Tristan Thielmann, Erhard Schüttpelz (Hrsg.): Akteur-Medien-Theorie

Einzelrezension
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Rezensiert von Johanne Mohs

Thielmann_Akteur-Medien-TheorieEinzelrezension
Der von Erhard Schüttpelz und Tristan Thielmann herausgegebene Sammelband Akteur-Medien-Theorie widmet sich den medientheoretischen Implikationen der maßgeblich von Bruno Latour entwickelten Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). Ausgehend von der Annahme, dass “[e]in gewisser Teil der ANT […] immer schon Medientheorie gewesen” (18) ist, stellt der umfangreiche Band klassische Texte der ANT von Bruno Latour und Antoine Hennion sowie aktuelle sozialwissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Untersuchungen nebeneinander, die den impliziten Medienbegriff der ANT veranschaulichen sollen. Die Herausgeber nehmen sich mit ihrem Vorhaben einer medientheoretischen Konjunktur an, die oft als die “auffälligste” (14) oder “interessanteste” (Engell/Siegert 2013: 5) Entwicklung der kulturwissenschaftlichen Medienforschung aus den letzten Jahren oder auch als ihre “überaus vielversprechende Neuformulierung” (Seier 2009: 132) bezeichnet wurde.

Wie der Band zeigt, hält die Akteur-Netzwerk-Theorie tatsächlich einige Lösungsansätze für das Problem bereit, wie personale und mediale Wechselwirkungen ohne ein Apriori auskommen können. Denn Medien werden in der ANT genau wie andere nicht-menschliche Akteure mit menschlichen Akteuren auf eine Stufe gestellt. Was zählt, sind nicht ihre Repräsentationsmöglichkeiten, sondern die Handlungsketten, die sie im Verbund mit anderen Akteuren auslösen oder in die sie involviert sein können. Auf diese Weise verkehrt die von Schüttpelz, Thielmann und den anderen Autoren des Sammelbandes lancierte Akteur-Medien-Theorie (AMT) die der ANT oft vorgehaltene “Undeterminiertheit der Medien” (Engell/Siebert 2013: 7; vgl. auch Seier 2009: 132) in ein positives Konzept: Wie Erhard Schüttpelz betont, könne es nicht darum gehen, die Betrachtung von Medien je nach Disziplin dogmatisch zu reduzieren, sondern sie in ihrer “ganzen Heterogenität [zu] akzeptieren und methodisch [zu] wenden” (58).

Dass dieses “›Bäumchen-Wechsel-Dich‹ der Betrachtung von Medien” (ebd.) zu einer Zusammenstellung von Artikeln aus den verschiedensten Untersuchungsbereichen geführt hat, ist insofern nur konsequent: Ob Analysen von Handlungsabläufen in Werbeagenturen, in religiösen Ritualen oder bei Bergsteigern, immer geht es darum, das Zusammenspiel der menschlichen und nicht-menschlichen Akteure zu erschließen. Auf diese Weise wird die medienwissenschaftliche “Maxime der Generativität” (Krämer 2009: 20) in der AMT nicht mehr davon beherrscht, was Medien selbstständig hervorbringen, sondern wie sie andere Akteure in Handlung versetzen. Anstatt den “›guten Ton der Mediendebatte‹” (ebd.) zu wahren und die mediale ‘agency’ in ein unzugängliches Eigenleben der Medien abzurücken, wird sie anhand konkreter Operationsketten nachvollzogen und auf ein Netzwerk von Akteuren verteilt.

Nichtsdestotrotz konnten manche im Vornherein formulierten Versprechen zum “enorme[n] Potential der Actor-Network-Theory für die Medienwissenschaft” mit dem Sammelband nicht erfüllt werden. So findet etwa der von Andrea Seier gemachte Vorschlag, mit der AMT an den kulturwissenschaftlichen Begriff der “Remediation” sowie an Michel Foucaults Dispositivbegriff anzuschließen, keinerlei Resonanz (vgl. Seier 2009: 135). Zudem, und das ist besonders bedauerlich, bezieht Akteur-Medien-Theorie auch kaum bereits etablierte medientheoretische Modelle mit ein, die sich stärker auf den Prozess und den medialen Vollzug beziehen (vgl. etwa Jäger/Fehrmann/Adam 2012). Hier vermisst man die Arbeiten von Dieter Mersch (vgl. etwa Mersch 2006, Mersch 2007), aber auch die von Sybille Krämer (vgl. etwa Krämer 2004, Krämer 2008), die in der gesamten Veröffentlichung nur in einem bzw. zwei Beiträgen erwähnt werden.1  Dieses im vorliegenden Band nicht aufgenommene Potential der AMT wurde auch von Lorenz Engell und Bernhard Siegert angeführt, die im ‘faire faire’ der ANT eine “soziologisch verträgliche Variante einer an Foucault oder Heidegger orientierten Medientheorie erkennen, für die Medien das sind, was etwas anwesend sein lässt, ohne selbst in Erscheinung zu treten.” (Engell/Siegert 2013: 10).

