Katharina Hoins, Thomas Kühn, Johannes Müske (Hrsg.): Schnittstellen

Einzelrezension
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Rezensiert von Anna Valentine Ullrich

SchnittstelleEinzelrezension
Schnittstellen sind “Kontaktbereiche und Grenzflächen, die zwischen Heute und Gestern, zwischen Gegenwärtigem und Abwesendem, zwischen zeitlichen, räumlichen oder sozialen Distanzen vermitteln” (9), wie im Vorwort zu lesen ist. Ziel ist es, diesen technischen Begriff kulturwissenschaftlich fruchtbar zu machen. Neben einer Sichtbarmachung von Schnittstellen geht es um die Frage der “Vermittlung von Informationen über Systemgrenzen hinweg, seien diese technischer, disziplinärer oder denksystematischer Art” (9).

Wie sind Schnittstellen kontextualisiert, welches Wissen wird für ihre Nutzung benötigt und welche Funktionen übernehmen sie? Diese Fragen behandeln verschiedene Beiträge, die in den Themenbereichen 1) die Welt der Dinge, 2) die Vergegenwärtigung durch Bilder, 3) Sprache und Klänge sowie 4) räumliche Ordnungen zusammengefasst sind.

Gudrun M. König betrachtet drei Schauplätze der Dinge um 1900, nämlich Museum, Gewerbeausstellung und Warenhaus, die sich durch ein Beziehungsverhältnis kommerzieller und wissenschaftlicher Sichtweisen auszeichnen. Die Dinge – Waren, Zeugnisse, Exponate – sind nach König Medium und Material: “Sie sind kommunikativ, sie teilen mit und stellen dar” (14) und fungieren somit als Schnittstelle zum Menschen in ihrer Zeigequalität, ihrem kommunikativen Potenzial.

Thomas Kühn beschäftigt sich mit historischen Tasteninstrumenten, die verbindende Objekte in die Vergangenheit darstellen. Solche Musikinstrumente haben im musealen Kontext die Besonderheit, dass sie vorgeführt werden und auf diese Weise vergangene Epochen im Hören vergegenwärtigen. Dabei erfüllen sie in ihrer Materialität nicht nur eine handwerklich-ästhetische Zeugenfunktion, sondern fungieren auch als Kontaktreliquien in einer haptischen Erfahrung von Vergangenheit, zumindest für den Spieler. Kühn beschreibt diese Schnittstellen mit dem Begriff des Resonanzkörpers (als Verbindung von Klang und Materialität) und spricht im Anschluss an Gumbrecht von einer “Produktion der erneuten Präsenz“ (51).

Angelika Mader, Dennis Reidsma und Edwin Dertien konzeptualisieren Single Value Device in Form von Alltagsgegenständen als Schnittstellen zwischen Mensch und Internet. Ein Single Value Device bietet nur eine bestimmte Sorte von Information und ist dadurch charakterisiert, dass es “sich in unsere gewohnte Umgebung einfügt und unserer Wahrnehmung anpasst“ (67). Physisch, örtlich und zeitlich Abwesendes wird präsent gemacht, seien es nun Personen oder Dinge. Zu diskutieren ist das Design dieser Schnittstellen, um individueller Wahrnehmung und ästhetischen Wünschen zu entsprechen sowie (emotionale) Bedeutungszuschreibung durch den Nutzer zu ermöglichen.

An historischen Bildbeispielen zeigt Ralph Buchenhorst die Verwobenheit von Schnittstellen in Machtverhältnissen auf und beleuchtet das Verhältnis von Realität und Wahrnehmung (Auge bzw. Kamera). Dabei verknüpft er die Schnittstelle theoretisch mit den Begriffen Border thinking und human-mediales Netzwerk. Katharina Hoins untersucht Zeichnungen als Schnittstellen, die im Nachrichten- und Politikresort zum Einsatz kommen. Im Kontrast zu den als medial ‘durchsichtig’ inszenierten Fotografien stellen Zeichnungen einerseits offensiv ihre Subjektivität und Standpunkthaftigkeit aus. Andererseits gehen die Zeichner davon aus, dass Zeichnen die aufgezeichnete Situation im Gegensatz zur Präsenz einer Kamera nicht beeinflusst. Zeichnungen übernehmen Zeugenschaft für Begebenheiten, fungieren aber auch als Reliquien durch den Kontakt mit Personen. “Die Zeichnung bildet eine Schnittstelle, eine Grenzfläche, an der sich ein sonst als Black Box erscheinendes, unbekanntes System zeigt” (139).

