Jürgen Trabant: Die Sprache

Einzelrezension
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Rezensiert von Stefan Schaden

Einzelrezension
Sprachwissenschaftliche Texte können bei linguistisch unvorbelasteten Lesern bisweilen den Eindruck erwecken, es handle sich bei dem von der Sprachwissenschaft beschriebenen Gegenstand um eine gänzlich andere Sprache als diejenige, die uns täglich umgibt. Denn nicht selten stehen grammatische Formalismen im Mittelpunkt des linguistischen Interesses, während die vielfältigen Funktionen, die der Sprache im alltäglichen kommunikativen Miteinander zufallen, nur am Rande erwähnt werden – und dies, obwohl doch gerade hierin die Eigenschaften liegen, die uns aus unserem eigenen Umgang mit Sprache am vertrautesten erscheinen.

Seit Noam Chomsky in den 1950er Jahren die menschliche Sprache erstmals in aller theoretischen und methodischen Konsequenz als ein kognitives System formaler Operationen zur Bildung komplexer Satzkonstruktionen beschrieb und sich dieser Ansatz in den folgenden Jahrzehnten als Leitidee durchsetzte, hat sich in der Sprachwissenschaft eine allmähliche Verengung des Untersuchungsgegenstands vollzogen.

Dieser Sichtweise zufolge bildet ein ‘kognitives Modul’ (verstanden als technisches Bauteil des menschlichen Geistes), das auf formal-grammatische Strukturen spezialisiert ist — und das Wissenschaftler wie Ray Jackendoff oder Steven Pinker zudem für angeboren halten — den eigentlichen Kern menschlicher Sprache, während ihre mannigfaltigen sozialen, kommunikativen und semiotischen Funktionen lediglich als ‘Peripherie’ betrachtet werden. Folgerichtig werden diese Funktionen in vielen Einführungstexten nur in nachgeordneten Kapiteln behandelt, die bezeichnenderweise oft Titel wie “Sprache im sozialen Kontext” oder “Sprache im Gebrauch” tragen, mit denen impliziert wird, dass Sprache auch ohne einen solchen Kontext existiert und sie zeitweilig auch ganz außer Dienst gestellt werden kann, um sie dann in einem Vakuum wissenschaftlich zu untersuchen.

Jürgen Trabant stellt dieser Position in seinem kleinen Buch Die Sprache eine andere Sichtweise gegenüber. Zwar vertritt auch er die Auffassung, dass es sich bei der Sprache um eine spezifisch menschliche Errungenschaft handelt, die sich grundlegend von allen im Tierreich anzutreffenden Signalsystemen unterscheidet und die, wie Trabant immer wieder betont, in einem unauflösbaren Zusammenhang zum menschlichen Denken steht. Mit dieser Ansicht steht er prinzipiell noch im Einklang mit der oben skizzierten Position. Jedoch sind es andere Gründe, die ihn zu dieser Einschätzung führen. So wird etwa die Frage, welche Eigenschaften die menschliche Sprache so einzigartig machen, von Trabant nicht mit dem gängigen – und oftmals schon als erschöpfend erachteten – Hinweis auf ihre komplexe Syntax beantwortet, die es uns beispielsweise ermöglicht, Sätze wie Ich glaube, dass ich den Mann, der das Kind, dessen Mutter der Frau, die ein blaues Kleid trug, das Buch gab, schlug, wiedererkannt habe zu bilden, Sätze also, die zumindest in linguistischen Lehrbüchern als ‘wohlgeformt’ gelten.

Ohne die Fähigkeit zur Herstellung solcher syntaktischer Irrgärten grundsätzlich in Frage zu stellen, weist Trabant jedoch darauf hin, dass ein mindestens ebenso wichtiges Alleinstellungsmerkmal menschlicher Sprache auf einer ganz anderen, nämlich auf einer semiotischen Ebene liege: Unter Verweis auf Karl Bühler und dessen Begriff der Darstellungsfunktion der Sprache legt er dar, dass die Einzigartigkeit der Sprache in der Verfügbarkeit von Symbolen liege, die uns in die Lage versetzen, auch zeitlich und räumlich Abwesendes jederzeit und überall sprachlich fassbar und verfügbar zu machen (23-26).

