herausgegeben und versammeln in erster Linie Beiträge aus diesen beiden Disziplinen.Sammelbände haben oft das Problem, dass eine inhaltliche Klammer relativ willkürlich gesetzt ist. Der Sammelband SocialMania hebt sich davon ab, da gleich zu Beginn formuliert wird, wie die einzelnen Beiträge sich jeweils aufeinander und auf das Überthema beziehen. Petra Grimm und Michael Müller, die beiden Herausgeber_innen, stellen anhand der “Socialmania“ im gleichnamigen Sammelband die Meta-Narrative, also die Diskurse um die Etablierung und Popularisierung neuer Medien, heraus. Mit “Socialmania“, so Grimm und Müller soll vor allem “das Phänomen eines übersteigerten sozialen Kommunikationsverlangen, das im digitalen Lebensraum des Social Web mehr oder weniger seine Befriedigung findet“ beschrieben werden (14). Socialmania habe dabei, so die Autor_innen, drei zentrale Punkte bzw. Diskurse, die zu problematisieren seien. Deutlich wird hier, dass diese immer mit bestimmten Hoffnungen und Ängsten zusammenhängen, die einem Medium zugeschrieben werden. So sind es gegenwärtig vor allem ökonomische Diskurse, die die Überwachungsmöglichkeiten und die massiven Datenmengen, Stichwort Big Data, thematisieren.
Politisch-soziale Diskurse bzw. Narrative betonen darüber hinaus einerseits demokratiepolitische Chancen, gleichzeitig heben sie die fragmentarischen und emotionsgeladenen Kommunikationsformen im Internet als problematisch heraus. Auch wird das Social Web als Werkzeug gesehen, mehr politische Beteiligung hervorzubringen. Gleichzeitig partizipieren aber nicht nur Bürger_innen, sondern auch autoritäre Regime. Soziale Medien als Netzwerke sind also Teil ökonomischer und politischer Verflechtungen. Als dritten Diskurs machen die Herausgeber_innen die Privatisierung von Öffentlichkeiten fest – nur ein scheinbares Paradoxon, denn durch sogenannte Bubbles, die durch Algorithmen und Peer-to-Peer-Netzwerke hervorgerufen werden, entstehen private Kreise im Öffentlichen, die Suchbewegungen lenken, Inhalte im Netz vorstrukturieren und geschlossene Freundeskreise schaffen.
In diese drei in der Einleitung aufgezeigten Diskurse sind die sechs Beiträge des Buches eingereiht. Jan-Hinrik Schmidt nimmt beispielsweise sozialpolitische und ökonomische Diskurse als Grundlage und beschreibt das “Partizipationsparadox“ zwischen Teilhabe und Kontrolle. Stefan Münker diskutiert die Frage der Fragmentierung von Öffentlichkeiten und arbeitet die Vorteile einer Pluralisierung von Öffentlichkeit heraus. Weitere Beiträge des Sammelbandes beschäftigen sich aus unterschiedlichen Blickrichtungen mit dem Diskurs der Partizipation: Anke Domscheit-Berg zeigt die Teilhabemöglichkeiten mit und durch Social Media auf, Bernhard Pörksen und Hanne Detel arbeiten die Verstrickungen von Social Media und Massenmedien am Beispiel von Medienskandalen heraus und Ulrike Wagner setzt sich aus einer medienpädagogischen Sicht mit den Partizipationsmöglichkeiten von Jugendlichen auseinander. Die einzelnen Beiträge sind dabei unterschiedlich lang, manche bieten aufgrund der Kürze, wie beispielsweise der Beitrag von Stefan Münker mit fünf Seiten, eher einen kurzen Problemaufriss als eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Thematik. Insgesamt überzeugt aber die Zusammenstellung der Beiträge, die sich mit den verschiedenen Diskursen bzw. Narrativen beschäftigen, die an Social Media herangetragen werden, und diese kritisch einordnen.