Die von der AMT angestrebte Analyse der Verschränkung von materiellen, medialen und personalen Größen hält nicht zuletzt viele Überschneidungen mit aktuellen Performativitätstheorien bereit, die ebenfalls nicht aufgegriffen wurden (vgl. etwa Fischer-Lichte 2012, Hempfer/Volbers 2011). Nicht nur das Interesse an der wirklichkeitskonstituierenden und autoreferentiellen Dimension von Handlungen und die Devise “Follow the actors!” sind ein gemeinsamer Nenner der beiden Theorien, auch die Unvorhersehbarkeit und die transformative Kraft von Handlungsabläufen und performativen Prozessen wird in beiden Ansätzen fokussiert (vgl. etwa 26, 30). Zwar rechnet Erika Fischer-Lichte Texte, Bilder und Dinge nicht zu den per se performativen Erscheinungen, aber deren handlungsstiftende Wirkung könnte mithilfe der AMT in einem größeren Kontext von Handlungsgefügen situiert werden.

Anstatt die genannten Theorien und Aspekte mit einzubeziehen, verortet sich die AMT – genau wie ihre Bezugstheorie – sehr stark in der Wissenschafts- und Techniksoziologie. Das selbst genannte Anliegen, mit der AMT die “Rolle des Dazwischens” (377) von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren bzw. von Sozialem und Technischen hervorzuheben und die “medientheoretische Attraktivität” (616) des Vermittlungsgedankens der ANT fruchtbar zu machen, wird sehr einleuchtend verfolgt (vgl. auch 380, 576). In nahezu allen Beiträgen wird deutlich, dass es den Autoren wichtig ist, das “ethnomethodologische Programm” (416) der ANT mit der AMT weiterzuverfolgen, sozio-technische Prozesse erkennbar zu machen und jegliche Subjekt-Objekt-Dichotomie kollabieren zu lassen (vgl. 679).

Diesen Ansatz macht bereits der als Prolog des Bandes bezeichnete Artikel von Antoine Hennion und Bruno Latour deutlich. In einer kritischen Revision des bekannten Kunstwerk-Aufsatzes von Walter Benjamin halten sie dem Autor vor, er habe sich die Handlungsinitiative der Technik bzw. ihre “Eigenaktivität” (76) nicht eingestanden. Ein ähnliches Tabu deckt Hennion im darauffolgenden Artikel in der Soziologie Durkheims auf, der sich im Umgang mit Objekten ähnlich wie Benjamin im Umgang mit Technik in eine überlegen distanzierte Dechiffrierungshaltung begibt (vgl. 84). Er kommt zu dem Schluss, dass die Problematik der Vermittlung in Objekt-Subjekt-Relationen nur die eine Lösung zulasse, und zwar sie als eine Operation zu verstehen, die “die Welt wieder mit gemischten Widerständigkeiten füllt” (101). In einem weiteren, zusammen mit Cécile Méadel verfassten Aufsatz, löst er die kritische Trennung von Subjekten und Objekten gänzlich auf: “wir [sind] selbst nur die Summe der Objekte […], durch die hindurch wir uns definiert haben“ (376).

Die Leitfunktion der Thesen und Ergebnisse von Latour und Hennion spiegelt sich im gesamten Sammelband sowohl inhaltlich als auch strukturell wieder. Nur einer der 17 neuen Artikel kommt ohne einen Verweis auf einen der beiden Autoren aus dem Centre de Sociologie de l’innovation der École Nationale Supérieures des Mines in Paris aus – bei den anderen 16 Beiträgen schwankt die Zahl der zitierten Arbeiten von Latour und Hennion zwischen zwei und 22. Das ist die natürliche Folge der Fundierung der AMT in der ANT, hat aber auch den Nachteil, dass manche Grundideen, wie z. B. die der ‘immutables mobiles’ oder die der ‘zirkulierenden Referenz’, recht häufig wiederholt werden und manche Beiträge (dadurch) allzu lang geraten sind. Strukturell wird die Leitfunktion der ANT daran erkennbar, dass – mit Ausnahme des zweiten – jedes der fünf Unterkapitel des Bandes mit den Titeln Kontroversen, Erfindungen, Vermittler, Artefakte und Inskriptionen mindestens einen Aufsatz von Latour und/oder Hennion enthält. Im Gegensatz zu den restlichen Beiträgen sind die Aufsätze von Latour und Hennion erstmals ins Deutsche übersetzte Wiederabdrucke von Texten aus dem Zeitraum von 1988-2011.

