Anna-Maria Schielicke: Rückkehr der Religion in den öffentlichen Raum?

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Rezensiert von Christoph Bultmann

Einzelrezension
Nein, die Autorin hat nicht die 54.400 Artikel mit religionsbezogener Thematik ausgewertet, die sich grob überschlagen in der FAZ und SZ in den Jahren 1993-2009 finden (vgl. 84). Für ihre Dissertation im Fach Kommunikationswissenschaft an der TU Dresden 2012 hat Schielicke fünf Jahrgänge der beiden wegen ihrer Reichweite und ihres Impactfaktors ausgewählten Zeitungen herangezogen (1993, 1997, 2001, 2005, 2009) und nach bestimmten Zugriffskriterien für eine ausgefeilte Codierung insgesamt 2.527 Artikel bestimmt (79-86, Kap. 6: Untersuchungsdesign). Ihr Anliegen ist herauszufinden, ob eine Analyse des “allgemeinen öffentlichen Diskurses” (vgl. 80) in dem genannten Zeitraum die Verifikation der These von der “Rückkehr der Religion” erlaubt. Das Ergebnis ist negativ: Es ergibt sich der Befund, dass die Religionsberichterstattung in ihrem Umfang nicht in einer so signifikanten Weise variiert, dass an ihr als Indikator ein Kontrastmodell von einer Gesellschaft mit marginalisierter Religion und einer Gesellschaft nach der “Rückkehr” von Religion in den öffentlichen Raum bestätigt werden könnte. Die einflussreiche ideenpolitische Formel von Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen (2000), eignet sich also nur mit starken Einschränkungen für eine sozialgeschichtliche Beschreibung der religiösen Verhältnisse in Deutschland in den beiden Jahrzehnten, von denen hier die Rede ist.

Den Untersuchungen zum Artikelbestand in FAZ und SZ sind Reflexionen zu den Themen Religion und Säkularisierung (13-25), Religion und Politik (27-46), Religion und Gesellschaft (47-61) sowie Religion und Medien (63-77; hier sind 63-71 den eigenen Medienaktivitäten der Kirchen u.a. gewidmet) vorangestellt. Schielicke bezieht sich auf Detlef Pollack (bes. Rückkehr des Religiösen? Studien […], Bd. 2, Tübingen 2009), um den Engführungen einer entweder rein funktionalen oder rein substantiellen Religionsdefinition zu entgehen. Obwohl die Definitionsfragen nur gestreift werden, erfasst die Autorin richtig das Problem der Deutung von Phänomenen des Statischen oder Dynamischen, die weitgespannten Theorien über Säkularisierung, Marktförmigkeit oder Individualisierung des Religiösen nicht entsprechen. Erwähnt wird die Bedeutung von Rationalisierung des Weltverhältnisses und/oder Pluralisierung von Bekenntnisoptionen als Faktoren von Aufklärung und damit zugleich einer Verunmöglichung der “Legitimierung von Staat und Macht aufgrund gemeinsamen Glaubens” (20). Der Kommentar: “Womit sich Säkularisierung auch auf den europäischen Raum beschränken würde”, bleibt dabei etwas rätselhaft, denn die Säkularisierung politischer Herrschaft ist gegenüber der Pluralisierung von Konfessionen ein zeitversetzter Prozess und keineswegs notwendig auf das (west-)europäische Christentum beschränkt. Auch findet sich im folgenden Kapitel “Religion und Politik” gleich einleitend ein Verweis auf die “auch heute noch aktuell(e) Legitimation politischer Macht durch Religion” (28). Doch sollen für die spezifische Fallstudie vor allem deutliche Grenzen gezogen werden: “So liegt der Schwerpunkt der Analyse auf den beiden etablierten, kulturbildenden und organisierten Kirchen Deutschlands. Nur diese sind aktuell in der Lage, einen signifikanten Einfluss in Politik und Gesellschaft zu generieren” (25).