Eine andere Form der Black Box beschreibt Urte Krass: In der Heiligenverehrung werden mittels Totenmasken als Reliquien-Schnittstellen Räume und Zeiten überwunden. Von diesen geschlossenen Systemen “ist nur die Oberfläche sichtbar, und daher ist auch nur darüber eine Kommunikation möglich” (157). Die Totenmasken, und ebenso Heiligenfotografien, dienen indexikalisch und ikonisch als Ersatz für die absente Person und ermöglichen Kontakt und Erinnerung. Janina Karolewski betrachtet Aufbewahrungsorte in der anatolischen alevitischen Tradition als Schnittstellen. Dazu gehören Texte, aber auch flüchtige Formate – das Wissen der Menschen als sprechender Koran, die Langhalslaute Saz als Koran mit Saiten sowie Alltagsgegenstände, die vorübergehend Funktionen im Ritual übernehmen. Die Aufbewahrungsorte erfüllen Aufgaben der Wissensvermittlung und Erinnerung.

Am Beispiel der Klangchiffre “Wir sind das Volk!“ der Montagsdemonstrationen von 1989 diskutiert Johannes Müske diesen deutschen Erinnerungsort (nach Nora) als akustische Schnittstelle. Im Sinne einer ethnografischen Sensory Anthropology bieten Klangarchivalien Zugang zu vergangenen Alltagswelten und zum Alltagswissen der Akteure. “Der klingende Erinnerungsort als Klangchiffre ist dabei die Schnittstelle, an der sich historisches Ereignis und Geschichtserzählung gleichermaßen festmachen lassen” (196). Im Fokus des Beitrags von Nils Zurawski stehen Karten als Verzeichnung des Unbekannten, das in einer Kartierung nicht aufgelöst, sondern nur nach außen verschoben wird. Eine Karte “ist eine Schnittstelle zwischen den Erfahrungshorizonten der Welt; sie stellt gleichzeitig eine Ordnung her und macht diese visuell erfahrbar” (225). So konstruiert sie je spezifische Raum- und Weltvorstellungen.

Tobias Scheidegger schließlich betrachtet naturkundliche Lokalverzeichnisse (Kataloge von Tier- und Pflanzengruppen in einem bestimmten Gebiet), die Schnittstellen bilden zwischen “Naturobjekten und papierner Verdinglichung, zwischen dynamischen Ordnungssystemen und gedruckter Auflistung sowie zwischen Forschern aus Vergangenheit und Gegenwart” (246). Gemäß Latour fungieren sie als Inskriptionen, als “zweidimensionale Einschreibungen“ (249) dreidimensionaler Dinge in Form von Listen, die stets erweitert werden müssen.

Wird ein Begriff in den Mittelpunkt eines Sammelbandes gestellt, besteht die Gefahr, dass die gedachte Klammer in heterogene Facetten auseinanderfällt. In diesem Fall gelingt es, ein reiches Spektrum an Perspektiven, Ansätzen und Fallbeispielen zu präsentieren, von der Informatik über die Kunstgeschichte bis hin zur Kulturanthropologie, und hierbei auch Anknüpfungspunkte aufzuzeigen: Dazu gehören etwa die Funktion der Vergegenwärtigung des Abwesenden (in den Beiträgen von Kühn, Hoins, Mader et al. und Scheidegger) oder die Schnittstelle als Kontaktreliquie (bei Tasteninstrumenten, Totenmasken und Gerichtszeichnungen) sowie das Konzept der Black Box (bei Buchenhorst, Hoins und Krass).

Positiv fällt zudem auf, dass die meisten Autorinnen ihre Version der Schnittstellen explizieren. In der Einleitung hätte man sich eine Diskussion gewünscht, worin die Herausforderungen und Grenzen einer kulturwissenschaftlichen Adaptation des Schnittstellenbegriffs liegen und welche Erkenntnisse aus der Konfrontation der unterschiedlichen Sichtweisen bei der Tagung gewonnen wurden. Im Inhaltsverzeichnis wäre es schön gewesen, die vier Bereiche, in denen die Beiträge gegliedert wurden, sichtbar zu machen.

Insgesamt ein vielfältiger und spannender Band.

Links:

Über das BuchKatharina Hoins, Thomas Kühn, Johannes Müske (Hrsg.): Schnittstellen. Die Gegenwart des Abwesenden. Schriftenreihe der Isa Lohmann-Siems Stiftung, Band 7. Berlin [Reimers] 2014, 267 Seiten, 29,90 Euro.Empfohlene ZitierweiseKatharina Hoins, Thomas Kühn, Johannes Müske (Hrsg.): Schnittstellen. von Ullrich, Anna Valentine in rezensionen:kommunikation:medien, 26. August 2014, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/16863
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