Rezensiert von Michael Crone
Es ist sicher inzwischen unbestritten, dass die Archive der öffentlich-rechtlichen Anstalten in ihren Gemäuern unzählige Film- und Tondokumente beherbergen, die für Wissenschaftler und Forscher nahezu aller Fachrichtungen als zeithistorische Quellen und Dokumente von enormen Wert sind, besser sein könnten. Wir reden über ein audiovisuelles Kulturerbe, das gerade für Zwecke von Wissenschaft und Forschung frei zugänglich und nutzbar sein sollte.Dennoch ist erst vor wenigen Jahren auf einem wissenschaftlichen Kongress noch die ernsthafte Frage gestellt worden, ob die Archive der Rundfunkanstalten eigentlich nicht eher als Geheimarchive zu bezeichnen sind. Auf dem Historikertag in Mainz im Oktober 2012 wurde beredt beklagt, dass durch die uneinheitliche Struktur und unterschiedlichen Zugangsbedingungen der einzelnen Archive die Arbeit mit den wissenschaftlichen Quellen erheblich erschwert, durch finanzielle Restriktionen der Verwertungsgesellschaften teilweise sogar unmöglich gemacht wird.
So manche Kritik aus den Kreisen der Nutzer ist sicherlich berechtigt, aber so manche Kritik ist genauso offensichtlich auf Unkenntnis und mangelnde Gesprächsbereitschaft zurückzuführen, wobei ohne Zweifel auch so manche Archivare sich oftmals zu wenig mit den Interessen und Wünschen ihrer externen Nutzer auseinander setzen (wollten). Diese immer wieder zu beobachtende Sprachlosigkeit zu überwinden, haben sich die Herausgeber, der Bamberger Kommunikationswissenschaftler Markus Behmer und die beiden Archivarinnen Birgit Bernard und Bettina Hasselbring von WDR bzw. BR mit ihrem fast 500-seitigem Handbuch vorgenommen. 13 Archivare und Dokumentare aus den Rundfunkarchiven und mehr als 20 Nutzer aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen haben eine Bestandsaufnahme zum Gedächtnis des Rundfunks erstellt, die es in dieser Form noch nicht gab. Um ein Fazit schon vorweg zu nehmen: Man kann über Sinn und Zweck mancher Beiträge streiten, man kann Längen und Banalitäten kritisieren, letztlich aber liegt jetzt ein Kompendium vor, das die Archivlandschaft der öffentlich-rechtlichen Anstalten sehr viel transparenter macht, Quellenbestände mit ihren Lagerorten benennt und mögliche Nutzungsstrategien aufzeigt.
Im 1. Kapitel werden die einzelnen Anstalten vorgestellt, wobei hier die unterschiedlichen Archivstrukturen und die jeweilige Anbindung in den Häusern erkennbar werden. Nicht selbstverständlich ist dabei die Einbeziehung der ARD-Gemeinschaftseinrichtungen und, in dieser Breite, auch der beiden Standorte des Deutschen Rundfunkarchivs (DRA). Leider nur sehr grob wird dabei auf die Bestände in den einzelnen Häusern eingegangen, hier hätte man sich etwas mehr an Detailinformationen gewünscht.
Im 2. Kapitel werden die rundfunkspezifischen Quellengattungen im Detail vorgestellt. Aufschlussreich sind dabei die jeweils angewandten Bewertungskriterien, die durchaus nicht immer archivfachlichen Standards entsprechen. Implizit wird in diesem Zusammenhang oft erkennbar, dass es sich bei den Archiven der Rundfunkanstalten eben mehr um Produktionsarchive handelt: die Kriterien richten sich deshalb in erster Linie nach der Wiederverwendbarkeit von Ton- und Bilddokumenten im Programm, nicht hingegen nach der historischen Bedeutung einer Quelle. Bemerkenswert in diesem Kapitel ist die Betonung der Notwendigkeit einer Kontextdokumentation von Bild- und Tondokumenten, die in den Rundfunkanstalten keinesfalls Standard ist. Kein Bild- und kein Tondokument erklärt sich aus sich selbst heraus, sondern bedarf einer Einordnung in die jeweilige Produktions- und Programmumgebung. Hier wirkt sich einerseits das Fehlen übergreifender Archivstrukturen in den einzelnen Häusern, andererseits sogar der komplette Verzicht auf historische Archive oder Schriftgutarchive in einigen Anstalten negativ aus.
Nur leider sehr am Rande wird auf die Rückwärtsdigitalisierung der audiovisuellen Dokumente und Strategien zu deren Langzeitsicherung eingegangen, obwohl gerade diese Thematik die Rundfunkarchive zwangsläufig stark beschäftigt und Personal und finanzielle Mittel bindet. Das ist umso bedauerlicher, als es gerade an diesem Punkt um die Zukunft des Gedächtnisses des Rundfunks geht, um künftigen Zugang und Nutzungsmöglichkeiten.