Die pragmatische Bestimmung der (kollektiven) Akteure ist eines, ein anderes sind kirchengeschichtliche Entwicklungen, deren allzu drastische Vereinfachung nicht wirklich hilfreich ist. Wenn es mit Bezug auf das Stichwort “Zwei-Reiche-Lehre” heißt, dass “im Protestantismus die Eigenständigkeit der weltlichen Ordnung von Beginn an betont [wurde] und […] nicht erst in Anpassung an politische Entwicklungen formuliert werden [musste]”, klingt das mehr nach moderner kirchlicher Apologetik als nach einer ideengeschichtlichen Betrachtung von Luthertum und Calvinismus (30). Dass für die evangelische Kirche nicht die sog. Demokratiedenkschrift von 1985, sondern nur ein Text von 2006 genannt wird, wenn es darum geht, wann “spätestens” die Kirchen sich zur Demokratie bekannt hätten, muss irritieren, auch wenn im Kontext keine Debatte über 1848 – 1919 – 1933 – 1949 zu erwarten ist (30; unklar auch eine Bemerkung zum Verhältnis von Kirche und Demokratie nach 1989, ebd. 53). Die Spannungen, denen die christliche Theologie ausgesetzt war, als in der Religionsphilosophie das Konzept der “natürlichen Religion” zum Fundament einer universalen Ethik wurde, könnten in Anlehnung an Charles Taylor (32-34) präziser erfasst werden. Doch ist es Schielicke gelungen, auf einer schmalen Literaturbasis eine instruktive Einführung zu den zentralen Aspekten des Verhältnisses von Religion und “öffentlichem Raum” in Politik, Gesellschaft und Medien zu geben. Zum Thema Islam, das in einem Vergleich kurz berührt wird (43, vgl. auch 52 mit einer versehentlichen Datierung dieser für das Christentum “konkurrierenden monotheistischen Macht” schon ins 5. Jahrhundert), kann jetzt z. B. auf den bemerkenswerten Band Christen und Muslime im Gespräch, Kap. XIII: Organisationsformen der Gemeinschaft, hingewiesen werden.

Die medienanalytische Studie selbst bietet in einem Kapitel “Operationalisierung” eine überzeugende Darlegung der Kriterien für die Codierung des erfassten Materials (87-118) und in einem Kapitel “Auswertung” die entsprechenden Befunde der Analyse (123-173). Schielicke versteht es, in höchst differenzierter Weise – bis hin zum Gesichtspunkt “Tenor der Beiträge” (107f., 140-142, 161f.) – ein Bild der Themen und der (kollektiven oder individuellen) Akteure zu zeichnen, die in spezifischen Formen journalistischer Aufbereitung einer Leserschaft bekannt gemacht werden. Während für alle Einzelheiten auf das Buch selbst verwiesen werden muss, sei hier aus der Auswertung nur zur Frage der Darstellungsform das Urteil zitiert: “Religionsberichterstattung wird über die Jahre […] meinungshaltiger, was als Indiz für eine stärkere Auseinandersetzung mit dem Thema Religion gewertet werden kann.” (140, vgl. 172) In ihrer abschließenden Diskussion kommt die Autorin nicht zuletzt deshalb zu der Empfehlung, die “unabhängige Journalistenausbildung” sollte “das Thema Religion ernster nehmen” (177).

Das Buch eröffnet vielfältige Forschungsperspektiven über die quantitative Erfassung von Religionsberichterstattung in den Medien hinaus. Da Journalisten in ihrer Berufspraxis einerseits nicht dem wissenschaftlichen Gebot unterstehen, Begriffswahl und Behauptungen durch Quellenbelege zu plausibilisieren, andererseits besonders im Derivativjournalismus in starker Abhängigkeit von den Leitmedien schreiben, dürften weitere Untersuchungen zur Thematisierung von Religion in der Presse interessante Ergebnisse versprechen.

Literatur:

  • Martin Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der ‘Kampf der Kulturen’. München [C.H. Beck] 2000
  • Susanne Heine, Ömer Özsoy, Christoph Schwöbel, Abdullah Takim (Hrsg.): Christen und Muslime im Gespräch. Eine Verständigung über Kernthemen der Theologie. Gütersloh [Gütersloher Verlagshaus] 2014

Links:

Über das BuchAnna-Maria Schielicke: Rückkehr der Religion in den öffentlichen Raum? Kirche und Religion in der deutschen Tagespresse von 1993 bis 2009. Wiesbaden [Springer VS] 2014, 202 Seiten, 34,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseAnna-Maria Schielicke: Rückkehr der Religion in den öffentlichen Raum?. von Bultmann, Christoph in rezensionen:kommunikation:medien, 23. Februar 2015, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/17323
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