Auch für die aktuelle Debatte über die evolutionäre Rolle und Genese der Sprache ergeben sich daraus interessante Ansätze. Denn, so Trabant, gerade in der Möglichkeit der sprachlichen Darstellung und der damit verbundenen Loslösung von der unmittelbar gegebenen Situation könne ein adaptiver Vorteil gelegen haben: Die sprachliche Objektivierung des Denkens und die dadurch geschaffene Möglichkeit des Sich-Hineindenkens in andere Personen eröffneten eine erheblich erweiterte Dimension des kooperativen Handelns, die ihrerseits zum “evolutionären Erfolg des Menschen” beigetragen habe (31). Dabei nimmt Trabant jedoch ausdrücklich keine biologistische Position ein, sondern betont, dass es sich bei der Sprache – sieht man von den biologischen Grundlagen der reinen Sprachfähigkeit ab – um etwas “durch und durch vom Menschen Gemachtes” handle (76).

Es ist wohl nicht zuletzt diese Überzeugung, die den Autor gegen Versuche immun macht, Sprachwissenschaft in der Nähe der sogenannten ‘exakten Wissenschaften’ verorten zu wollen. Wenn beispielsweise Sprache, wie Trabant formuliert, ein Mittel zum Teilen von “Denk-Welten” (31) ist, so könnte man die Frage stellen, ob die verfügbaren sprachlichen Mittel nicht generell zu unpräzise sind, um der Verschiedenheit individueller Denk-Welten gerecht zu werden. Könnte nicht beispielsweise unsere Alltagssprache ‘verbessert’ werden, indem man den Grad ihrer Präzision erhöht und sich dabei an der (vermeintlichen) Eindeutigkeit der Sprache der Wissenschaft orientiert? Viele alltägliche Missverständnisse, deren Ursache in der semantischen Vagheit der Sprache zu liegen scheint, ließen sich auf diese Weise ausschalten.

Dieser auf den ersten Blick verlockenden (und wissenschaftsgeschichtlich nicht neuen) Idee hält Trabant aber entgegen, dass dies keinesfalls eine bessere Verständigung oder gar präziseres Denken, sondern in vielen Fällen schlichtweg ein Scheitern der Kommunikation zur Folge hätte, denn: “Die Konversation funktioniert gerade deswegen, weil die in ihr verwendeten Bedeutungen vage und unpräzise sind. Nichts zerstört das Funktionieren einer alltäglichen Konversation so sehr wie der Versuch, dort wissenschaftliche Präzision einzuführen” (63). In Aussagen wie dieser zeigt sich, dass der Autor die vielfältigen möglichen Verwendungszusammenhänge von Sprache zu keiner Zeit aus dem Auge verliert, sondern auch in vermeintlichen Unvollkommenheiten ein bestimmendes Merkmal von Sprache sieht, das sich bei genauerer Betrachtung keineswegs als Defizit, sondern gerade als Voraussetzung für ihr Funktionieren erweist.

Trotz seiner Kürze deckt das Buch durchaus ein Themenspektrum ab, das man von einer allgemeinen Einführung in die Sprachwissenschaft erwarten würde. So werden wichtige Konzepte wie die Arbitrarität des Zeichens (de Saussure), das Organonmodell der Sprache (Bühler), die doppelte Gliederung der Sprache (Martinet, Hockett), Sprechakte (Austin, Searle) sowie Teildisziplinen wie Konversationsanalyse, Dialektologie, Universalienforschung und viele mehr in gut verständlicher Weise eingeführt. Dabei verzichtet Trabant aber weitgehend darauf, bedeutende Namen und einflussreiche Denkschulen ausdrücklich zu nennen (eine Ausnahme von dieser Tendenz bildet der wiederholte Rekurs auf die Arbeiten Wilhelm von Humboldts) oder wissenschaftshistorisch einzuordnen. Diese fehlende Personalisierung erfolgt aber letztlich zugunsten der Klarheit der Darstellung, denn im Gegenzug gelingt es dem Autor, wichtige Kerngedanken in kompakter Form sach­orientiert herauszuarbeiten und in einen nachvollziehbaren Zusammenhang zu stellen.

Dass all dies in einem angenehm lesbaren, über weite Strecken ‘erzählenden’ Stil und ohne die akademische Sperrigkeit präsentiert wird, die gerade in deutschsprachigen wissenschaftlichen Texten oft anzutreffen ist, spricht ebenfalls für das Buch.

Links:

Über das BuchJürgen Trabant: Die Sprache. München [C.H. Beck] 2009, 128 Seiten, 8,95 Euro.Empfohlene ZitierweiseJürgen Trabant: Die Sprache. von Schaden, Stefan in rezensionen:kommunikation:medien, 23. August 2012, abrufbar unter https://www.rkm-journal.de/archives/9765
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