Die mit den Übersetzungen und der zentralen Positionierung einhergehende Wertschätzung der ANT von der AMT hätte allein durch kurze Einführungen in die Quellentexte noch abgerundet werden können. Überhaupt vermisst man eine gewisse Führung durch den Band bereits in der Einleitung von Erhard Schüttpelz. Hier wird es vermieden, das Konzept oder die Gliederung der Anthologie explizit zu erläutern. Ebenso wenig wird auf den unterschiedlichen Status der Texte von Latour und Hennion sowie den anderen Beiträgern eingegangen. Die Aufgabe, eine ‘Gebrauchsanweisung’ für den Sammelband zu liefern, wird mit zwei, in den ersten beiden Sätzen formulierten Fragen als erledigt betrachtet (vgl. 9). Das ist gewiss legitim, nur scheinen sie für den Anspruch von Schüttpelz und Thielmann, mit ihrem Sammelband ein Handbuch der AMT vorgelegt zu haben, etwas überstrapaziert.2 Die von ihnen herausgegebene Anthologie ist keine Anleitung für eine Akteur-Medien-Theorie, aber ein sehr instruktives Konvolut von medientheoretischen Anregungen aus der Akteur-Netzwerk-Theorie.

Literatur:

  • Engell, L.; B. Siegert (Hrsg.): Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung. Heft 2/2013. Schwerpunkt ANT und die Medien. Hamburg [Felix Meiner] 2013.
  • Fischer-Lichte, E.: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld [transcript] 2012.
  • Hempfer, K.; J. Völbers (Hrsg.): Theorien des Performativen. Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme. Bielefeld [transcript] 2012.
  • Jäger, L; G. Fehrmann; M. Adam (Hrsg.): Medienbewegungen. Praktiken der Bezugnahme. München [Wilhelm Fink] 2012.
  • Krämer, S.: Kann eine performativ orientierte Medientheorie den ›Mediengenerativismus‹ vermeiden? In: Lischka, G.; P. Weibel (Hrsg.): Act! Handlungsformen in Kunst und Politik. Bern [Beneteli] 2004, S. 66-83.
  • Krämer, S.: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt/M. [Suhrkamp] 2008.
  • Mersch, D.: Medientheorien zur Einführung. Hamburg [Junius] 2006.
  • Mersch, D.: Absentia in praesentia. Negative Medialität. In: Kiening, C. (Hrsg.): Mediale Gegenwärtigkeit. Zürich [Chronos] 2007, S. 81-95.
  • Seier, A.: Kollektive, Agenturen, Unmengen: Medienwissenschaftliche Anschlüsse an die Actor-Network-Theory. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft, 1, 2009, S. 132-135.

Links:

  1. Für Mersch siehe den Artikel von Christian Kassung (vgl. 572), und für Krämer siehe die Artikel von Christian Kassung und Thomas Hensel (vgl. 564, 572, 669, 673).
  2. Das äußern die beiden Herausgeber in einem Interview auf der Internetseite des Verlags.
Über das BuchTristan Thielmann, Erhard Schüttpelz (Hrsg.): Akteur-Medien-Theorie. Bielefeld [transcript] 2013, 770 Seiten, 39,80 Euro.Empfohlene ZitierweiseTristan Thielmann, Erhard Schüttpelz (Hrsg.): Akteur-Medien-Theorie. von Mohs, Johanne in rezensionen:kommunikation:medien, 28. März 2014, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/16204
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Ein Kommentar auf “Tristan Thielmann, Erhard Schüttpelz (Hrsg.): Akteur-Medien-Theorie
  1. Akteur Netzwerk sagt:

    Insgesamt eine sehr seltsam wirkende Rezension: Die Autorin findet nicht, wonach sie sucht, befindet das dann für schlecht, und krittelt daran herum, dass theoretische Einsätze in den Beiträgen wiederkehren (bei jedem anderen Sammelband wäre man glücklich darüber).

    Ist ihr unbekannt, dass längst ein einführendes Handbuch in die Akteur-Netzwerk-Theorie vorliegt, just im selben Verlag 2006 verdienstvoll von Andréa Belliger und David J. Krieger herausgegeben?

    Hier sind offenbar Leseerwartung und Buchkonzept zu stark voneinander entfernt gewesen (was zumindest kurz in der Einschätzung Richtung Wissenschafts- und Techniksoziologie erahnbar wird), als dass sich ein spannender Hybrid von Rezension und Buch hätte bilden können. Schade, denn ein Weiterdenken wäre gerade angesichts der Einleitung in den Band eigentlich viel zukunftsträchtiger.