Rezensiert von Matthias Berg
Mit Kompetenzentwicklung im Internet präsentiert Anja Johanning die Ergebnisse ihres Dissertationsprojektes, in dem sie sich mit organisationsübergreifenden Online-Communities of Practice auseinandergesetzt hat. Diese werden definiert als “informelle, berufsbezogene Personengruppen, die ein gemeinsames Anliegen in Form von ähnlichen Problemstellungen oder einer gemeinsamen Leidenschaft für spezifische Themen aus dem Arbeitsalltag teilen” und sich darüber im Internet austauschen (83). Ziel der Studie ist die Klärung der übergeordneten Forschungsfrage nach der Rolle, die eben jene internetbasierten Praxisgemeinschaften bei der Entwicklung individueller Kompetenzen ihrer Mitglieder einnehmen. Dieser Zielsetzung geht Johanning mittels einer im Mehrmethodendesign angelegten Fallstudie zu sekretaria.de, einem Internetforum (überwiegend) für Sekretärinnen, nach. Dabei nimmt sie eine kommunikationswissenschaftliche Perspektive ein, die sie um Ansätze aus den Bereichen der Tätigkeitspsychologie und (Berufs-)Pädagogik erweitert.Nach einer einleitenden Hinführung zum Thema vertieft die Autorin im zweiten Teil der Arbeit die grundlegenden Konzepte Kompetenz, bzw. der Entwicklung selbiger in Lernprozessen, und Community of Practice sowie deren (kommunikative) Eigenschaften in ihrer Erscheinungsform als Online-Vergemeinschaftung. So sind unter Kompetenzen “Selbstorganisationsdispositionen” zu fassen (26), deren personale, methodisch-fachliche und sozial-kommunikative Ausprägungen bezogen auf individuelle Handlungskontexte betrachtet werden sollen (vgl. 44f.).
Den Kern der Publikation bildet die Darstellung der empirischen Arbeit. Ausgiebig legt Johanning dabei ihr Untersuchungsdesign und das methodische Vorgehen dar, angefangen bei einer strukturierten Erhebung von 59 organisationsübergreifenden Online-Communities of Practice (vgl. Kapitel 12), aus denen sich sekretaria.de auf nachvollziehbare Art und Weise als “idealtypisches” Fallbeispiel (164) herauskristallisiert – unter anderem wegen der Berufsgruppenspezifik und des dort aktiv stattfindenden Austauschs mittels asynchroner Forums-Kommunikation. Im nächsten Schritt erschließt Johanning den groben Rahmen der Angebotsstruktur von sekretaria.de, bevor sie sich einer Auswahl von Forums-Threads quantitativ inhaltsanalytisch widmet. Das zentrale Moment bilden aber 13 problemzentrierte und leitfadengestützte Telefoninterviews mit Nutzerinnen der Plattform, die vor allem Gründe für die Zuwendung sowie Aspekte längerfristiger Effekte auf die individuelle Kompetenzentwicklung der Befragten thematisieren.
Als Gründe für die Zuwendung zu sekretaria.de werden unter anderem die Suche nach Unterstützung bei nicht selbstständig lösbaren Problemen im Arbeitsalltag, aber auch private Anliegen herausgearbeitet (vgl. 212ff.), solange die Thematiken als nicht zu vertraulich empfunden werden (vgl. 216ff.). Abschließend stellt Johanning heraus, dass sekretaria.de als Online-Community of Practice von den Nutzerinnen vor allem für die Entwicklung von personalen (z. B. mit Unsicherheiten umgehen, berufliche Reflexion, Selbstbestätigung) und fachlich-methodischen (z. B. optimiertes Fachwissen, Situationsbeurteilung, Aktualität) Kompetenzen und wegen der Möglichkeit individuellen Kompetenzmanagements geschätzt wird (vgl. 255ff.). Leider vergisst die Autorin über die sehr detaillierte, aber auch recht fragmentarisch anmutende Darstellung ihrer Ergebnisse, die in ein uses & gratification-orientiertes Kommunikationsprozessmodell münden (vgl. 270), die Gewichtung selbiger. Eine reflektierende Abschlussdiskussion mit Rückbezug auf den sorgfältig konstruierten Theorieteil bleibt sie dem Leser schuldig.
Insgesamt besteht der Hauptverdienst der vorliegenden Publikation einerseits in der Aufbereitung eines pädagogisch fundierten Kompetenzkonzeptes – das nicht einfach bei einer verkürzten Medienkompetenz-Diskussion stehen bleibt – und andererseits in dessen kommunikationswissenschaftlicher Operationalisierung im Rahmen einer soliden Empiriearbeit, auch wenn sich hierbei einige Unsauberkeiten ergeben. So stellt sich die Frage nach der Tragfähigkeit einer strikten Unterteilung von Nutzungssituationen in “Instrumentelle” und “Ritualisierte Zuwendung” (212f. und passim; vgl. hierzu Schweiger 2007: 108) oder des Bezugs auf die Zahl von über 20.000 Mitgliedern (i. e. registrierte User), für die die Community etwas pauschal “ein integraler Bestandteil des privaten und beruflichen Alltags” sei (192). Abschließend bilanziert Johanning aber korrekt den kommunikativen Wandel im Rahmen der Web 2.0-Diskussion, wobei sie mit ihrer Untersuchung durchaus zeigen kann, dass das Web auch vor O’Reilly schon ‘social’ war (vgl. hierzu auch Schmidt 2009).
Literatur:
- Schmidt, J.: Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0. Konstanz [UVK] 2009.
- Schweiger, W.: Theorien der Mediennutzung. Eine Einführung. Wiesbaden [VS] 2007.
Links:
- Verlagsinformationen zum Buch
- Webpräsenz von Anja Johanning an der Fernuniversität Hagen
- Webpräsenz von Matthias Berg an der Universität Bremen