Digitale Öffentlichkeit(en) – so der Titel des zweiten hier besprochenen Bandes – sind ebenfalls zentraler Bestandteil der Diskurse und Narrative um Social Media. Dieser Sammelband widmet sich also ebenfalls jenen Phänomenen, die durch die Digitalisierung deutlich werden. Der Sammelband geht auf eine thematisch breite Tagung zurück, was sich in den Inhalten der Beiträge widerspiegelt. Die Herausgeber_innen verzichten deswegen auch darauf, die Beiträge in einen größeren verbindenden Kontext durch eine ausführliche Einleitung einzuordnen, sondern schlagen drei inhaltliche Punkte vor, unter denen die einzelnen Beiträge subsumiert werden. Durch die Beschreibung der einzelnen Beiträge wird so die inhaltliche Klammer ersichtlich. Insgesamt versammelt der Sammelband 16 Artikel.Inhaltlich gliedert sich der Band demnach in drei Teile. Im ersten Teil werden digitale Interaktionen und Diskurse benannt und – so die Herausgeber_innen – “deren Folgen für die Öffentlichkeitsentstehung“ diskutiert (14). Um welche Öffentlichkeit es sich handelt, wird dadurch nicht ganz klar, die Beiträger_innen in diesem Teil arbeiten aber nachvollziehbar neue Herausforderungen heraus, die eine Veränderung kommunikationswissenschaftlicher Modelle erfordern. So schlägt Christoph Neuberger eine Neuausrichtung der Kommunikationswissenschaft und die Anpassung des Forschungsprogramms auf der Mikro-, Makro- und Mesoebene vor. Uwe Hasebrink arbeitet die kommunikativen Praxen und Kommunikationsrepertoires in digitalen Öffentlichkeiten heraus, die analytisch den Vorteil bieten, sich nicht im Vorhinein auf bestimmte Medien oder bestimmte Kommunikationsformen festlegen zu müssen. In seinem Beitrag über “kommunikative Öffentlichkeit“ unterstreicht Marian Adolf die Bedeutung kommunikativer Handlungen und ihrer indikativen Strukturmerkmale für die zeitgenössische Öffentlichkeitsforschung. Diese drei Beiträge beschäftigen sich grundlegend mit Konzepten und Modellen.
Im zweiten Teil stehen die individuellen und kollektiven Herausforderungen des Journalismus im Mittelpunkt, so z. B. im Beitrag von Tobias Eberwein, der multimediales Storytelling in Diskussion der Effektivität narrativer journalistischer Deutungsmuster setzt. Im dritten Teil des Buches werden verschiedene Formen von Online-Kommunikation im Spannungsfeld von privat und öffentlich diskutiert. Thematisiert wird das Privacy-Paradoxon im Beitrag von Pepe Strathoff und Christoph Lutz; Bernadette Kneidinger dokumentiert das Phänomen Second Screen und arbeitet heraus wie Social TV-Angebote in Facebook oder Twitter als Plattformen digitaler Öffentlichkeiten funktionieren. Marc Ziegele, Timo Breiner und Oliver Quiring beschäftigen sich mit den Publikumsaktivitäten, die journalistische Inhalte in digitalen Öffentlichkeiten hervorrufen, und betonen die Relevanz dieser Nutzerkommentare in der Analyse von Anschlusskommunikation. Dieser Sammelband versammelt damit – mit den vorgestellten, aber auch noch zahlreichen weiteren Beiträgen – eine aktuelle Rundschau der gegenwärtig in der Kommunikationswissenschaft diskutierten Themen hinsichtlich der zunehmenden Digitalisierung von Öffentlichkeiten.
Beide Sammelbände bieten spannende und neue Einblicke in die Diskussionen um Social Media und Öffentlichkeiten aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Stärke beider Bände liegt darin, dass sie Diskurse und Phänomene behandeln, die vielfältige Perspektiven auf digitalisierte Öffentlichkeiten und das Social Web bieten. Wenn man beide Sammelbände vergleicht, so zeigt sich, dass der Band SocialMania den Schwerpunkt auf die Diskurse und Narrative legt, die in Bezug auf Social Media gegenwärtig vorherrschend sind, während der Band Digital Öffentlichkeit(en) vor allem einzelne Phänomene in den Blick nimmt und davon ausgehend die Veränderungen von Öffentlichkeiten diskutiert.
So eignen sich beide Sammelbände durch die große inhaltliche Spannbreite der Beiträge nicht nur als Einstieg für interessierte Wissenschaftler_innen und Studierende in die Debatte um Online-Öffentlichkeiten, sondern sondern auch zur weiteren Vertiefung. Demnach liegen mit diesen Sammelbänden zwei weitere spannende Bände vor, die zur virulenten Diskussion um digitalisierte Öffentlichkeiten beitragen, die in vollem Gange ist und noch lange nicht abgeschlossen sein kann.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch SocialMania
- Verlagsinformationen zum Buch Digitale Öffentlichkeit(en)
- Webpräsenz von Prof. Dr. Petra Grimm an der Hochschule der Medien Stuttgart
- Webpräsenz von Prof. Dr. Michael Müller an der Hochschule der Medien Stuttgart
- Webpräsenz von Prof. Dr. Oliver Hahn an der Universität Passau
- Webpräsenz von Prof. Dr. Ralf Hohlfeld an der Universität Passau
- Webpräsenz von Prof. Dr. Thomas Knieper an der Universität Passau
- Webpräsenz von Dr. Ricarda Drüeke an der Universität Salzburg
Oliver Hahn, Ralf Hohlfeld, Thomas Knieper (Hrsg.): Digitale Öffentlichkeit(en). Reihe: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaften, Bd. 42. Konstanz [UVK] 2015, 2901 Seiten, 34,- Euro.Empfohlene ZitierweiseSammelrezension Social Media und Öffentlichkeiten. von Drüeke, Ricarda in rezensionen:kommunikation:medien, 18. November 2015, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/18648