Das gewichtigste Kapitel, zumindest nach dem Seitenumfang, ist das 3. Kapitel. In knappen Beiträgen werden acht zentrale rundfunkhistorische Forschungsbereiche von der Organisations-, über die Technik- bis hin zur Programmgeschichte kurz vorgestellt, wesentliche Fragestellungen benannt und der jeweilige Forschungsstand sehr punktuell skizziert. Diesen Überblicksdarstellungen sind mehrere Studien zugeordnet, die jeweils die Erfahrungen wissenschaftlicher Nutzer bei der Quellenrecherche und -bewertung, in der Beratung und der Betreuung in den Rundfunkarchiven dokumentieren. In dieser Vielzahl von kleineren Studien und Erfahrungsberichten werden sicherlich die Möglichkeiten der Quellenarbeit in den Archiven benannt, werden die Irrungen und Wirrungen deutlich und auch Desiderata herausgearbeitet. Dennoch muss man konstatieren, dass die überwiegende Zahl der Beiträge eher den Charakter von ‘best practice’ Vorträgen besitzen. Hier wäre eine Beschränkung und Verdichtung dem Thema absolut zu Gute gekommen, dies hätte die Lesbarkeit und Handhabbarkeit des Handbuchs für die Praxis sicherlich verbessert.
Diese Beschränkung erfolgt dafür dann im 4. Kapitel, das sich mit den neuen Medien und deren Archivierung befasst. Es wird deutlich, dass in den Häusern und den jeweiligen Rundfunkarchiven noch keine abschließenden Konzepte und Strategien entwickelt wurden, wie mit den neuen Technologien umzugehen ist, wie Webauftritte oder online-Produktionen Eingang in die Archive finden sollen. Ein sehr lesenswerter Beitrag ist der Text von Christian Schwarzenegger, der sich in diesem Kapitel mit den “Herausforderungen des digitalen Gestern”, den Quellen einer gegenwärtigen Zukunft auseinandersetzt (403ff.). Ausgehend von den technologischen Umwälzungen konstatiert er eine Entwicklung im Bereich der Quellen, die vom Mangel zum Überfluss geht. Es stellt sich die logische Frage, wie man der Vielfalt und Vielzahl potentieller Archivalien und Quellen Herr wird. Folgerichtig, und man kann dies nur unterstreichen, fordert er, die klassischen Archivstandards gerade in der digitalen Zukunft erst recht zu bewahren: kritische Auswahl und Verdichtung, Überprüfung und Einschätzung der Dokumente und Quellen.
Im vorliegenden Handbuch ist zum ersten Mal der Versuch unternommen worden, die heterogene Archivlandschaft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks mit seinen Beständen und Zuständigkeiten transparenter und vor allem für Nutzer aus Wissenschaft und Forschung als Gedächtnisort und Quellenfundus attraktiver zu machen. Zum ersten Mal ist in dieser klaren Form, aus dem System selbst heraus, anerkannt worden, dass die Rundfunkarchive eben nicht nur Produktionsarchive mit nahezu ausschließlicher Programmorientierung sind, sondern ebenso wichtige Gedächtnisorte unserer Gesellschaft und Quellenspeicher für wissenschaftliche Forschung wie für kulturelle Institutionen im weitesten Sinne.
Die Intendantinnen und Intendanten der ARD haben quasi das letzte Kapitel selbst geschrieben und aktuell angefügt: Im April diesen Jahres haben sie tatsächlich einheitliche Zugangs- und Nutzungsregelungen, einschließlich erträglicher Kostenregelungen, für die Archive in der ARD beschlossen und damit ein wesentliches Desiderat aus Nutzerkreisen, das auch im Handbuch immer wieder thematisiert wurde, realisiert. Damit sind zwar z. B. ein zentraler Nachweis über alle ARD-Bestände und zentrale Ansprechpartner für archivübergreifende Forschungen noch nicht realisiert, aber diesen Beschluss sollte dennoch jeder Nutzer dieser Archive in das Handbuch einkleben.
Das Handbuch ist ein wichtiges Orientierungsmittel für Wissenschaftler und Forscher, aber auch für Kulturarbeiter, die sich mit rundfunkhistorischen Themen auseinandersetzen wollen. Es sei aber auch denen ans Herz gelegt, die sich nicht mit Rundfunkthemen sui generis befassen. Auch für Literaturwissenschaftler oder Ethnologen, wie auch für andere Fachwissenschaftler, können die Rundfunkarchive eben Fundorte wichtiger Quellen und Dokumente sein, auch wenn dies im Handbuch nicht immer so deutlich wird.
Empfohlen sei dieses Handbuch nicht zuletzt jenen Hochschulkollegen, die bisher Bild- und Tondokumente aus den Rundfunkarchiven nicht nur nicht wahrgenommen, sondern sogar als wissenschaftliche Quelle abgelehnt haben. Dieses Handbuch, und dies ist sein Verdienst, benennt die Rundfunkarchive als wichtigen, ernst zu nehmenden Gedächtnisort und seine Bestände als unverzichtbare Quellen wissenschaftlicher Arbeit. Und: Die öffentlich-rechtlichen Archive sind wirklich keine Geheimarchive (mehr). Jetzt fehlt nur noch das Pendant für die privaten Anstalten.
Links:
Über das BuchMarkus Behmer, Birgit Bernhard, Bettina Hasselbring (Hrsg.): Das Gedächtnis des Rundfunks. Die Archive der öffentlich-rechtlichen Sender und ihre Bedeututung für die Forschung. Wiesbaden [Sopringer VS] 2014, 452 Seiten, 49,99 Euro.Empfohlene ZitierweiseMarkus Behmer, Birgit Bernhard, Bettina Hasselbring (Hrsg.): Das Gedächtnis des Rundfunks. von Crone, Michael in rezensionen:kommunikation:medien, 25. September 2014, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/16966
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